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Kein Mensch war heute oben auf der Akropolis. Selbst die Händler am Eingang, die Fremdenführer und Wächter hatten sich vor dem rastlos niederströmenden Landregen geborgen. Ein träges, trübes Grau brütete in den Schatten und verdüsterte als Vorlaufer der Nacht die heilige Stätte der Schönheit.
Den weißen Kirchhof der Schönheit! Wie Leichensteine starrten auf dem weiten Trümmerfeld die zerschmetterten, vor Nässe glitzernden Marmorbrocken – wie auf einem verwahrlosten Gottesacker sproßten dazwischen tauperlendes Gras und Gebüsch, und aus den geborstenen Giebeln und Säulenreihen, den gebrochenen Toren und eingestürzten Tempeln hallte es im Raunen des feuchten Seewinds wieder und wieder: Es war einmal!
Es war einmal ein Land, wo jeder Herzschlag zur Kunst, jedes Wort zur Weisheit und die letzte Weisheit zum Lachen ward – ein Land, wo die Schönheit mit der Sonne über den tiefblauen Himmel wandelte, vom Morgen bis zum Abend die weite Welt mit ihren Strahlen segnend – wo oben von schneeigen Gipfeln übermenschliche, blauäugige, goldmähnige Männer und Frauen grüßten und winkten: Ihr schuft uns Götter euch zum Bilde! Steigt empor und seid wie wir – Götter auf Erden, heiter und rasend, erhaben und gemein, tapfer und feige, unergründlich wie das tiefe Meer und unstet bewegt wie der spritzende Meeresschaum, lachend schaffend und lachend zerstörend, was ihr schuft, halb Kinder, halb Teufel, die ganze Menschenweite in eurer Brust umspannend, wie euer Land, die Wiege der Welt, in seinem ewigen Schnee und seiner ewigen See, in seinen grünenden Matten und geheimnisvollen Wassern und aus dem Inneren steigenden Feuerdämpfen den ganzen Erdkreis wiederspiegelt.
Es war einmal! Zwischen den weißen Leichensteinen liegen die Bombensplitter der Türken und Venetianer, durch den rauschenden Regen klagen die Christenglocken, und in der fernen großen Themsestadt voll Nebeldunst und Fabrikqualm, voll Wagengerassel und Eisenbahngekeuche stehen hölzerne Menschen in langschlotternden Hosen, schwarze Röhren auf dem Kopf, gähnend im Britisch-Museum vor den Überbleibseln der Wunder, die einst Pheidias und die Seinen hier oben in fiebernder Götterkraft schufen.
Es war einmal! Immer wieder läuten die sanften Glocken und ziehen die Regentropfen ihre Ringe in den Kotpfützen des Bodens. Bäche schmutzigen Wassers rauschen durch die Heiligtümer, in die von oben statt des kinderaugentiefen Blaus ein grämlicher nordischer Polizeihimmel hineinspäht, sie umspülen die Sockel der Karyatiden, als sollten selbst die fünf ewigen Mädchen, die letzten aus den marmornen Jubelreigen von einst, die seit Jahrtausenden fröhlich ihre Last getragen, nun auch zu Boden stürzend, in Schlamm und Moder enden – es war einmal.
Still! Die Steine sprechen! Durch Regen und Wind predigt die geborstene Marmorpracht das einzige, was unvergänglich auf Erden ist: den Tod. Die Götter sind gestorben! Hier unter diesen verwitternden weißen Blöcken schläft die zärtliche, leichtsinnige Frau Aphrodite den ewigen Schlaf – hier ruht Zeus, der Donnerer, mit seinem schönen, törichten Gemahl und seinem liederlich genialen Hofstaat – hier sie selbst, die Schirmherrin all der Pracht, das keusche Jungfrauengesicht von Geist und Kühnheit des Mannes verklärt – die liebliche Burgfrau Pallas Athene. Sie grüßt nicht mehr wie einst mit ragender Lanze, die geflügelte Siegesgöttin auf der flachen Linken hoch von der heiligen Akropolis her den heimwärts steuernden Hellenen, sie ist begraben, ihr Tempel liegt in Trümmern.
