Rudolph Stratz
Arme Thea!
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Natürlich war der Bursche mit dem Koffer erst im letzten Augenblick gekommen, als schon der D-Zug leise und vorsichtig in die Bahnhofshalle glitt.

Eine Minute Aufenthalt gönnte sich der eilige Zug nur. Georg hatte gerade noch Zeit, sich sein Gepäck in den Wagen reichen zu lassen. Dann schnitt das wiederbeginnende Rasseln der Räder ihm das Wort vom Munde ab.

Wozu auch dem Burschen viel sagen! Der Lümmel und die andere Mannschaft der Schwadron erfuhr es zeitig genug, daß der Leutnant Textor »seinen Abschied genommen habe«.

Da stand er nun in dem engen Gang des Rauchwagens erster Klasse. Natürlich erster Klasse! Hauptsache war es von vornherein, sich die Lebenshaltung im großen Stil zu bewahren und dadurch vor der Proletarisierung zu schützen!

Wie immer in nächtlichen D-Zügen waren alle Kupees dicht verhängt und die Lampen verhüllt. Er stieß auf Geratewohl das nächste Abteil auf. Die eine Seite des dämmernden Raumes war leer. Auf der anderen lag ein undeutliches, in Tücher und Decken gewickeltes, tiefatmendes Etwas.

Es schien eine Dame zu sein. Und jedenfalls eine alte. Denn ein einzelnes junges Mädchen konnte man nicht wohl im Rauchkupee erster Klasse vermuten. Um sie nicht zu stören, löste er sich draußen auf dem Gang die Platzkarte. Dann ließ er sich am Fenster nieder.

Nacht ringsumher. Am Himmel die Sterne. Vorüberflitzende Lichtpunkte auf der Erde. Und eintönig, unermüdlich das Rasseln des Zuges, Rattata . . . Rattata . . . immer wieder . . . man konnte alle möglichen Worte und Melodien dem taktmäßigen Geräusche unterlegen, die dann in ewiger Wiederholung einschläfernd und gedankenlos ins Ohr drangen.

Da fuhr er nach Berlin . . . Wie würde er es verlassen? Die Nacht draußen sagte ihm nichts und stumpfsinnig stampften die Räder.

Vielleicht als ein großer Mann, den Kammerdiener drüben in der zweiten Klasse, neben sich den Sekretär, mit dem er in der Muße der nächtlichen Fahrt die wichtigsten Telegramme und Schriftstücke erledigt?

Oder als ein geschlagener Mann, der wie ein wundes Wild sich nur noch irgendwohin in die Einsamkeit flüchtet, um dort ungestört zu verbluten?

Oder gar nicht? Von Berlin zermalmt . . . aufgefressen . . . spurlos verschluckt? Das war wohl das Schicksal der meisten.

»Aber ich gehöre nicht zu den »meisten«, dachte der kleine Sportsman tiefsinnig . . . ». . . denn die meisten sind Esel, und ich glaube, doch über eine gewisse Gerissenheit zu verfügen. Neugierig bin ich jedenfalls, wie das nun wird!«

Und befriedigt lehnte er sich zurück, während draußen schon in raschem Grauen der frühe Sommermorgen tagte. Es wurde zusehends heller. Schon sah man die Lerchen sich über den Stoppeläckern wiegen und auf den hohen Getreidemieten in der Ferne lag schon ein Widerschein der in rötlichem Dunst am Himmel aufsteigenden Sonne.

Er blickte neugierig auf das schwer atmende Kleiderbündel ihm gegenüber. Einen gesegneten Schlaf hatte dies weibliche Wesen . . . mochte es nun jung oder alt sein. Um so besser! Wenn sie erwachte, brauchte sie wahrscheinlich tausend Dinge und noch ein paar dazu! Er mußte dem Kellner wegen des Frühstücks klingeln, dem Kondukteur mitteilen, daß das Rundreiseheft vorläufig nicht zu finden sei, den Plaidriemen zuschnallen, im Hendschel nach den Anschlüssen suchen . . . nein . . . schlafe du nur immer zu!

