Rudolph Stratz
Arme Thea!
Rudolph Stratz

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IV.

Jawohl, da stand der dicke, gute Papa! Schon aus der Ferne leuchtete das joviale Burgundergesicht, das – sorgfältig wie immer zur Seite gebürstet und gekräuselt – die eisgrauen Favoris umrahmten. Der schwarzgefärbte Schnurrbart, unternehmend aufgespitzt, direkt zu den kleinen, listig zwinkernden Augen hinauf, das goldene Pincenez, der hechtgraue Zylinder, weit auf die von spärlichen Haarstreifen überspannte Glatze zurückgeschoben, ein jugendlich-heller, nonchalanter Sommeranzug um die hohe, korpulente Gestalt, die spitzen Lackstiefel, der Bambusstock mit Goldknopf, das kokett aus der Brusttasche schauende Eckchen bunten Seidentuchs, das feine Parfüm von Kölnisch Wasser und Zigaretten . . . alles wie sonst.

Nur ein bißchen röter im Gesicht war er geworden, der gute Papa . . . beinahe gedunsen. Und in seinen Augen lag ein wässeriger Glanz. Nun – das war die Freude des Wiedersehens . . .

». . . Aber Kind . . .« weiter konnte er nichts sagen, während ihm das schöne Mädchen lachend an die Brust flog . . . ». . . aber Kind . . .« Er brach wieder ab und schluckte ein paarmal heftig, wie um seine Rührung zu verbergen. Ein seltsames Lächeln, halb glücklich, halb verzweifelt, lief über seine gutmütigen Züge. Und dann hub er von neuem an, mit verlegen schwankender Stimme, durch die doch die Rührung durchzitterte: ». . . aber Goldkind . . . was sind das für Sachen!«

Sie lachte mutwillig auf, schlüpfte mit ihrem Arm in seinen und schritt neben dem stattlichen alten Herrn, dem sie kaum bis zur Schulter reichte, dem Ausgang zu.

»Die Standpauke kommt erst später, Papa!« sagte sie, mit dem Finger drohend . . . ». . . in ein paar Tagen will ich sie über mich ergehen lassen, wenn ich mich erst hier eingelebt und Posen vergessen hab' . . . denn nun wirst du mich nicht mehr los . . . das sag' ich dir gleich . . .«

»Ich hab' dir auch was mitgebracht,« plauderte sie fort, da der Kammerherr nichts erwiderte . . . ». . . rate einmal: Eine Flasche feinstes Danziger Goldwasser . . . weil du doch gern vor Tisch dein Gläschen trinkst . . . auf dem Weg zum Bahnhof hab' ich's noch gekauft und im Arm wie ein kleines Kind davongetragen . . . als Versöhnungsgeschenk . . . weißt du . . .«

Ihr Vater blieb stehen. »Aber Herzchen . . . woher hattest du denn zu dem allen das Geld?«

»Gespart!« Seine schöne Tochter sah ihn stolz an . . . ». . . fünfzig Mark hab' ich gespart. Jetzt ist noch eine davon übrig. Die kriegt der Kofferträger.«

Der alte Herr seufzte leise vor sich hin und wandte sich zu dem Dienstmann hinter ihnen. »Tragen Sie das Gepäck zur Paketfahrt,« befahl er mit seiner knarrenden Grandseigneur-Stimme und fuhr, zu Thea gewendet, fort: »die Kerle besorgen den Koffer umgehend in die Wohnung und wir sparen die Frühdroschke. Es ist nicht weit!«

»Wir sparen die Droschke!« Thea stand ganz erstaunt da, während der alte Herr die Sache an der Barre der Packetfahrt ordnete. Papa und sparen! Das war das Neueste. Aber wenn es ihm Spaß macht . . . Sie nickte ihm zu, als er zurückkam . . . ». . . ich trete mir gerne die Beine ein bißchen aus nach der langen Fahrt!«

So gingen sie langsam die Friedrichstraße entlang bis zu den Linden.

Noch trug die vornehme Avenue nicht ihr Feiertagsgewand. Das Volk der Arbeit belebte sie ausschließlich in dieser frühen, kühlen Morgenstunde. Verschlafene Kommis, gähnende Hausdiener, eilig frisierte Ladenmädchen, auf dem Fahrdamm die Milchwagen, die Gefährte der Müllabfuhr, die Kolonne der Straßenfeger, da ein Schutzmann, in seinen Mantel gewickelt, auf regungslosem Roß, zerlumpte Zeitungsträgerinnen, Maurergesellen, graues Volk unter grauem Himmel – unwillkürlich beschleunigte Thea ihre Schritte. Dieser erste Anblick von Berlin befriedigte sie nicht.