Die Götter sind gestorben, weil sie nicht mehr an sich glaubten. Andere Götter kommen und gehen. Der Mensch schafft sie sich zum Bilde. Mit den kränkelnden Menschen kränkeln auch sie, werden blaß und durchsichtig und schwinden, wie unten die Völker schwinden. Und über Himmel und Erde schwebt das ewig Lebende auf der Welt – der ewige Tod....
Wie kamen ihr nur heute gerade diese Gedanken – dies Gefühl von Altern, von Müdewerden und Welken? Ellinor blieb erschöpft, schwer Atem holend, auf der steilen Treppe der Akropolis, im Trümmergewirr der Propyläen stehen. Es war wohl die Nachwirkung des schweren Fieberanfalls, der sie drüben in Olympia heimtückisch, wie ein Raubtier aus dem Busch, überrascht und immer noch lähmend auf ihr lastete. Da wird man mutlos, weil man kraftlos ist.
Aber es war noch etwas anderes da – etwas rein Seelisches. Dies bange, trübe Erstaunen: Ist das Griechenland? Die moderne, lärmende Mittelstadt da unten, dies neue Athen mit seinen Hotels und Ministerien, seinen Zeitungsverkäufern und flirtenden Elegants gewiß nicht! Das wußte sie ja. Das hatte sie sich nicht anders vorgestellt, als eine jener Balkankarikaturen eines europäischen Staatswesens.
Aber auch hier oben! Wo blieb die heilige Stimmung, dieses Sichweiten in Herz und Hirn, mit der der Pilger zum erstenmal über die Schwelle der Akropolis tritt? Wo der Hauch unzerstörbarer Jugendkraft, der aus dem zerschellten Marmor siegreich strömt? Wohl erkannte sie ringsum die altvertrauten Umrisse – hier neben den geborstenen Propyläen das keck wie ein Schwalbennest über dem Felsen hängende Tempelchen der Nike, dort drüben, undeutlich im Regen über Leichenfelder weißer Marmortafeln herüberwinkend, das Kleinod der Kunst, das ehrwürdige Erechtheion, und gegenüber, immer noch unter wuchtigem Säulenwald seine Stirnwölbung in unvergänglicher Schönheit zum Himmel hebend, der Tempel aller Tempel – das Parthenon der Pallas Athene – aber keine Stimme sprach aus dem stillen Stein. Ein leises Regenrieseln nur umher, ein flüchtiges Windesraunen: Es war einmal!
Landregen und Fieber – sie fröstelte trotz der Sommerschwüle. Es war ihr, als sei das Hellas, das sie und Meister Josephus suchten, wieder in eine unerreichbare Ferne, weit über Meer und Länder, gerückt – für immer. Das, was der Künstler sucht und nie findet – seine Sehnsucht heißt Griechenland und ist überall, wo er nicht ist....
Und wie sie an den Meister dachte, sah sie ihn plötzlich – den einzigen Menschen auf der Akropolis! Er saß auf einem Marmorblock inmitten des weiten Trümmerfeldes, unbekümmert um den Regen, der aus seinem blonden Vollbart niedertropfte und sein großkariertes Lordgewand durchnäßte.
Er stand erzürnt auf. »Was heißt denn das, Ellinor? Du sollst doch nicht ausgehen, hat der Arzt...«
»Ach – der Arzt! Ich halt' es im Hotel und dem ewigen Regengeplätscher an dem Fenster nicht aus. Das Fieber ist ja auch weg. Ich bin nur noch schwach ... müde...«
Er musterte sie mit einem fremdartigen, beinahe scheuen Blick. Sie wußte nicht recht, was der bedeutete.
»Wenn man noch so elend ausschaut, wie du ...« sagte er endlich langsam, »dann sollte man...«
»Ich bleib' aber nicht zu Hause!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich bin nun einmal hier, und wie ich ausschau', ist ganz gleich....«
Wieder dieser unbestimmte, abwehrende Seitenblick, als ob ihn etwas an ihr erstaune, und wieder in ihr die grundlose quälende Angst. »Was hast du denn?« fragte sie mit gepreßter Stimme.