Da fuhr sie plötzlich mit einem Ruck empor und starrte fassungslos und erschrocken um sich, als begriffe sie gar nicht, wie sie eigentlich in diesen D-Zug geraten!

Donnerwetter, wie hübsch! Er hatte Mühe, seinen gleichgültigen Gesichtsausdruck zu bewahren.

Nein . . . nicht hübsch! Schön! . . .

Freilich alles andere, nur keine langweilige, regelmäßige Schönheit.

Dunkles, vom Schlaf verwirrtes Lockenhaar um ein schmales, mattgetöntes Gesicht. Ein schwermütiges Zigeunerin-Gesicht mit großen, verträumten Augen und rotgewölbten Lippen, . . . eine schlanke, mittelgroße Gestalt in tadellosem Reisekleid, lange zierliche Hände und Füße . . . und über dem Ganzen die schwer zu bestimmende, unmöglich nachzuahmende kühle Vornehmheit der großen Welt.

Eine Dame der guten Gesellschaft! Er lüftete mit einer Verbeugung seine Reisemütze.

Sie nickte kurz, fast ohne ihn anzusehen.

Dabei unterdrückte sie ein Gähnen. Dann dehnte sie sich, die Ellbogen fest an den Leib gepreßt und die Unterarme ausstreckend, mit hochgezogenen Schultern wie eine verschlafene Katze und stieß einen müden Seufzer aus. Ihre Blicke glitten auf kurze Zeit durchs Fenster, als wollte sie sehen, an welchem Punkt des deutschen Vaterlandes sie nun eigentlich sei, und blieben dann in kühler Frage an ihm haften.

Das hieß: Sie könnten mich jetzt eine Weile allein lassen, damit ich mein Haar ordnen, meine sieben Sachen zusammenpacken und meine Hausschuhe mit den oben im Gepäcknetz, blinkenden Stiefelchen vertauschen kann.

Er stand auf und ging hinaus.

Auf dem Gang war es ganz leer. Er lehnte sich ans Fenster und schaute, wie draußen auf den Aeckern die Hasen im Frühlicht ihre Kapriolen trieben.

Komisch, wie fidel einen doch gleich der Anblick eines hübschen Mädels stimmt! Georg fühlte sich jetzt bedeutend besserer Dinge . . . . . . Das heitert einen richtigen Kerl auf! der sagt sich: Solange so was noch ungeküßt auf der Welt herumläuft, liegt gar kein vernünftiger Grund vor, sich totzuschießen!

Hoffentlich fuhr sie bis Berlin! Sicherlich! Wohin denn sonst? Da blieb man noch ein paar Stunden zusammen. Das konnte sehr amüsant werden!

Er schob die Glastüre etwas zurück. »Darf ich eintreten?«

»Bitte!« erwiderte sie gelassen und wandte, wie um den Versuch eines Gesprächs abzuschneiden, den Kopf zum Fenster. Er sah nur mehr die schwarzgelockten, seidenschimmernden Haarsträhnen, die kurzgeschnitten den Nacken umspielten.

Nein. Jetzt sah er auch wieder ihr Profil. Schöne, festgeschwungene Linien . . . viel Energie darin . . . und doch auch Weichheit . . . etwas Verlangendes, etwas Schmachtendes. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt, während sie hinausschaute. Ob in Angst oder Trotz oder gespannter Erwartung, das ließ sich nicht erkennen. Aber irgendetwas ging in ihr vor und beschäftigte unausgesetzt ihr Inneres. Das zeigte auch das schadenfrohe Lächeln, das von Zeit zu Zeit verstohlen über die schönen Züge lief.

Sie seufzte wieder, nestelte ihre winzige Uhr los und zog, sie anblickend, ungeduldig die Augenbrauen hoch. »Zu dumm! Erst fünf Uhr morgens!« konnte man auf ihrem Gesichte ablesen. Sie schien es sehr eilig zu haben, weiterzukommen.

Ein Königreich für einen passenden Gesprächsstoff! Leicht war der nicht zu finden und mit einer einmaligen kühlen Ablehnung wahrscheinlich das Schweigen für den Rest der Fahrt besiegelt.