Der alte Herr aber ging immer langsamer, während sie die andere Seite der Friedrichstraße erreichten und bald in eine Seitenstraße einbogen. Ein, zweimal blieb er sogar stehen, warf einen unsicheren Blick auf seine Tochter und setzte dann mühsam die etwas zittrigen Beine wieder in Bewegung.

»Wie komisch!« sagte Thea und sah mit ihren glänzenden Augen nach rechts und links . . . ». . . Da ist man plötzlich wie in einer kleinen Stadt! Die enge, holperige Gasse . . . und die niedrigen, alten Häuser . . . das macht alles so einen verwahrlosten Eindruck . . . so wie vor hundert Jahren . . .«

»Das ist die Mauerstraße . . .« erwiderte der alte Herr und dann, mit einem plötzlichen Entschluß . . . ». . . da wohne ich, mein Kind!«

»Hier, Papa?«

»Nun . . . es ist sehr ruhig hier . . . das ist für einen alten Mann wie mich angenehm . . . und dann . . . die Mieten in Berlin, liebe Thea . . . die Mieten sind ja entsetzlich teuer . . .«

»Aber doch nicht da?« Sie wies entsetzt auf das Haus, vor dem er stehen blieb.

Es war eines der ältesten und unscheinbarsten. Kleine Fenster in einer schmutzigen, vielfach vom Bewurf entblößten Wand. Unten ein Schusterkeller, und an einem Treppenvorbau ein Wildprethandlung, dazwischen ein großes, offenstehendes Einfahrtstor. Verwitterte Papptafeln hingen schief um dies Portal und gaben den Vorübergehenden kund, daß im zweiten Vorderstock möblierte Zimmer, im Hinterhaus Schlafstellen an solide Arbeiter zu vergeben seien. Durch die Torwölbung sah man auf den Hof des Hinterhauses. Ein paar Metzger hantierten da in einem hallenartigen Raum an einer Hirschkuh herum und zogen dem beinahe pferdegroßen Tier das Fell ab. Daneben stand ein blutbespritzter Wagen.

»Aber Papa?« Thea begriff das nicht. Sie hatte sich unwillkürlich so etwas wie ihr schmuckes, parkumgebenes Schlößchen in Rhena vorgestellt . . . und nun dies finstere, rauchige Gebäude . . . wie ging denn das nur zu?

Der alte Herr nickte. »Komm nur!« sagte er Und trat ein, ohne sie anzusehen . . . ». . . ich bewohne schon seit einem halben Jahr den ersten Stock hier . . . und bin eigentlich ganz zufrieden . . .«

Die letzten Worte sprach er so unsicher und leise, daß das Knarren der Holztreppe sie fast verschlang. Es war eine steile, dunkle Treppe mit abgerissenem Geländer und beschmutzten Stufen. An ihrem ersten Absatz stand die Tür zur Wohnung links weit offen.

»Da wären wir zu Hause«, sagte der Kammerherr schwer atmend und schob Thea sanft in den engen Flur hinein. »Und hier« . . . er stieß eine Türe auf . . . ». . . hier hab' ich vorderhand das Nötigste für dich richten lassen.«

Es war ein kleines, nach dem Hofe zu gehendes, aber ganz behaglich eingerichtetes Zimmer. Thea ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah stumm zu ihrem Vater empor.

Der ging in dem bescheidenen Raume auf und ab und rückte, anscheinend zwecklos, dies und jenes zurecht. »Eigentlich ist es das Zimmer meiner Haushälterin . . .« er beugte sich gleichgültig über den Schreibtisch, um etwas Staub mit dem Seidentuch zu entfernen . . . ». . . aber ich habe die Person gestern abend entlassen. Es traf sich gerade so. Sie war frech und diebisch. Schließlich kann man auch im Restaurant essen. Und die Aufwartung wird Frau Kautz, die Frau von dem Schuster unten, gern besorgen!«

Das war ihr Papa? . . . der sonst einen eigenen Kammerdiener nur für sich und seine zahllosen kleinen Bedürfnisse brauchte? . . . Er, der Grandseigneur, in diesem Hause, von einer Schustersfrau gewartet . . .?

Sie stand auf. »Du hast wohl viel Geld verloren in letzter Zeit, Papa?« fragte sie verstört.

