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Also nun konnte der Kampf beginnen.
Georg Textor hatte in seinem Hotel ein paar Stunden geruht, dann gebadet, sich rasiert und ein konsistentes englisches Frühstück eingenommen. Nun war er wieder soweit Mensch und sah streitlustig der Zukunft ins Auge.
Aber diese Zukunft war und blieb wie ein Gespenst. Nebelhaft, nicht zu erkennen, nicht zu fassen . . . und eben darum doppelt unheimlich.
Jedenfalls erobert man Berlin nicht vom Lesezimmer der Monopolhotels aus! Der Exhusar zahlte und schlenderte nachdenklich die Friedrichstraße entlang und die Linden hinunter.
Merkwürdig, wie eilig es alle diese Menschen ringsum hatten! Das hastete in dem trüben Regengrau des Sommervormittags aneinander vorbei, das bewegte im Gehen rechnend die Lippen hatte das Gesicht voll Pläne . . . ja gewiß . . . alle diese – nebenbei bemerkt meist von fabelhaften Schneidern bekleideten – Leute gingen einem Berufe nach, mühten sich, verdienten Geld!
Aber wie? Gewiß auf tausenderlei Weise. Das lebte und webte eben durcheinander und strebte doch zum gleichen Ziel, wie im Fabriksaal die sausenden Riemen und kreisenden Räder und gleitenden Stangen aus scheinbarem Chaos doch ein Ganzes schaffen.
Aber wehe dem Unkundigen, der seine unerfahrene Hand in dies Chaos mengt! Er ist verloren, in Stücke zerrissen von dem gleichgültig weiterstampfenden Getriebe.
Freilich bummelten ja auch manche Menschen langsamen Schrittes dahin. Elegante Flaneure mit Bügelfalten in der Hose und schweren Stöcken, dienstfreie Offiziere, Gutsbesitzer aus der Mark . . . Aber das war ja gerade die Welt, die ihn ausgestoßen hatte . . . für die er jetzt nur noch ein ehrloser Schatten war. Oder sollte er sich täuschen? War man vielleicht in Berlin, der brausenden, alles umfassenden und verstehenden Weltstadt, toleranter als in der engen Garnison?
Ein jüngerer Herr nahm im Vorbeigehen lächelnd den Hut ab. Georg erkannte ihn. Es war ein Diplomat, den er zuweilen auf den Rennplätzen gesehen.
»Na, auch mal wieder in Berlin?« scherzte der Mann aus der Wilhelmstraße und reichte ihm mit sorgsam hochgehobenem Ellenbogen die Hand . . . ». . . schönes Rennen morgen in Karlshorst . . . kann Sie leider nicht bewundern . . . haben schauderhaft im Auswärtigen Amt zu tun . . . bin eben auch auf dem Weg dorthin . . .«
An diesem gutmütigen Kavalier konnte man die Probe machen! Der kleine Sportsman schloß sich ihm an.
»Ich reite morgen nicht!« sagte er, neben ihm hergehend, in möglichst gleichgültigem Ton . . . ». . . ich reite überhaupt nicht mehr . . .«
». . . Streber geworden? . . . Kriegsakademie? . . .« wunderte sich der Diplomat.
»Nein. Aber schlichten Abschied erhalten . . . nach dem großen Unglück in Hannover!«
»Schlichten Absch . . .« Der Elegant blieb stehen. Ein peinliches Erstaunen malte sich auf seinem Gesicht und ging allmählich in ratlose Verlegenheit über . . . ». . . das ist ja . . . allerdings . . . und Sie sagen das so kühl . . .«
»Ja . . . ändern kann ich's ja nicht!«
»Natürlich nicht . . . nein . . . ja . . . dieser Spielerprozeß . . .« Der korrekte Herr schaute hilfesuchend rechts und links und heftete sein Auge auf ein Firmenschild . . . ». . . nun . . . ich muß jetzt hier . . . ist mein Zigarrenlieferant . . .«
Höflich den Hut lüftend, verschwand er mit ein paar langen Schritten in dem Laden.
Der Ex-Husar steckte sich traurig eine Zigarette an und zog weiter. Als er die Linden wieder heraufschlenderte, sah er den Diplomaten mit einem anderen, ihm bekannten Herrn ihm entgegenkommen. Sie mußten ihn schon von weitem gesehen haben. Dann plötzlich gingen sie quer über alle die Fahrdämme und Alleen auf die andere Seite der Linden, wo sich ein anständiger Mensch doch nur zeigt, wenn er auf dem Weg zu Hiller oder Dressel ist.