Er schüttelte das blonde Löwenhaupt. »Nichts! du siehst nur so blaß aus. So ganz anders wie sonst! ... So ... ich meine, all das Frische, Heitere ist weg. Weißt du denn überhaupt, wie krank du warst?«
»Ach ... ein bißchen Fieber...«
»Ich danke für das bißchen! Wir haben dich ja beinahe bewußtlos nach Athen gebracht – die Lotte und ich! Oder eigentlich die Lotte allein. Ein Segen, daß die törichte Jungfrau auch einmal zu etwas zu brauchen war. Wie eine kleine barmherzige Schwester hat sie dich gepflegt!«
»Bewußtlos war ich eigentlich nicht! Ich erinnere mich an alles wie an einen Traum,« sagte Ellinor. »Der Hafen von Patras mit den vielen Masten und dem Geschrei vor dem Fenster und dann eine lange Fahrt in einem Salonwagen und zur Seite immer so etwas Blaues ... Glitzerndes ... das Meer ... und dann in der Ferne der einzelne hohe Felsen mit grauem Tempelgemäuer darauf ... und die Lotte warf noch eine Orangenschale aus dem Fenster und erklärte, die Akropolis habe sie sich auch großartiger vorgestellt ... und überhaupt Griechenland....«
»Und überhaupt die Lotte!« sprach der Meister tiefsinnig. »Verrückt! Sie ist ja ein Schaf! Aber das schlauste Schaf, das man sich denken kann!«
»Wo steckt sie denn jetzt?«
»Wo wird sie sein? In irgend einem Kramladen unten in der Stadt. Wo man Bänder kauft oder Volants oder Spitzen oder wie ihr sonst den Unsinn nennt. Sie hat wieder einmal nichts anzuziehen. Das ist ja ihr Normalzustand. Sie hat mir die Adresse aufgeschrieben. Ich soll sie dort in einer Stunde abholen. Inzwischen sitzt sie da und plappert französisch und gestikuliert und handelt mit Todesverachtung mit den levantinischen Gaunern und schwatzt sich über den Regentag hinweg ... ein glückliches Geschöpf...«
Ellinor erwiderte nichts.
»Ja – ein Regentag!« wiederholte Meister Josephus mißmutig und gähnte. »Komm, daß du wenigstens nicht naß wirst!«
Er führte sie zu einer Stelle, wo man die dreifache Stufenumfassung des Parthenon ersteigen konnte und durch den kahlen, verwüsteten Mittelraum, dem der triefende graue Himmel als Decke diente, nach vorne, unter die Stirnseite des Tempels.
Hier war man geborgen wie unter der Wölbung eines Urwalds. Gleich vielhundertjährigen Baumriesen stiegen, eng aneinander gedrängt, vom Erdbeben geneigt, vom Alter geschwärzt, die ehrwürdigen Säulenreihen wuchtig empor und stützten, stämmig im Boden wurzelnd, das lastende Steindach. Es war dämmerig zwischen ihnen, ein feierliches, geheimnisvolles Grauen, in das zwischen den Marmorkolossen der Tempelträger die grämlichen Streifen des sonnenlosen Lichts draußen hereinlugten, die Boten des Alltags und der Neuzeit.