Der alte Herr nickte trübe: ». . . siehst es ja, mein Herzchen . . . siehst es ja! . . . Nun . . . zum Leben langt's ja noch . . . ich lass' dich jetzt allein . . .« er ging, wie um weitere Erörterungen abzuschneiden, zur Schwelle . . . ». . . wenn du fertig bist, so mache nur die Türe gerade gegenüber auf . . . da bin ich!«

Sie öffnete ganz mechanisch die kleine Reisetasche, die sie in der Hand vom Bahnhof mitgetragen, und nahm das Nötigste heraus. Viel zu machen war ja nicht, ehe nicht die Koffer kamen. Uebrigens . . . die Haushälterin schien recht kokett gewesen zu sein! Ein hübscher, spitzenumrahmter Frisierspiegel mit drehbaren Seitenkerzen . . . vornehm sah es ja nicht aus, aber es zeugte doch vom Streben nach Raffinement . . . Sie wunderte sich, daß sie das alles überhaupt merkte . . . in diesem Augenblick . . . aber sie fühlte sich wie betäubt . . . sie nahm die Eindrücke willenlos auf, wie sie kamen.

Es litt sie nicht in dem einsamen Zimmer. Nach kurzer Zeit trat sie gegenüber bei ihrem Vater ein.

Welch ein seltsamer Raum! Ein großer Tisch in der Mitte, ganz bedeckt mit allerhand Zeitungen, Papieren und Schriftstücken. Dazwischen eine Leimflasche mit einem Pinsel darin und eine mächtige Schere. Nebenan ein Papierkorb. An den Wänden schief festgenagelt die Bilder siegreicher Rennpferde, wie sie als Beilage in Sportblättern erscheinen. Sonst nur ein alter Lehnstuhl und ein Paar Strohsessel in dem von Zigarettendampf durchqualmten Gemach.

In diesem unwirtlichen Zimmer saß der Kammerherr an dem großen Tisch. Er hatte einen Fez schräg auf dem Kopf, die Zigarette schief im Mund und schrieb mit unsicheren zittrigen Zügen einen Bogen Papier voll.

Seine Tochter blieb an der Türe stehen.

»Was machst du denn da, Papa?« fragte sie scheu.

Der alte Herr drehte sich im Sessel um. »Ich redigiere, Kind . . . aber komm' nur näher! Du störst nicht. Es hat Zeit!«

». . . Ja . . . was redigierst du denn?«

»Da ist die letzte Nummer!« Er reichte ihr ein Heft herüber.

». . . Paprika! . . . Wochenblatt für Witz und Humor . . .« las sie . . . »und das gibst du heraus, Papa . . .?«

»Herausgeber bin ich freilich! . . .« Der Kammerherr legte die Feder beiseite und wischte sie mit einem Läppchen aus . . . ». . . aber der wahre Besitzer . . . das ist ein Geldprotze und Aussauger . . . ein Mensch namens Heinlein . . . ein Individuum, das überhaupt nicht orthographisch schreiben kann! Da muß ich schon einspringen und ihm die Sache deixeln . . .«

»Ja . . . zahlt er dir denn was dafür?«

Der alte Freiherr lachte dröhnend auf und stieß eine mächtige Tabakswolke in die Luft. »Ich soll's ihm wohl noch umsonst tun . . . diesem . . . ah . . . da ist ja die Frau Kautz!«

Eine ältere, sauber gekleidete Frau trat, ein Kaffeegeschirr in der Hand, ins Zimmer. »'Morjen ooch, Freilein!« sagte sie freundlich und wandte sich, ohne darauf zu achten, daß Thea ihren vertraulichen Gruß kaum mit einem hochmütigen Nicken erwiderte, zu dem Baron. »Draußen steht der Herr Steudel . . . der Tanzmaitre aus der Oranienstraße . . . und will 'rin . . .«

Der Kammerherr stand ärgerlich auf. »Trink' deinen Kaffee nebenan, Thea!« bat er, . . . »Es ist da ein Geschäftsfreund . . . ich muß ihn wohl empfangen . . . man hat ja keine Ruhe in Berlin . . .«

Damit schob er seine Tochter in den kleinen Nebenraum, der ihm als Schlafzimmer diente, stellte ihr den Kaffee hin und zog eine verschlissene Portiere vor die Tür.

Allein geblieben, sah sie sich in dem Kämmerchen um. Auch hier nur das allereinfachste Mobiliar . . . Bett . . . Waschtisch . . . ein paar Stühle . . . ein Kleiderschrank . . . knapp, was der Mensch zum Dasein braucht. Als einziger Luxusgegenstand ein zerlesener französischer Roman auf dem durcheinandergewühlten Bett.

Da klangen von innen Stimmen.

Durch eine Spalte in der Portiere erblickte sie einen bleichen, mit geschmackloser Eleganz gekleideten jungen Menschen. Sein Gesicht sah verlebt und vulgär aus.

Ihr Vater saß ihm gegenüber und rechnete. Einige Goldstücke lagen auf dem Tisch.