Als ob seine Nähe ansteckend wirkte! Ein grimmiger Zorn erfaßte Georg Textor. Er haßte die ihm entgegenkommenden Elegants, die Offiziere und Gigerln, die alle so vergnügt aussahen und plauderten und lachten.
Und als der kleine Wendelslohe von den 29. Ulanen an ihm vorbeirollte und sich im Wagen aufstellte, um den Kutscher anzuhalten, da winkte er ihm spöttisch mit der Hand zu: »Fahren Sie nur weiter!« rief er . . . ». . . ich habe die Blattern!« Und der Leutnant, der ihn auf der Verfolgung einer Dame wähnte, setzte sich verständnisvoll nickend wieder hin . . .
* * *
Nein, diese Welt wollte nichts mehr von ihm wissen! Das Freimaurer-Zeichen des Gentleman starrte ihm überall abwehrend entgegen.
Da war es wirklich schon besser, Sozialdemokrat zu werden! Dann sollte die Bande vor ihm Angst kriegen! Aber wie wurde man Sozialdemokrat? Er konnte sich doch nicht ohne weiteres in seinem Gigerl-Zivil zu den Maurern und Droschkenkutschern da unten in dem Budikerkeller setzen! Und dann hatte er auch die Empfindung, daß diese Leute sich nicht oft genug wuschen! Das war ihm ein Greuel . . .
Ein donnerndes Gefährt kam da die Linden entlang. Prachtvolle Traber, ein würdevoller Kutscher, im Innern ein satter alter Herr mit einem Pack Zeitungen auf dem Schoß. Ein Börsenfürst, der zur Bank fuhr . . . das unterschied sein in Hamburg geübtes Auge wohl.
So reich zu werden, war das Ziel seines Ehrgeizes. Aber wahrscheinlich auch das aller anderen Menschen ringsumher. Da hatte man wohl so ziemlich alles, was lebte, zu Konkurrenten.
Jedoch ein anderer Gedanke erfaßte ihn dabei. Hier in Berlin lebte ja der alte Geschäftsfreund seines Vaters, der Geheime Kommerzienrat Michaelis, einer der wenigen, die, seiner Ansicht nach, sich beim Sturz des Hauses Textor & Co. anständig benommen hatten.
Den Sohn seines Geschäftsfreundes würde er wohl empfangen. Und er war reich . . . sehr reich. Vielleicht verriet er ihm das Geheimnis, wie auch ein anderer reich werden könne. Georg hatte die Adresse noch von früher her im Kopf. Er winkte einem Kutscher und fuhr in die Jägerstraße.
* * *
Daß es eine große Auszeichnung war, um diese Stunde überhaupt in das Allerheiligste des Direktors vorgelassen zu werden, davon ahnte der frühere Leutnant nichts. Er hatte seine Beichte beendet, lehnte sich in dem Stuhl zurück und sah den hageren, alten, unscheinbar gekleideten Herrn erwartungsvoll an.
Der schwieg einige Zeit und dachte nach. Kein Fältchen rührte sich in seinem, von jahrzehntelanger, zäher Gedankenarbeit mumienhaft erstarrten Gesicht mit dem strengen Mund und den durchdringend forschenden Augen.
»Sie sind der Sohn meines alten Freundes, Herr Textor!« sagte er mit leiser, leidenschaftsloser Stimme . . . ». . . ich bin bereit, Ihnen die Passage nach New York zu bezahlen und irgendwo in Amerika durch ein befreundetes Haus ein Unterkommen zu verschaffen . . . was für eins . . . das weiß, ich nicht. Sie müssen eben nehmen, was sich in Amerika bietet.«
Schon wieder das verwünschte Amerika! Es war, als ob die Welt sich verschworen habe, ihn über das große Wasser zu schaffen!
»Verzeihung, Herr Geheimrat,« der Sportsman verbeugte sich höflich . . . ». . . aber ich möchte eben auf jeden Fall in Deutschland bleiben und mir hier eine Stellung machen . . .«
Der alte Herr überlegte wieder einen Augenblick. ». . . Was für eine Stellung?« fragte er dann eintönig . . . ». . . was haben Sie für Kenntnisse?«
»Kenntnisse? . . . ja, du lieber Gott . . .« der gewesene Husar zuckte die Achseln . . . ». . . ich spreche noch recht leidlich Englisch . . . von Hamburg her . . . und ein paar Brocken Französisch . . .«
»Also so gut wie nichts! Können Sie stenographieren? Mit der Schreibmaschine umgehen? Verstehen Sie etwas von Buchführung und kaufmännischem Geschäftsstil?«
»Nein!« sagte Georg verblüfft.