»Dieser Regen!« sagte Meister Josephus nochmals unwirsch. »Wer das geahnt hätte! Sonst regnet es im Sommer in Griechenland nie! Der Hotelier sagt freilich, das seien nur Seenebel, vom Piräus her. Um Mittag müsse die Sonne durchbrechen. Aber vorderhand tröpfelt und gluckst und platscht das ... ich kann Landregen nicht ausstehen!«
Es zuckte um ihre blassen Lippen. »Lieber Freund ... jetzt ... zum erstenmal auf der Akropolis ... und da vom Wetter zu reden?«
»Ja – wovon denn?« fragte der Siegfried gereizt. »Meinst, die Akropolis sagte mir was? Nix! Bei Landregen bin ich taub und blind. Da bin ich ein Bauer! Überhaupt ... was können einen denn all die ausgebrannten und in die Luft gesprengten und von den englischen Lords ausgeräuberten Tempel zu guter Letzt nur lehren? Doch nur, daß alles, was entsteht, auch wieder zu Grunde geht! Und daß der Pheidias schließlich, wenn man's genau besieht, ebenso umsonst gelebt hat wie ein gewisser Akademieprofessor Joseph Ranggetiner aus München. Da ist es doch schon besser, man stellt sich von vornherein in den Dienst der Herzöge und anderer Vandalen! Die zahlen wenigstens. Weißt du, was man im Ton zurechtkneten muß, wenn man vernünftig ist? –: Hübsche Mädel mit ein bißchen was an – aber nicht zuviel – gerade so, daß man's noch mit Anstand ins Speisezimmer stellen kann – das kauft der Kunsthändler unbesehen!«
Sie wurde zornig. »Willst du denn durchaus diese Stunde entweihen? Mit diesem Ton! Ich bitte dich, sei nur jetzt nicht frivol!«
»Ich bin, was ich gerade bin. Das wechselt. Da kann ich nichts dafür! Die kleine Lotte sagt, ich hätte zuweilen einen Pferdefuß. Daß ich nun gerade auf der Akropolis anfangen muß zu hinken, ist traurig! Sehr traurig!«
Er machte ein ganz betrübtes Gesicht und strählte sich mit den beiden breiten Fäusten den Siegfriedsbart. Eng beisammen saßen sie im Dämmerschatten der mächtigen Säulenreihen wie im Halbdunkel eines gotischen Doms, und draußen strömte unablässig der Regen. Und Ellinor hatte das fröstelnde Gefühl, als ob etwas fremd zwischen ihnen sei! In seiner Mephistostimmung, die heute zum erstenmal seit jenem Abend im Berner Oberland über ihn gekommen, war er ihr wie ein ganz anderer Mensch. Er flößte ihr Angst ein, einen scheuen Widerwillen gegen den Unbekannten, der von ihrem Meister Josephus Sprache und Angesicht lieh.
Das schien er zu merken. Denn er wurde plötzlich ernst, ja trübe. »Schau, liebe Ellinor!« hub er wieder in dem altgewohnten, weichen, warmen Tonfall an. »... Vor ein paar Tagen, vor dem Hermes in Olympia, hab' ich erkannt, daß man heutzutage nichts mehr schaffen kann! Und heute erkenne ich hier, daß es auch ganz umsonst ist, wenn man je was gekonnt und geschaffen hat. Sie gehen beide dahin, der Meister und der Stümper, der Praxiteles und der Ranggetiner! Siehst du, da, gerade vor uns, hat der Lüneburger Leutnant, in venetianischen Diensten, seine Bombe in das Parthenon geworfen, daß Säulen und Giebel und alles, was Pheidias und Perikles sich ausgedacht, lustig in den Lüften herumflog. Ich seh' das Gesicht des dummen Jungen förmlich vor mir, wie er vor Wonne über den Treffer in das türkische Pulvermagazin strahlte und ringsum Hände schüttelte und sich dachte: ›Herrgot – was bin ich doch für ein Kerl!‹... Also, was hilft es, für Menschen zu schaffen, wenn es die Esel doch immer wieder zerstören?«
Sie rückte ganz dicht an ihn heran, ernst und sorgend, und faßte seine Hand. »Du sollst auch nicht für Menschen schaffen, lieber Meister! Nein. Nur für dich! Und wenn du so willst, für mich mit, das gehört ja mit dazu. Dir sollst du Genüge tun. Und wenn dein Werk eine Stunde nach seiner Vollendung zerstört wird – was liegt dir daran! Du hast es vollendet – du hast an ihm deine Kraft gemessen ... du weißt, daß du's gekonnt hast...«
»Ja – wenn man es kann!«
»Du kannst es! Nur: In einem Künstler muß Reinheit sein – Ehrfurcht vor seinem eigenen Wollen und Können! Wer sich selbst verhöhnt und als hinkender Mephisto aufspielt – weißt du ... wenn man hinkt, kommt man nicht weit und am wenigsten, wenn man freiwillig hinkt.«
Meister Josephus war sehr nachdenklich geworden. »Recht hast du!« murmelte er. »Immer! du bist immer mein guter Geist!... Ehrfurcht ... ja ... ich will nicht mehr der Seppl sein, der mit sich selber Federball spielt!... Kennst du die Geschichte in der Bibel, wo der alte Patriarch die ganze Nacht mit dem Erzengel gerungen hat und ihm gesagt: ›Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn zuvor!‹ So will ich jetzt auch mit meiner Kunst ringen und, wie der alte Herr aus dem alten Testament, zu ihr sagen: ›Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn zuvor!‹ Und gehe ich an meiner Kunst selber zuschanden
– auch gut – das ist ein ehrlicher Soldatentod. Tausendmal besser als das Lehmkneten für die Vandalen! Nur fort von denen! Fort nach Florenz. In einen stillen Winkel mit Zypressen und Aussicht auf den Fluß und die Rebhügel und dann die Ärmel aufgestreift und ...«
Er brach ab, mit sprühenden blauen Augen und einem zornigen Löwenausdruck im Gesicht, ganz erfüllt von seinem mächtigen Wollen. Sie drückte ihm stumm die Hand.