»Also zwanzig auf Kirawedda!« Er kritzelte in seinem Notizbuch . . . ». . . je zehn auf Sir John und The Screw . . . das ist für Ihre Damen . . . und für Sie selbst zwanzig auf Vesuvia Sieg . . . und fünfzig Goldelse Platz . . .« er zählte das Geld nach . . . »stimmt! . . . Machen wir, mein lieber Herr Steudell«

»Na . . . sehen Sie . . . da haben Sie gleich 'n paar Märker verdient . . .« lachte der Talmistutzer . . . ». . . unsere Damens sind gute Kunden. Verstehen nischt von Pferden und wetten wie doll! . . . Na, Mahlzeit, Herr Baron!«

»Mahlzeit, Herr Steudell«

Thea steckte ihren blassen Kopf durch die Portiere. »Papa . . . wer ist denn das?« fragte sie angstvoll.

»Das?« Der Kammerherr brummte etwas Unverständliches vor sich hin . . . ». . . ein reicher junger Bengel, Thea . . . interessiert sich für Rennen . . .«

». . . Ich dachte . . . er wäre Tanzmeister . . . oder so was . . .« stammelte sie. Aber ehe ihr Vater ihr noch antworten konnte, öffnete sich die Türe außen ohne vorheriges Anpochen, und ein gemeiner Soldat, der Musketier eines schlesischen Infanterieregiments, trat ein. Ohne seine Mütze abzunehmen, reichte er dem alten Herrn ein Zehnmarkstück und eine Anzahl Nickel mit einem Zettelchen hin. Der las es und nickte. »Zehn auf Eintracht . . . Gut, hier die Quittung, mein Lieber! Empfehlung an den Herrn Leutnant!«

Der Soldat ging. An der Türe stieß er mit einem vollbärtigen, anständig gekleideten Herrn zusammen.

»Ah . . . Herr Neubert!« Der alte Freiherr stand auf . . . ». . . na . . . haben Sie 'ne ordentliche Liste?«

»Hier sind die Namen!« Herr Neubert legte bedächtig ein Blatt Papier auf den Tisch . . . ». . . und hier das Geld . . . einhundertdreißig Mark! . . . Stimmt's? Dann bitte um Quittung! . . . Weiß Gott . . .« sagte er dann, während der andere eifrig zu schreiben begann . . . ». . . ich mach' nächstens meinen Zigarrenladen zu und ein Wettbureau für meine Kunden auf! Warum sollen Sie das schöne Geld allein verdienen?«

»Saures Brot!« tröstete ihn der alte Herr und schüttete Streusand über den Schein . . . ». . . so . . . Herr Neubert . . . na . . . und wie ist's denn? . . . Sie haben mir doch was für den schönen Tip neulich in Aussicht gestellt?«

Der Kaufmann lachte etwas gezwungen und holte ein Päckchen heraus . . . ». . . Rauchen Sie's mit Verstand. Es sind echte! Fünfundzwanzig Stück! . . .«

»Danke, mein Lieber!« Der Baron begleitete den Zigarrenhändler bis zur Türe . . . ». . . wenn ich 'mal den großen Schlag ins Kontor kriege . . . Ihnen gönn' ich 'nen Anteil! . . .«

Thea hatte die Portiere zurückgeschlagen und trat mitten ins Zimmer. »Papa!« sagte sie mit tonloser Stimme . . . »was sind denn das um Gottes willen alles für Menschen, die dir da Geld bringen?«

»Mir nicht, meine gute Thea!« Der alte Herr ließ sich im Fauteuil nieder und schob das Geld in ein Ledertäschchen, das er sonst unsichtbar unter der Weste um den Hals trug . . . ». . . leider nicht! . . . Das sind schlichte Leute, denen ihr Beruf keine Zeit läßt, auf die Rennbahn zu gehen. Wetten wollen sie aber, natürlich . . . nun! . . . da vertrauen sie ihr Geld einem zuverlässigen, erfahrenen Manne an, wie mir. Ich besorge ihnen das!«

». . . und nimmst Bezahlung dafür?« fragte sie schaudernd.

Er nickte melancholisch und fuhr mit der Hand über ihr schwarzes Seidenhaar. »Eine halbe Reichsmark . . . bis zu 'ner ganzen . . . je nachdem . . .« sprach er, ins Weite starrend . . . ». . . ja . . . so schlägt man sich nun eben durchs Leben . . .«

»Servus!« tönte hinter ihnen eine fettige Stimme.

Ein Kellner stand da . . . der typische Kellner eines Wiener Cafés. In tadellosem Frack und weißer Binde, das peinlich sorgsam gescheitelte und geölte Haupt ohne Bedeckung, so wie er eben über die Straße gelaufen sein mochte.

»Ah . . . Herr Joseph Meisinger!« Der Kammerherr legte zwei Finger in die dargebotene Rechte des anderen.

Thea traute ihren Augen nicht.

Da war das Unerhörte, das Unfaßbare geschehen!

