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Mitternacht!
Draußen auf der Gasse regte sich nichts mehr, und auch drinnen, in dem öden, halbdunklen und halbleeren Raum, war es still.
Sie saßen einander am Tisch gegenüber und sahen sich über die flackernde Kerze hin an, zwei schweigsame, traurige Menschen . . .
Er hatte ihr zugeredet, sich hinzulegen. Fühlte er sich doch selbst todmüde! Aber sie schüttelte den Kopf . . . ». . . für die paar Stunden . . .« meinte sie träumerisch, und ein seltsamer Ausdruck glitt über ihr blasses Gesicht.
Er stand ärgerlich auf. »Was heißt denn das . . . Thea . . . mit den paar Stunden . . .?«
». . . Das mußt du wissen . . .« sie schaute zu ihm auf . . . ». . . das hast du zu bestimmen . . . nicht ich! . . . ich sage dir eben nur: auf mich nimm keine Rücksicht! Ich folge dir überallhin, wohin du willst . . .«
Immer und immer wieder diese Lockung . . . dies leise, wollüstige Grauen . . . dies vorsichtige, bebende Spiel mit der Vernichtung . . .
Vernichtung . . . das war auch nur so ein Wort. Man ging eben einfach weg! . . . Wie man aus einer Gesellschaft weg geht, die einem nicht paßt! Dazu brauchte man keine Sentimentalität . . . keinen Zorn . . . keine Verbitterung und Aufregung . . . nichts! Das ließ sich in aller Ruhe erledigen! Man schrieb einfach einen Zettel an Heerwaldt oder Hanitz oder sonst einen guten Kameraden in der Garnison: »Ich und meine liebe Freundin Thea – wir haben gefunden, daß die Welt für Menschen ohne Geld eine ganz fabelhaft unanständige Einrichtung ist. Darum entfernen wir uns in aller Stille und raten euch nur: Unterschreibt keine Ehrenscheine und habt keine Wechselfälscher zu Vätern. Sonst kriegt euch der alte, ehrliche Heinlein beim Wickel und jagt euch mit seiner Meute über Stock und Stein . . . und ihr könnt . . .«
». . . Schließlich . . .« sagte Thea, ganz plötzlich, seine Gedanken unterbrechend und wie zu sich selbst . . . ». . . ein bißchen Angst . . . ein bißchen Schmerzen . . . das ist doch nicht so schlimm . . . Das geht ja schnell vorbei . . .« sie starrte mit großen Augen in das Kerzenlicht . . . ». . . Papa hat es doch gewiß jetzt weit besser als wie er lebte . . .«
Natürlich . . . sie hatte wieder dasselbe gedacht wie er. Ihre scheuen Blicke kreuzten sich über der Flamme. Es war doch wirklich entsetzlich, daß man von diesem Gedanken nicht los kam! Einer warf ihn immer wieder dem andern zu. Hatte man ihn aus dem eigenen Kopf verdrängt, so huschte er behende über den Tisch in das Hirn des Gegenübers und kam unversehens von dort wieder zurück.
Georg, der die Zeit über unruhig durch das Zimmer geschritten, blieb vor Thea stehen und beugte sich hinab. »Thea!« sprach er gedämpft ». . . wir müssen aus dieser Kirchhof-Stimmung heraus! Es ist die höchste Zeit. Sonst gibt's ein Unglück!«
»Ja.« Sie neigte das Haupt . . . ». . . wir wollen es versuchen!«
»Na also . . .« Er setzte sich ihr wieder gegenüber und zwang sich zu einem sorglosen Lächeln. ». . . dann überlegen wir also jetzt einmal, was in Zukunft werden soll. Erste Frage: Wo gehen wir hin?«
»Wir müssen in Berlin bleiben!« sagte Thea . . . »Wir haben ja kein Geld, anderswohin zu fahren!«
»Schön! Zweite Frage: Bleiben wir in dieser Wohnung?«
»Sie gehört ja nicht uns!« sagte Thea . . . ». . . und bezahlt ist sie für das letzte Quartal auch noch nicht. Frau Kautz meint, daß der Hauswirt morgen kommt und sie an irgend jemand vermietet . . .«
»Gut! Dann nehmen wir uns also eine andere Wohnung!«
»Wir haben ja keine Möbel!« sagte Thea. »In den leeren Zimmern können wir doch nicht hausen.«
»Also nehmen wir möblierte Zimmer!« stieß Georg ärgerlich hervor.