»Schließlich wird es ja doch nichts!« sagte er nach einer Weile düster in verändertem, beinahe gleichgültigem Ton. »Der Teufel holt mich dabei. Aber was liegt daran? Was liegt an mir?«
Sie schwieg. Wieder überkam sie das Gefühl der Entfremdung. Sie sah nicht mehr den Meister neben sich, sondern das Stück Schauspieler in ihm, der mit seinen eigenen, an sich echten Empfindungen, ganz unbewußt vor sich selber und den anderen Komödie trieb ...
Er erhob sich und spannte, aus dem düsteren Säulenwald in das nasse Grau des Tages hinaustretend, den Regenschirm auf. »Wir wollen gehen! Du mußt nach Hause. Es ist ja Unsinn, daß du in dem Pantschwetter hier draußen herumläufst, noch halb krank, wie du bist. Du schaust ja elend aus!«
Ellinor sah trübe zu ihm auf. »Das hast du mir jetzt schon ein paarmal gesagt.«
» Ich kann doch nichts dafür! Ich bitte dich, komm!« Er sah auf die Uhr. »Ich muß auch noch die Lotte abholen! Sonst kauft die in ihrer Unvernunft den ganzen Kramladen aus!«
Sie folgte ihm. »Kannst du denn wirklich nichts dafür,« fragte sie leise, »daß du heute so ... so ganz anders zu mir bist, bloß weil ich ein wenig schlechter ausseh' wie sonst?«
»Aber, liebe Ellinor! ...« Er lachte sein herzliches Tiroler Lachen aus breiter Brust. »Das macht alles nur der Regen. Bei Landregen bin ich ein greulicher Kerl, gerade noch zum Aufhängen gut genug! Ich gehöre unter die Sonne! Hell muß es um mich sein ... warm ... blau ... dann bin ich erst Mensch ... und was für einer ... aber bei diesem Naß in Naß und Grau in Grau ... o weh ...«
Es war in der Tat ein trübes Bild zu beiden Seiten des am Rande des Akropolisfelsens hinführenden Fußpfades. Immer neue Trümmerstätten, immer neue Haufen weißer Leichenmale und zerbröckelnden Marmorschuttes, immer neues Strömen aus schweren Höhenwolken.
Sie gingen rasch über die Pfützen und Steine dahin, als wollten sie das alles nicht mehr sehen, das ausgebrannte, verwüstete Odeon zur Rechten, die beinahe vom Boden verschwundenen Wandelhallen, Säulengänge, Priesterwohnungen und Tempelstätten zur Linken. Nur einmal blieben sie noch stehen – auf einem steinernen Theater unter dem freien regengrauen Himmel. Noch dehnten sich im Halbkreis die marmorgemeißelten, mit Greifen geschmückten Lehnsessel für den römischen Cäsar, für die Priester der olympischen Götter, für die Großen, die Weisen und das Volk von Athen, noch schloß zur Hälfte der steinerne Reigen der niederen Szenenbrüstung den Schauplatz ab, den einst die feierlichen Chöre des Euripides und Sophokles umwandelt, noch grinste daneben der kauernde Satyr verstohlen in seinen Bocksbart, als lache er schon im voraus über die Lauge unflätiger Scherze, mit denen der Spötter Aristophanes im nächsten Augenblick die in der Runde sitzende Männerversammlung überschütten würde, daß selbst ein Perikles und Sokrates gute Miene zum bösen Spiel der Narrenfreiheit machen mußten – noch war alles wie einst – nur das Leben, das warme Griechenleben mit seiner männlichen Gesundheit, seiner weiblichen Schönheit, seinem göttlichen Leichtsinn war verschwunden.