Ihr Vater, der Freiherr Raban von Hoffäcker, fürstlich Rhenascher Kammerherr, Rittergutsbesitzer und Rechtsritter des Johanniter-Ordens, hatte einem Kellner die Hand gereicht!

Wenn das möglich war, dann konnte sich überhaupt alles ereignen; dann gab es keinen Halt mehr auf der Welt!

»Verzeihen's die Störung!« sagte inzwischen der Frackträger, ein paar Fünfmarkscheine in der Hand drehend, zu dem Kammerherrn, und warf einen schmunzelnden Blick auf Thea, die, ohne ihn anzuschauen, in das Nebenzimmer ging . . . ». . . ich wollt' nur fragen: haben's an guten Tip?«

»Für Sie selbst?« Der alte Herr runzelte die Stirne.

»Ja. Aber nur, wenn's auch wirklich was Rares is!«

»Geben Sie her!« Er nahm das Geld, steckte es ein und schrieb . . . ». . . Athanas ist 'ne gute Nummer. Und bringt Geld! Der Gaul ist vom Handicapper viel zu gelind angefaßt! . . . Da kann man noch was verdienen!«

»Dank' schön!« Der Kellner neigte sich vertraulich zu dem am Tisch Sitzenden herab . . . ». . . sagen's, Herr Baron! . . . Wie ist es denn mit meinem Privatkonto? Ich hab' doch die ganze Rechnung im Café die beiden letzten Wochen beim Zahlkellner ausgelegt, und amal muß ich's doch wieder . . .«

»In den nächsten Tagen, mein lieber Meisinger . . .« der Freiherr blätterte in anscheinender Zerstreuung in den alten Journalen auf dem Tisch . . . ». . . in den nächsten Tagen . . . heute . . . sehen Sie ja . . . bin ich sehr beschäftigt . . .«

»Alsdann . . . Servus!« Der Kellner entfernte sich mit einem nochmaligen zögernden Blick auf Thea, die nebenan am Fenster stand.

»Papa . . . bist du denn wirklich so arm?«

Ihre Stimme klang tränenerstickt, während sie mit beiden Händen angstvoll die zitterige Rechte des alten Herrn umpreßte.

Der wandte sich ab. »Ja . . . ja, mein Kind!« sprach er zögernd, »mit dem Wohlleben ist's nun freilich aus! 'mal hat man Geld . . . 'mal hat man keins . . . Das ist so der Lauf der Welt.«

»Aber früher hattest du doch Geld . . . viel sogar . . . wo ist denn das nur geblieben?«

Er ging langsam zum Fenster. »Weg ist es eben!« brummte er unsicher vor sich hin . . . »Zerronnen . . . wie . . . das weiß der Himmel allein.« Mit einem jähen Ruck fuhr er von der Scheibe zurück, und sein gutmütiges, würdevoll gedunsenes Gesicht verfinsterte sich.

»Verflucht« . . . knurrte er . . . ». . . mußte mich der Kerl auch gerade von der Straße sehen! Nun hilft's nichts. Nun kommt der Bandit herauf! . . .«

Und wirklich. Da klopfte es schon energisch an die Tür.

Es erschien Thea seltsam, daß gerade der Mann, der jetzt mit einem geschäftsmäßigen »Guten Morgen!« eintrat, ihrem Vater so unwillkommen war. Sah er doch weit anständiger aus als die bisherigen Kunden. Er hatte etwas von einem Militär a. D. an sich. Darauf wies auch der Schnauzbart in dem gesund geröteten Gesicht des in den Vierzigern stehenden Besuchers, der schlichte dunkle Tuchanzug und die Jovialität seines Auftretens.

Er ging wie ein alter Bekannter auf den mürrisch am Tische sitzenden und in Papieren stöbernden Freiherrn zu . . . »Na . . . wie ist's denn heute, Herr Baron?« erkundigte er sich; und ein vertrauliches Lächeln glitt über seine Züge . . . »heut' tu' ich gewiß keinen Fehlgang . . .«

Der alte Herr drehte sich im Sessel herum. Ein wütender Blick, wie der eines gehetzten Tieres, ein Blick, den Thea früher nie an ihm bemerkt, fuhr zu dem anderen hinauf. »Stellen Sie mich auf den Kopf . . .!« schnaubte er . . . ». . . was 'rausfällt, soll Ihnen gehören . . . nichts hab' ich . . . gar nichts . . . laßt mich armen, alten Mann doch in Frieden! . . .«

»Na, nur kaltes Blut,« lachte der unbekannte Mann . . . ». . . es geht ja nicht gleich um Kopf und Kragen! . . . Aber zahlen müssen Sie! Der Schneidermeister will seine 33 Mark und 59 . . . und ich . . .« . . . er schaute sich prüfend im Zimmer um . . . ». . . ich bin nu mit Gottes Hilfe wegen der Lumperei zum drittenmal hier!«