»Hm.« Der Financier runzelte die Stirne . . . ». . . Haben Sie sich sonst irgendwie in der praktischen Welt umgesehen? Vielleicht in einem Fabrikbetrieb . . . im Hüttenwesen . . . in irgendeinem Ingenieurfach . . .«
»Ich habe meine Rekruten gedrillt . . . und in meinen Urlaubsstunden Rennen geritten . . .«
»Nun . . . und die Landwirtschaft? Wissen Sie etwas davon?«
». . . Nur, daß meine Pferde eine sündhafte Menge Hafer und Heu verschlangen . . .«
»Ja . . . also . . . verehrter Herr . . .« der Bankier richtete sich etwas auf . . . ». . . fühlen Sie etwa irgendeine besondere Begabung in sich . . . eine Tenorstimme . . . oder ein Zeichentalent . . . auch nicht?«
Georg schüttelte stumm den Kopf. Die Sache begann ihm unheimlich zu werden.
»Dann kann ich Ihnen nur raten,« schloß der alte Herr kühl seine Fragen . . . ». . . da Pferde offenbar der einzige Ihnen vertraute Gegenstand auf Erden sind . . . werden Sie Stallmeister oder dergleichen!«
»Verzeihung, Herr Geheimrat . . .« der Herrenreiter hob kampflustig das hagere, scharfgeschnittene Gesicht . . . ». . . da Knecht . . . bezahlter Knecht zu werden, wo man früher Herr war . . . ich, der ich vor drei Tagen selbst noch einen Trainer hielt, als servil grüßender Stallmeister . . . das vertrag' ich nicht. Mein Ehrgeiz ist, mir Stellung und Reichtum zu erwerben.«
»Ja . . . womit denn?«
»Das weiß ich nicht!«
Der Finanzmann stand auf. »Sehen Sie durchs Fenster!« sagte er ruhig . . . »alle die Menschen, die da unten vorübergehen, die arbeiten und mühen sich hier in Berlin . . . sie mühen sich vom Morgen bis in die Nacht, und sind froh, wenn sie das tägliche Brot haben. Meine jungen Leute sprechen vier, fünf Sprachen, sie haben sich in jahrelanger Arbeit, auf Reisen und im Kontor auf ihren Lebensberuf vorbereitet und danken ihrem Schöpfer, wenn sie so weit sind, daß sie mit dreißig Jahren heiraten und sich ein bescheidenes eigenes Heim gründen können. Wenn ich jetzt auch nur die Stelle eines Ofenheizers hier ausschreibe, so melden sich Hunderte von Arbeitslosen und bestürmen meinen Vertreter mit Bitten, und für jede freigewordene Kommisstelle laufen die Offerten in einer Zahl und unter Bedingungen ein, die dem Bewerber gerade noch das blanke Leben lassen. Alles ist überfüllt. Ueberall herrscht ein unerbittlicher Kampf ums Dasein, und nur das ernsteste Wollen und reifste Können führt zum Ziel. Und nun kommen Sie, ein entlassener Leutnant ohne Geld, ohne Kenntnisse und – verzeihen Sie es mir – ohne starken sittlichen Halt, und glauben, en passant, Millionär zu werden . . .«
Das war wahr . . . entsetzlich wahr! Ein tödliches Grauen vor der Zukunft stieg jählings in Georg Textor auf.
Aber zugleich auch wieder der Trotz.