Da sah sie schon wieder auf die Uhr!

Der Zug lief in eine große Bahnhofshalle ein. »Acht Minuten Aufenthalt!« rief unten der Schaffner.

Die blasierten D-Zugfahrer rührten sich nicht, um auszusteigen. Sie hatten ja alles in ihren Wagen. Aber auf deren Gang entstand eine Bewegung. Eine Türe nach der anderen wurde von einem rasch näher kommenden Manne aufgemacht, und eine Stimme rief eine monotone Frage hinein, die, wie es schien, stets mit schweigendem Kopfschütteln beantwortet wurde.

Jetzt ging ihre Tür auf. Ein Beamter stand da, ein Blatt Papier in der Rechten. »Depesche für Fräulein von Hoffäcker«, sagte er in fragendem Ton.

Die junge Dame richtete sich auf. »Geben Sie her!« sprach sie gleichgültig und streckte die Hand aus . . . ». . . Ich bin Freiin Thea von Hoffäcker . . .« setzte sie, als der Telegraphenbote einen Augenblick zögerte, hinzu . . . ». . . Sie sehen ja da oben auf meinem Handtäschchen das T. und H. mit der Krone!«

Darauf erhielt sie die Depesche. »Hier!« rief sie, als sich der Mann schon wieder entfernen wollte, gab ihm eine Mark Trinkgeld und öffnete, ohne auf seinen Dank zu achten, das Papier.

Ihr Reisegefährte beobachtete sie dabei. Merkwürdig, wie kampflustig sie aussah! Die feinen Nasenflügel blähten sich und um die Lippen spielte ein Trotz, der jetzt, nachdem sie den Inhalt gelesen, in ein spöttisches Lächeln überging. Sie zuckte die schmalen Schultern, las die Depesche noch einmal durch und begann sie dann, mit offenbarem Behagen, in winzige Stückchen zu zerpflücken.

In diese Beschäftigung vertieft, bemerkte sie gar nicht, daß ein älterer, hochgewachsener Herr, der vom Bahnhof aus suchend durch den Gang geschritten war, bei ihrem Anblick stehen blieb und, den Zylinderhut abnehmend, eintrat.

»Nun . . . Gott sei Dank!« sagte er und hüstelte, wie um eine Verlegenheit zu verbergen . . . ». . . da sind Sie ja!«

»O . . . Herr Regierungsrat!« Thea erhob sich und streckte dem steifleinenen Herrn die Hand hin . . . ». . . So früh schon auf? . . . doch hoffentlich nicht um meinetwillen? . . . oder hat Ihnen mein Onkel am Ende wirklich telegraphiert?«

»Gewiß hat er das!« erwiderte der Bureaukrat . . . ». . . Da er aus Ihrem hinterlassenen Schreiben wußte, daß Sie sich in diesem Zug befanden . . . doch davon später . . .« er gab seinem hageren Leibe einen straffen Ruck . . . ». . . vor allem steigen Sie jetzt aus, Fräulein Thea, und begleiten Sie mich zu meiner Frau!«

»Ich? . . . aussteigen?« Thea schien verwundert . . . »ja . . . ich fahre doch nach Berlin!«

Der Fremde machte eine ungeduldige Handbewegung. »Liebes Kind . . .«, sagte er . . . ». . . Sie fahren nicht nach Berlin und nicht zu Ihrem Vater, sondern folgen den Leuten, die es wohl mit Ihnen meinen, nach . . .«

Sie setzte sich hin und lehnte träumerisch den Kopf in die Ecke. »Ich folge nicht . . .« sprach sie gleichmütig . . . ». . . ich denke nicht daran.«

Jetzt nahm der Regierungsrat seine starre Amtsmiene an: »Sie werden überhaupt nicht gefragt, Fräulein von Hoffäcker . . .«

»Oho!« Sie fuhr auf und sah mit blitzenden Augen zu ihm empor . . .