Der Kammerherr fing seinen Blick auf. »Bedienen Sie sich nur, Herr Wegener!« knurrte er höhnisch . . . ». . . Prüfet alles und behaltet das Beste! Tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären!«

»Ich danke!« Der Besucher schüttelte den Kopf . . . ». . . Da hab' ich's zu Hause doch gemütlicher!«

»Freilich! Zu Ihnen kommt kein Gerichtsvollzieher! Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus! . . . Na . . . haben Sie noch nichts gefunden? . . . Jawohl . . . da drinnen!« Er blinzelte listig dem ins Nebenzimmer tretenden Exekutor nach . . . ». . . jetzt brennt's . . . Dort halte ich mein Silberzeug versteckt!«

Aber der Mann des Gesetzes schien sich um den Hohn des Alten nicht zu kümmern. Man hörte, wie er drinnen ein paar Schubladen aufzog und am Bette kramte.

Thea starrte ihm betäubt nach. Also das war ein Gerichtsvollzieher! Sie hatte noch nie einen gesehen.

Da bemerkte sie, wie ihr Vater sich mit einem scheuen Blick auf den da drinnen in fiebernder Hast die Weste aufriß. Das Geldbeutelchen mit den Wetteinsätzen kam zum Vorschein und wurde von ihm an dem Bündchen über den Kopf gezogen.

Er steckte es ihr blitzschnell mit der einen Hand zu, während die andere die Weste, so schnell es ging, wieder schloß . . . »Tu's in die Tasche! . . . Und kein Wort davon zu dem Kerl! Verstehst du?«

Sie gehorchte mechanisch. Da erschien der Gerichtsvollzieher schon wieder auf der Schwelle.

Der alte Herr lächelte ihn freundlich an: »Na, Herr Wegener . . . Sie sehen: immer noch die alte, spartanische Einfachheit! Nichts als die paar Sachen, die das Gesetz uns läßt. Sie wissen . . . Paragraph 715 der Zivil-Prozeß-Ordnung . . . Im Schrank der gesetzliche, zweite Anzug . . . auf dem Tisch mein unpfändbares Handwerkszeug . . . Die Möbel im Hinterzimmer gehören, wie Sie wissen, meiner zurzeit auf Urlaub befindlichen Haushälterin . . . manifestieren will ich jeden Augenblick, wenn es dem Schneider Spaß macht . . . also grüßen Sie ihn von mir! Er soll nur geduldig meinen großen Schlag auf dem Rennplatz abwarten . . .«

»Da könnt' er wohl schwarz werden!« brummte der Exekutor . . . »bis Sie ihm freiwillig . . .« er unterbrach sich plötzlich und sprang auf den Flur . . . »ist der Koffer da für den Baron Hoffäcker bestimmt?« fragte er einen Mann, der eben eine Last auf den Dielen niedersetzte.

»Jawoll!« Der Mann nickte . . . »Von der Paketfahrt!«

Der Gerichtsvollzieher triumphierte: »Abgefangen!« lachte er und legte die Hand auf Theas Gepäck, wie um es zu verteidigen.

»Lassen Sie den Koffer!« fauchte der alte Herr wütend, indem er ihm auf den Flur folgte . . . »der gehört meiner Tochter!«

»Er ist an Sie adressiert!« erwiderte der ungebotene Gast kaltblütig . . . »geben Sie nur den Schlüssel her . . .«

Das Gesicht seines Gegners färbte sich dunkelrot vor Wut.

»Herr Wegener,« sagte er mit leiser, zornig zitternder Stimme . . . »wollen Sie etwa meiner armen Tochter, die eben in Berlin angekommen ist, ihre Effekten versiegeln? Das wäre denn doch . . .«

Der Gerichtsvollzieher hatte gleichmütig ein blaues Siegel hervorgeholt. Da trat Thea zwischen die beiden Männer. Sie nestelte etwas von ihrem Handgelenk los.

»Ich glaube . . . wenn man das Armband versetzt . . .« sagte sie schwer atmend . . . »der Erlös würde wohl genügen . . .«

Eine kurze Pause trat ein.

Der Exekutor zuckte die Achseln: »Ja . . . ich bin immer froh, wenn ich endlich bar Geld seh', mein Fräulein . . . das können Sie mir schon nicht verdenken!«

Der Freiherr kämpfte eine Weile mit sich. Dann ging er mit schweren Schritten, das graue Haupt von Thea abwendend, in das Hinterzimmer, riß das Fenster auf, und rief etwas in den Hof hinunter.