»Wir sind doch nicht verheiratet . . .« sagte Thea . . . ». . . das paßt sich für mich nicht und ich glaube nicht, daß man in einem anständigen Hause uns beide aufnimmt! Und zusammen wollen wir doch bleiben, Georg!«
»Dann ziehen wir also ins Hotel . . . Tür an Türe!«
»Da wird unser bißchen Geld bald alle werden!« sagte Thea traurig.
Er stand zornig auf. »Ach was! . . . ich werde arbeiten!«
»Ja . . . wenn du nur Arbeit findest . . .« sagte Thea . . . ». . . ich will ja auch arbeiten, soviel ich kann . . . aber ich fürchte . . . es ist schwer!«
Mehr als schwer! Beinahe unmöglich! Georg sah es wohl ein. Aber er sprach es nicht aus.
»Es muß gehen!« entschied er mit unsicherer Stimme . . . ». . . irgend eine Brotstelle gibt es sicherlich. Und dann mieten wir uns eine kleine, billige Wohnung und kaufen Möbel auf Abzahlung und . . .«
Er brach jäh ab. So sehr erschreckte ihn selbst der Gedanke. Sie beide, die hochmütigen Aristokraten, in einem Hinterhaus, mit der Aussicht auf einen schmutzigen Hof, in Stube und Kammer eingepfercht, um sie herum kleine armselige Existenzen, vielleicht ein Schutzmann mit Familie auf dem Nebenflur, ein Monteur oder so etwas über ihnen, unter ihnen der Vizewirt, ein grobknochiger, polternder Kerl – und über alles hin aus Winkelküchen und dunklen Schlafzimmern der abscheuliche Armeleutgeruch, der Dunst von Niedrigkeit und Gemeinheit . . . o pfui! . . . Es fiel ihm ein, wie energisch schon am Abend Thea dies »o pfui!« herausgestoßen hatte.
Und Thea selbst! Das feine, zarte Geschöpf in der Wirtschaft hantierend . . . womöglich ohne Dienstmädchen . . . natürlich ohne Dienstmädchen! Wo sollte man es denn hernehmen? – . . . sie, die geborene Freiin von Hoffäcker, etwa mit den Weibern des Hinterhauses über die Benutzung der Waschküche verhandelnd oder eigenhändig, wenn die Reihe an ihr war, den Treppenflur scheuernd – das war ja undenkbar, das war ja einfach lächerlich!
Und ein anderes Heim als das konnte er ihr für den Anfang wenigstens nicht bieten. Soviel hatte er von Berlin jetzt schon gesehen. Es war schon ein großes Glück, wenn er auch nur einen solchen bescheidenen Broterwerb in absehbarer Zeit finden konnte.
Wenigstens wenn er auf ehrliche Weise sein Brot erwerben wollte! Und dann waren noch Heinlein und seine Spießgesellen hinter ihm her, bis ihn vielleicht die bittere Not dazu trieb, bei einem andern Heinlein und seiner Horde Unterschlupf zu suchen. Und stak man erst wirklich in diesem Schlamme fest, dann ließ jeder Versuch, sich herauszuarbeiten, einen noch tiefer sinken! Dann endete man schließlich wie der alte Herr, der noch vor kurzem an diesem Tische hier den »Paprika« redigiert hatte!
»Vor der Not fürcht' ich mich nicht!« sagte Thea, den blassen Kopf erhebend . . . ». . . die Not ist etwas Großes . . . etwas Furchtbares . . . Ich will gern hungern, wenn es sein muß, und arbeiten, daß mir das Blut unter den Nägeln hervorkommt . . . und auch die Armut fürcht' ich nicht . . . die eigentliche Armut . . . Aber das, was damit zusammenhängt . . .« Georg fühlte instinktiv, daß sie wieder dasselbe gedacht hatte wie er . . . ». . . all die Niedrigkeit und Erbärmlichkeit und der Schmutz . . . ach . . . der Schmutz . . . ich glaube . . . der ist da überall und in jedem Sinn! Man muß sich vor verächtlichen Leuten bücken . . . man muß sich von anderen verächtlichen Leuten als seinesgleichen behandeln lassen . . .«
»Und ob!« murmelte Georg.