». . . Sondern zu Ihrem eigenen Besten vor der Fortsetzung dieser Reise bewahrt . . .«

Eine feine Zornröte begann sich über ihre schönen Züge zu breiten. »Wollen Sie mich etwa aus dem Wagen heraustragen lassen, Herr Regierungsrat?«

»Sie nicht! . . . Aber Ihr Gepäck!« erwiderte der alte Herr kaltblütig . . . »Ich hole meinen Diener vom Perron! Auf Wiedersehen!«

Er ging. Sie sah ihm einen Augenblick ganz fassungslos nach. »Das ist . . . aber . . . doch« murmelte sie verstört, und plötzlich gewann der Zorn in ihr wieder die Oberhand. Sie stand auf. »Mein Gepäck gehört doch mir . . .« rief sie entrüstet. ». . . Das brauch' ich mir doch nicht gefallen zu lassen! So ein Gesetz gibt es doch nicht, daß man plötzlich von fremden Leuten aus dem Zug gerissen wird . . .«

»Kein Schatten!« Der Ex-Husar sprang kampflustig empor . . . ». . . Wehren Sie sich, meine Gnädigste! Wehren Sie sich! Der alte Herr hat bitter unrecht!«

Sie wandte den Kopf zu ihm, ohne eigentliches Erstaunen über seine Einmischung. »Da kommt er mit dem Diener zurück!« sagte sie beklommen.

»Der Diener, dieser würdige Tapergreis, wird niedergeboxt . . .« Georg streifte mechanisch die Manschetten etwas zurück . . . ». . . wenn er auch nur von ferne mit Ihrer Bagage liebäugelt!«

Sie wehrte ihm ab. »Um Gottes willen keine Szene, solange es irgend geht! Es genügt schon, wenn ich nur irgendeinen Rückhalt hinter mir hab' . . .« Damit trat sie dem alten Herrn entgegen. »Also nun Scherz beiseite!« sagte sie freundlich lächelnd . . . ». . . ich steige nicht aus, gebe mein Gepäck nicht her und verteidige mich mit allen Mitteln! Die Beamten und die Mitreisenden –« ihr flüchtiges Auge streifte Georg – »werden mich schon schützen!«

Das ging dem alten Herrn denn doch über den Spaß. Er warf einen zweifelnden Blick auf den gichtbrüchigen Diener, der wehmütig den Graukopf schüttelte. »Reden wir vernünftig, liebes Kind!« sagte er . . . »Sie wissen . . . ich bin ein alter Freund Ihrer Familie . . . ich mein' es gut . . . also seien Sie offen: was wollen Sie denn nur eigentlich in Berlin?«

»Was ich will?« Sie machte große Augen . . . ». . . zu meinem Papa will ich! . . . Das ist doch mein natürliches Recht! Meinen lieben, dicken, alten Papa lass' ich mir nicht nehmen!«

Der Regierungsrat seufzte. »Sie haben doch auf seinen ausdrücklichen Wunsch vor anderthalb Jahren sein Haus in Rhena verlassen!«

». . . Und mich in Posen beinahe zu Tode gelangweilt! Kennen Sie Posen? Nein? Seien Sie froh! Aber meinen Onkel kennen Sie und die Seinen! Nun denken Sie mich in der Mitte dieser biederen Familie! Oh . . . es war furchtbar!«

»Und doch hat Ihr Vater Sie stets gebeten, dort zu bleiben!« wiederholte der alte Herr hartnäckig.

Sie seufzte: »Freilich . . . solange er auf Reisen war . . . das ganze Jahr . . . Aber jetzt ist er in Berlin. Jetzt such' ich ihn heim, er mag wollen oder nicht! Es war doch immer so lustig bei Papa! Denken Sie nur an all die fidelen Menschen in unserem Hause in Rhena . . . und die schönen Pferde . . . und das ewige Getümmel . . . das heißt doch noch leben . . . hingegen dort . . .«

Der Bureaukrat wiegte traurig sein Haupt. »Also das zieht Sie zu Ihrem Vater?« fragte er leise.