Gleich darauf polterte es auf der Treppe. Ein verschlagen aussehender Bengel, die eben abgestreifte, blutbespritzte Schürze noch in der Hand, trat ein.

»Höre, mein Sohn!« sprach der Kammerherr väterlich . . . »bitte Herrn Krause unten in meinem Namen, daß er dich auf fünf Minuten von euren Hasen und Feldhühnern wegläßt, erbitte dir ferner deine Klebekarte als Legitimation und trage dies Armband hier ins Leihhaus . . . du weißt . . . in der Jägerstraße . . . aber ordentlich Geld dafür . . . verstanden? . . . Dann setzt es eine fürstliche Belohnung . . .«

Der Bursche lief. Die beiden Männer gingen wieder nach vorn. An der Türe blieb der alte Baron stehen. Es zuckte und zitterte über sein gutmütiges, vergrämtes Gesicht. »Woher hast du denn das Armband, Kindchen?« fragte er mit schwankender Stimme.

Sie sah ihn nicht an. »Du hast's mir vor fünf Jahren zum Geburtstag geschenkt,« murmelte sie . . . »damals . . . in Rhena . . .«

Damals . . . in Rhena . . . War eine solche Wandlung möglich? Thea griff sich, als die beiden Herren sie allein gelassen, an den Kopf, als wisse sie nicht, ob sie wache oder träume. War dieser alte Mann, der in solcher Behausung, unter solchen Menschen ein trübseliges, bitterarmes Dasein fristete, war das ihr Vater, der frohgelaunte, glänzende Kavalier von einst? Vor anderthalb Jahren hatte sie ihn noch in solcher Gestalt gekannt. Was war inzwischen mit ihm vorgegangen? Und warum hatte man es ihr verschwiegen? . . .

Eine Viertelstunde verstrich.

»Det hat aber Pinke jejeben!« klang draußen in Frohlocken die Stimme des zurückkehrenden Fleischerburschen . . . »zweihundert Märker uff den Tisch des Hauses!«

»Schön, mein Sohn!« hörte sie den alten Herrn würdevoll antworten . . . »Hier ist eine Reichsmark . . . kauf' dir ein Rittergut davon . . . na . . . und Sie, Herr Wegener, zählen sich nun Ihr Sündengeld ab.«

»Morgen, Herr Baron!« Der Gerichtsvollzieher stieg die Treppe hinab.

Nun standen sie sich wieder allein in dem kahlen Zimmer gegenüber.

Der Freiherr schaute aufmerksam durch die Scheiben auf die öde Straße, über die sein ärgerlicher Besucher dahinschritt . . . »Hund!« knurrte er ingrimmig vor sich hin. Dann begann er mit zerstreutem Lächeln in seinen Taschen zu wühlen . . . »gib mir das Beutelchen wieder, Kind . . . so . . . danke . . . das ist nicht mein Geld . . . das darf nicht angerührt werden . . . und hier . . .« er brachte verlegen eine Handvoll Gold- und Silberstücke zum Vorschein . . . »das gehört natürlich dir!«

Sie starrte vor sich hin.

»Behalt' es nur!« sprach sie kurz.

»Na . . . ich heb's dir auf . . .« Ein merklicher Seufzer der Erleichterung kam aus der Brust des alten Herrn, und seine vornehmen Züge belebten sich, während das Geld in seine Tasche zurückglitt . . . »ja . . . schau . . . liebe Thea . . .« fuhr er nach einer Weile fort und ging unsicher im Zimmer auf und nieder . . . »du hast mich vorhin gefragt, ob ich denn wirklich so ganz arm sei. Als Antwort hat sich dieser Mensch hier eingestellt, dieser Bandit . . . dieser . . . nun . . . weißt du . . . bei wem der Gerichtsvollzieher Stammgast ist, das ist ein Mann, der alle Bitternis des Lebens kennt . . . und solch ein Mann ist dein armer, alter Papa geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben . . .«

». . . 'n bißchen viel Geld hab' ich ja immer gebraucht . . .« sprach er nach einer Weile und sah tiefsinnig das an die Wand genagelte Porträt der Stute »Wellgunde« an . . . »Deine Mutter auch! Du weißt . . . sie war 'ne halbe Polin, und in der polnischen Sprache gibt es, glaub' ich, überhaupt kein Wort für Sparsamkeit. Na . . . solange wir's hatten, ging das fidele Leben ja auch so weiter. Aber dann kamen die schlechten Zeiten . . . Schulden aufs Gut . . . immer mehr . . . die Landwirtschaft im Krebsgang . . . schließlich . . . so ein Witwer ist ja wieder ein halber Junggeselle . . . der lebt auch 'mal ein bißchen unsolide und nimmt nicht gleich Hut und Stock, wenn sie die Karten mischen . . . ja . . . und so kam es denn, und eines schönen Morgens war eben alles aus . . . alles«