». . . kurz . . . eben alles, wie wir es jetzt bei Papa gesehen haben!« fuhr Thea fort . . . ». . . was war er früher für ein stolzer, herrischer Mann . . . und nun zuletzt . . . du warst nicht dabei, aber ich, wie er sich hat von einem Zigarrenhändler auf die Schulter klopfen lassen und fünfundzwanzig Stück Havannas schenken lassen . . . und wie er einem Kellner die Hand geschüttelt hat. Das kommt mir schrecklicher vor, als daß man im Gefängnis sitzt.«
Georg seufzte. »Mir auch, Thea!«
Sie war aufgestanden und trat bang vor ihn. »Wenn es uns nun auch so ginge, Georg!« flüsterte sie verstört . . . ». . . jetzt sind wir noch freie, stolze Menschen! Aber wie wird es in ein paar Jahren ausschauen? Dann hat uns vielleicht das Leben ganz geknickt, und wir sind klein und niedrig geworden und betteln herum und machen uns verächtlich, bloß um noch ein bißchen weiter leben zu dürfen. Denn dann hängt man ja gerade daran . . . wie der arme Papa . . . wenn es gar keinen Wert mehr hat . . .«
Er fuhr auf und suchte mit den Blicken nach Hut und Stock . . . ». . . So komm!« raunte er kurz und drohend.
Da merkte er doch, daß sie zurückschauderte. Sie schaute auf die Gasse hinab und schüttelte dann den Kopf. »Jetzt nicht . . . jetzt ist's finster und häßlich draußen. Da geh' ich nicht aus dem Hause. Da hab' ich nicht den Mut dazu. Erst wenn die Sonne scheint und alles freundlich ist . . .«
Er setzte sich wieder. »Siehst du wohl . . .« meinte er nachdenklich . . . ». . . das ist so eine Sache! . . . ich kenne das . . . Im letzten Augenblick zupft einen immer so etwas am Rockärmel und hält einen zurück!«
Aber das glaubte ihm Thea nicht.
»Morgen ist noch ein langer Tag . . .« sagte sie sehnsüchtig . . . ». . . und meinetwegen sorg' dich nicht! . . . ich mach' die Augen zu und geh' mit dir!«
Dann schwiegen beide. Zwischen ihnen flackerte das Licht unstät hin und her und plötzlich erlosch es.
»Da sitzen wir nun im Dunkeln!« Georg suchte in der Tasche . . . ». . . und Streichhölzer hab' ich auch nicht mehr, daß man eine neue Kerze . . .«
»Es ist keine mehr da!« tönte ihm gegenüber die helle Stimme aus der Finsternis . . . ». . . das war das letzte Stümpfchen!«
»Also Dunkelarrest!« Der Herrenreiter war halb ärgerlich, halb belustigt . . . ». . . ein Glück, daß ich da bin! Sonst würde sich das arme, kleine Mädchen da drüben jetzt zu Tode fürchten . . .«
»Ja . . . aber so . . .« ihre Stimme klang weich und zärtlich . . . ». . . so ist's recht schön! . . . so heimlich . . . jetzt kann man träumen . . .«
»Taste dich lieber in dein Zimmer hinüber,« sagte Georg . . . ». . . und schlaf ein bißchen!«
Aber er vernahm kein Rücken des Stuhls gegenüber.
»Ich bleibe hier . . .« sprach sie nach einer Weile müde . . . ». . . wir wollen hier beisammen sitzen und warten, bis die Sonne wieder aufgeht . . . wie die verirrten Kinder im Märchen . . .«
»Recht ausgewachsene Kinder . . .« meinte der Sportsman.
»Ach . . .« durch ihre Worte tönte es wie ein mattes Lächeln . . . ». . . ich glaube, für dies böse Berlin da draußen sind wir beide doch noch halbe Kinder . . . du auch, trotz all deiner dummen Streiche – schlechte hast du ja nicht gemacht . . . sonst wär' ich nicht bei dir! Du weißt auch noch nicht viel vom Leben und der eigentlichen Welt . . . die lernt man im Kasino nicht kennen . . .«
»Ja . . . darin hast du schon recht!«
»Nun also . . .« sagte sie schläfrig . . . ». . . und verirrt sind wir doch auch . . . gründlich verirrt, daß wir nicht aus noch ein mehr wissen. Wie zwei Schiffbrüchige sitzen wir da auf einer wüsten Insel . . .«
Er erwiderte nichts. Er hoffte, daß sie nun einschlafen würde.