»Hier haben sie vor zweieinhalb Jahrtausenden Komödie gespielt!« sagte Meister Josephus melancholisch. »Jetzt spielen sie woanders. Überall, wo Menschen sind. Aber nicht mehr so nett. Am besten muß es noch in der Renaissance gewesen sein ... drüben in Italien. Aber jetzt ... liebe Zeit ... wir armen Schauspieler von heutzutage laufen ja in Sackleinwand herum – mit Asche auf dem Kopf ... den Steuerzettel in der Hand – polizeilich abgestempelt und numeriert – o Gott ... was ist das zwanzigste Jahrhundert für eine barbarische, unmenschliche Erfindung! Und trotzdem amüsiert man sich sogar in dem noch!«
Das zwanzigste Jahrhundert, das sie jetzt, beim Eintritt in die neue Stadt Athen, mit seinen nüchternen Häuserreihen, seiner geschmacklosen Kleidung, seinen rasselnden Droschken und schreienden Zeitungsjungen, seinen gelangweilten Schildwachen, seinen Bureaus, Tabaksläden und schmutzigen Wirtshäusern umfing. Es war niederdrückend, die Alltagsstadt, die Alltagsmenschen, der Alltagshimmel und da das Grandhotel mit seinem goldbetreßten Portier und seinen befrackten Kellnern ...
Sie trennten sich mit einem Händedruck am Eingang. Es war und blieb etwas Fremdes zwischen ihnen, ein Rückstand unausgesprochener Worte. Einen Augenblick schien es, als wolle Meister Josephus den Mund zu einer Beichte öffnen – aber dann zuckte er die Achseln, brannte sich stirnrunzelnd und umständlich eine Zigarre an und ging die Straße hinab, um Lotte zu holen.
Ihre Schwester war inzwischen in ihr Zimmer getreten. Sie stand vor dem Spiegel und erschrak. Fast ungläubig blickte sie ihr Ebenbild an. War sie das, dies bleiche, kranke, von blauen Schatten unter den Augen abgezehrt und verhärmt aussehende Gesicht? Es war, als sei sie um Jahre gealtert. Selbst die frühzeitigen grauen Fäden im Haar, die sonst nur vereinzelt, kaum sichtbar waren, schienen aufdringlicher als früher zu schimmern. Vorhin, als sie sich eilig zu dem Ausgang gerüstet, hatte sie nicht so darauf geachtet. Jetzt aber merkte sie, was der kaum überstandene Fieberanfall aus ihr gemacht hatte...
...Und warum Meister Josephus sie bei ihrer Begegnung da oben auf der Akropolis so scheu, so seltsam angesehen! ... Sie kannte ihn ja! Sie wußte, jede, wenn auch nur vorübergehende Entstellung eines vertrauten Gesichtes verletzte sein Schönheitsgefühl. Sie war ihm bleich vorgekommen, krank, wie das Alter, das langsam durch den Landregen auf ihn zuschritt. Und er brauchte Jugend, Schönheit, Sonne wie die Lebensluft.
Jetzt eben drang, wie der Hotelier es prophezeit, der erste Sonnenstrahl durch das Gewölk und glitzerte auf dem nassen Pflaster. Sie beachtete es nicht. Sie sah sich im Spiegel an und nickte dabei leise mit dem Kopf – in einem tiefen, trüben Mitleid mit sich, mit dem ganzen Leben, mit allem, was altert und vergeht...