»Ja . . . und der Herzog . . . und deine Freunde . . . und unsere Verwandten . . . die können dich doch nicht alle im Stich gelassen haben!«

»Doch, mein Kind!« Herr von Hoffäcker schüttelte den Kopf, und Theas ungläubiges Gesicht sehend, fuhr er bitter fort: . . . »ich hab' keine Freunde mehr . . . Niemanden auf der Welt . . .«

»Und ich . . . Papa?«

»Du . . . mein Goldkind . . .« Der alte Herr wandte sich ab und ein ersticktes Schluchzen kam aus seiner Brust . . . »Du hättest gar nichts von meiner Not erfahren sollen! Immer und immer wieder hab' ich dir geschrieben, du sollst in Posen bleiben! Sicher hättest du dort irgendeinmal einen wohlhabenden Mann gefunden, der dich liebt und den du aus Liebe heiratest, ohne zu ahnen, daß du so ganz arm und elend bist. Jetzt weißt du's! Und aller Frohsinn ist aus deinem Leben weg! Not und Sorge, die bei mir schon so lange wohnen, halten jetzt auch bei dir ihren Einzug, arme Thea . . . bei einem süßen Geschöpf wie dir, das so ganz auf Luxus und Zärtlichkeit angewiesen ist . . . dich davor zu bewahren . . . das war meine letzte Hoffnung . . . nun liegt sie auch auf dem großen Scherbenhaufen . . .«

Er verstummte. In leisem Rieseln begann draußen der Regen niederzuströmen.

Thea erhob sich bleich und fröstelnd. »Ich will mich jetzt ein bißchen schlafen legen, Papa!« sagte sie und reichte ihm die Hand . . . »ich bin recht müde von der Fahrt . . .«

Sie empfand eine grenzenlose Mattigkeit. Kaum, daß sie in ihrem Hinterzimmerchen, in das Frau Kautz den umstrittenen Koffer hineingeschafft, die Kleider abzustreifen vermochte. Dann fiel sie auf das Bett. Schlafen . . . schlafen . . . diese ganze Welt vergessen . . . weiter empfand sie nichts mehr . . .

Nach einer Weile hörte sie draußen auf dem Flur flüsternde Stimmen. »Holen Sie mir doch den Hutkarton 'raus, Frau Kautz . . .« tönte es hell und leise . . . »ich hab' ihn auf dem Schrank oben vergessen . . .«

Es klopfte. Thea riegelte die Türe auf und ließ Frau Kautz eintreten. »Sind das Sachen von der Haushälterin?« fragte sie.

»Ja«, sagte die Schusterfrau merkwürdig befangen und hob rasch die Pappschachtel herab . . . »Verzeihen Sie man, Fräulein . . .«

Da klangen draußen schwere Tritte, und gleich darauf die knarrende Stimme des Kammerherrn zu der Fremden im Gang. »Was machst du denn hier?« fragte er gedämpft und unwirsch. Ein warnendes »Pst!« zischte dagegen.

Frau Kautz warf einen ängstlichen Blick auf Thea und eilte, daß sie mit ihrem Hut herauskam. Dann wurde draußen alles wieder still.

Und ihr Vater sagte zu der Unbekannten »du?« Und im Zorn konnte er sie gestern wohl nicht entlassen haben, da sie heute ganz unbefangen wiederkam! Warum also? Offenbar, weil sie, Thea, ihre Ankunft gemeldet hatte. Da machte ihr die andere aus Gefälligkeit Platz! Aber warum mietete Papa sie, seine Tochter, nicht in einem Familienhotel ein? Ja so! Er hatte ja keinen Heller eigenes Geld! Er konnte ihr nichts auf der Welt bieten als diese armseligen vier Wände hier, aus denen er erst eine andere vertreiben mußte . . . eine andere, die er »du« nannte . . .

Ein entsetzlicher Schrecken erfaßte sie jählings . . . ein Drang, aus dem Bette zu springen . . . das Haus zu verlassen . . . davonzurennen . . . aber wohin? . . . um Gottes willen . . . wohin? . . .

Nein . . . es gab nur ein Land, in das man sich flüchten konnte, das Land des Vergessens, den Schlaf. Ruhig daliegen und nichts mehr sehen und hören . . . das war das beste. Sie würde frühzeitig genug auch noch das letzte erfahren, warum kein Mensch Papa in seinen Geldnöten geholfen – und was er eigentlich in diesem letzten Jahr getan – und wie er zwischen alle diese Leute . . . diese Zigarrenhändler und Kellner und Gerichtsvollzieher, geraten war . . . und warum er die Haushälterin, in deren Zimmer sie hier zu Gast war . . . warum er die duzte . . .



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