»Und doch,« sagte er schweratmend . . . ». . . gibt es Leute . . . vom Rennplatz her kenne ich ihre Namen . . . die ziemlich genau in meiner Lage waren und doch aus dem Nichts heraus gutsituierte Männer geworden sind . . .«
»Es mag solche geben!« erwiderte der Bankier gleichgültig . . . ». . . ich kenne sie nicht, und wenn ich sie kennte, würde ich ihren Gruß nicht erwidern. Denn sie können ihr Geld nicht auf achtbare Weise erworben haben.«
»Aeußerlich sehen sie jedenfalls ganz anständig aus!«
»Jawohl« . . . der alte Herr sah ihn ernst an . . . »In Berlin wie in jeder Weltstadt haben wir eine wirkliche Halbwelt . . . das, was der Franzose darunter versteht. Talmi-Existenzen auf der Grenze zwischen Salon und Zuchthaus . . . Freibeuter der Gesellschaft, die vom Gentleman den Rock, vom Industrie-Ritter die Gesinnung borgen . . . Leute, die wie versinkende Schwimmer sich krampfhaft an jedes Rettungsmittel klammern und endlich doch ausnahmslos zugrunde gehen. Nach Ihnen, wie nach jeder verkrachten Existenz, streckt diese Halbwelt ihre Fänge aus. Und sind Sie einmal darinnen . . . nun . . . wenn Sie mir schreiben . . . das Passagegeld nach Amerika steht jederzeit zu Ihrer Verfügung!«
»Ich danke sehr, Herr Geheimrat!«
Der Sportsman erhob sich mit tadelloser Verbeugung und schritt hinaus . . .
* * *
Recht hatte er ja . . . Recht in allem, was er sagte – der fuchsschlaue, eisig kühle alte Herr da drinnen.
Er war ein versinkender Schwimmer . . . jetzt begriff Georg es selbst. Er konnte nichts, er hatte nichts . . . in wenigen Wochen stand er vor dem Sein oder Nichtsein!
Und dann sich totschießen, nachdem man schmählich mit seinem prahlenden Hohne Schiffbruch gelitten . . . nein . . . dann gerade nicht!
Er mußte durchkommen! Er hatte die Empfindung, daß ihm nur die ersten Tritte und Griffe zum Aufwärtsklettern fehlten. Dann würde es schon weiter gehen.
Aber diese Tritte hießen eben: Wissen . . . Geld . . . und ehrlicher Name! . . . drei für ihn unerreichbare Dinge . . .
In dumpfer Verzweiflung schlenderte er weiter und weiter. »Wie wird das werden?« ging es ihm immer wieder durch den Kopf.
Ach . . . er wollte jetzt nicht mehr daran denken. Morgen war auch ein Tag, und wenn dann die Sonne schien, gestaltete sich überhaupt alles weit besser. Heute wollte er anständig zu Mittag essen und dann ins Theater . . . irgendwohin, wo es lustig zuging . . . mit Gesang und Tanz und hübschen Mädchen.
An einer Litfaßsäule sah er nach den Zetteln der Operettenbühnen. Sein Blick blieb an einem Namen haften.
Cilli Spiegel! Wie kam denn die nach Berlin?
Er lächelte still vor sich hin. Er hatte Cilli wohl gekannt, als vor drei Jahren zur schönen Sommerszeit eine wandernde Operettentruppe auf ein Paar Wochen das kleine Garnisonstädtchen heimsuchte.
Recht gut hatte er sie gekannt.
Ein nettes Mädel! Nur ein bißchen Größenwahn hatte sie damals . . . ihr drittes Wort war »Berlin« und »Karrieremachen«, und dabei konnte sie ganz grimmig aussehen und den sonst so schmachtenden Mund und das ganze rotbäckige Sündergesichtchen in finstere, entschlossene Falten legen.
Na . . . nun war sie also glücklich in Berlin, die kleine Cilli – und von ihrem Größenwahn wohl gründlich geheilt.
Ob er sie aufsuchte?
Der Regen tröpfelte immer dichter und kälter. Er sah wieder das kleine Zimmerchen am Markt, drei Treppen, vor sich, in dem sie damals in malerischer Unordnung gehaust, die summende Kaffeemaschine auf einem Stoß Noten, Tische und Stühle mit Trikots und bunten Flittern übersät, und sie selbst dazwischen auf einer Nähmaschine Weißzeug säumend und, die Zigarette schief im Mundwinkel, melancholisch vor sich hinträllernd.
So trieb sie's jetzt in Berlin wohl auch.
Das war die rechte Stimmung für ihn: ein kleines Mädchen in seinem kleinen, warmen Zimmerchen, Zigarettenrauch und Kaffeedunst und gedankenloses Geschwatze . . . da vergaß man die dumme Welt und die dummen Sorgen.
Im Adreßbuch eines Zigarrenladens fand er ihre Wohnung. Dann winkte er einem Kutscher. »Fahren Sie Hindersinstraße Dreiundzwanzig.«