Eine Weile war es still. Dann hörte er durch das Dunkel ein paar schwere Atemzüge, denen langsam in langen Pausen andere folgten.
Gott sei Dank . . . sie schlief!
Und auch ihm fielen die Augen zu. So wie sie es wohl auch getan, legte er die Arme auf die Tischplatte, den Kopf darauf . . . und bald war er drüben bei ihr im Reich der Träume.
* * *
Nach drei, vier Stunden wachte er auf. Die unbequeme Lage verscheuchte den allmählich leiser werdenden Schlummer. Die Arme waren steif wie Hölzer, der Rücken schmerzte, der Kopf war wüst und schwer.
Er gähnte und sah verstört um sich.
Der erste Morgen dämmerte und erfüllte das Gemach mit seinem fahlen Schein. So sah der unwirtliche Raum doppelt trostlos aus, in diesem Licht, das keine Farbe und keinen Schatten hatte und das gleiche, eintönige Grau über Tisch und Stühle, über die zerknitterten Zeitungen am Boden und die schiefgenagelten Bilder an den Wänden warf.
Er wollte aufstehen. Da klirrte es neben ihm. Die große Redaktionsschere, an die er unversehens angestoßen, polterte auf die Dielen nieder.
Er biß sich zornig auf die Lippen. Aber nun war das Unglück geschehen! Es bewegte sich das schwarze Lockengewirr, das, von zwei schmalen, weißen Händen umrahmt, ihm gegenüber auf dem staubigen Tisch lag, und langsam richtete sich ihr blasser Kopf empor.
Nach einer Weile begriff Thea, wo sie sich befand.
Sie stand auf und dehnte den schlanken Leib. »Hier ist's trostlos!« sagte sie leise . . . ». . . ich hab' mich auf den Morgen gefreut. Aber sieh nur, wie grau und öde alles ist! . . . Ich kann es nicht mehr sehen. Ich will fort von hier . . . jetzt gleich . . .«
»Wohin denn, Thea?«
Sie war ans Fenster getreten und schaute zu dem Himmel auf, der blaßblau über der menschenleeren Gasse schimmerte.
»Es wird heute ein wunderschöner Sommertag . . .« meinte sie . . . ». . . wenn wir den da draußen verleben könnten, Georg . . . irgendwo in Wald und Flur . . . und an einem großen See . . . es gibt ja welche bei Berlin . . . da bringen wir den Tag so hin und essen in irgend einem freundlichen kleinen Wirtshaus . . . und legen uns dann ins Gras und denken, wenn die Wolken so über uns hinziehen, das wäre alles ein böser Traum gewesen . . . und wir hätten ein Rittergut und Geld in Hülle und Fülle und brauchten uns um die Zukunft nicht zu kümmern.«
»Schön wär' das schon!« sagte Georg . . . ». . . nur . . . wenn wir abends nach Berlin zurückfahren, haben wir kein Rittergut und blutwenig Geld, dafür aber einen ganzen Tag verloren . . .«
». . . Ja . . . wenn wir nach Berlin zurückkehren . . .« sie sprach das stockend und bang, und ihrer beiden Augen trafen sich plötzlich wieder in jäh aufleuchtendem Schrecken.
Das meinte sie also! Darum sprach sie von dem großen See?
»Warum willst du denn aber gerade an einen See?« fragte er.
Thea blieb ganz ruhig. »Ich denke es mir so . . .« sagte sie langsam . . . ». . . wenn wir so einen recht schönen, goldenen Tag da draußen verbracht haben, dann wundert es niemanden, daß so ein Pärchen wie wir einen Kahn mietet und spazieren fährt . . . gegen Abend, wenn es nicht mehr so heiß ist und die Sonne allmählich untersinkt und alles dämmerig wird . . . und du ruderst eben weiter und immer weiter hinaus und läßt endlich die Ruder sinken . . . und wenn du dann einen Strick oder sonst etwas um uns legst, daß wir beisammen bleiben, dann will ich die Augen zumachen und nur noch ein Vaterunser sprechen . . . und dann ist's gut . . .«
». . . Und das leere Boot wird irgendwo ans Ufer getrieben!« ergänzte Georg finster.
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»Wollen wir gehen?«
Er nickte.
»Gehen wir! Wir haben ja noch einen langen Tag Zeit, es uns zu überlegen!«