Sie lachte hell auf: »Ich will leben!« rief sie . . . ». . . ich kann doch nichts dafür, daß die Natur solch einen Springinsfeld aus mir gemacht hat . . . Sehen Sie mich doch nur an . . . sehen Sie mich an . . .« wiederholte sie flehend . . . ». . . und dann sagen Sie . . .«

»Ich sehe Sie ja an!« Der alte Herr schien halb ärgerlich, halb belustigt . . . »so unangenehm ist das ja nicht . . .«

». . . Und dann sagen Sie mir . . .« fuhr Thea unbeirrt fort: »ob ich zu einer biederen Hauptmannsfrau in einer kleinen preußischen Garnison passe? Nein . . . widersprechen Sie nicht . . . Heiraten sollt' ich in Posen! . . . Heiraten um jeden Preis! Deswegen wurde ich hingeschickt! Onkel und Tante waren darin zum ersten und letztenmal in ihrem Leben einig, daß ich vor Ablauf des Jahres unter die Haube müßte! . . . Gott . . . Anträge hatt' ich genug . . . sogar von einer Exzellenz . . .«

»Und Ihr Bräutigam?« fragte der Regierungsrat ernst.

Sie fuhr zornig auf. »Ich bin nicht verlobt! Der Hauptmann Klein hat mich beschworen, ich sollte wenigstens nicht gleich ›Nein‹ sagen. Gut. Den Gefallen tat ich ihm, sagte nicht ja und nein . . . und er sollte sich in vier Wochen die Antwort holen. Aus reiner Gutmütigkeit gab ich ihm die Galgenfrist, um ihn zu schonen! Und daraus machen Onkel und Tante eine Verlobung! Nur um mich zu zwingen! Aber das hat dem Faß den Boden ausgeschlagen. Eines schönen Abends das Kofferchen gepackt, ein paar Abschiedszeilen . . . und me voilà!«

Sie lehnte sich in dem Sitze zurück und sah ihren Gegner triumphierend mit gekreuzten Armen an.

»Und warum sollt' ich den Hauptmann Klein heiraten?« fuhr sie fort . . . ». . . weil er eine Menge Geld hat. Lieber Gott . . . ich bin doch auch 'ne gute Partie! Und Frau Klein! Ueberlegen Sie mal: ich soll Frau Klein heißen . . . und Hauptmannsfrau werden . . . mit 'ner Stube voll Kinder und dem Aerger mit dem polackischen Burschen und alle vier Wochen den Regimentskaffee . . . in der Mitte vom Sofa die Kommandeuse, rechts davon die Etatsmäßige, links die älteste Majorin . . . und ich bescheiden auf dem Strohstühlchen davor und warte, ob die Vogelscheuchen vom Avancement oder von den Dienstboten zu reden anfangen . . .« sie lachte hell auf, mit einem fröhlichen, sorglosen Kinderlachen . . . ». . . nein . . . mein gutes Onkelchen . . . wissen Sie, als kleiner Knirps hab' ich Sie immer so genannt, wenn ich auf Ihren Knien saß und aus Ihrem Schnurrbart Zöpfchen flocht . . . nein . . . Onkelchen . . . man muß die Menschen nehmen, wie sie sind. Wer Rasse im Leib hat, der geht in dieser lauwarmen Wohlerzogenheit dort zugrunde, und ich wehr' mich mit Händen und Füßen dagegen.«

Ihre Worte schienen doch einigen Eindruck auf den alten Herrn gemacht zu haben.

»Mein liebes Kind!« sagte er . . . ». . . ich bitte Sie nur um eins: fahren Sie mit dem nächsten Zuge weiter! Schenken Sie mir ein paar Stunden. Ich werde Ihnen dann . . . dann etwas erzählen, was ich Ihnen nicht so ohne weiteres sagen kann . . . Sie hätten es vielleicht schon früher wissen sollen! . . . Nun . . . das stand nicht bei mir! Jetzt aber . . .«

Sie schüttelte lächelnd das Haupt: »Den Kniff mit dem Aussteigen kenn' ich, Onkelchen! Aus den paar Stunden werden ein paar Tage, inzwischen kommt der Major aus Posen an . . . ich werde eingeheimst und die alte Misere beginnt von neuem . . . Nein . . . so leicht fangen Sie mich nicht. Ich fahre weiter . . . nach Berlin . . . zu Papa. Ich hab' ihm telegraphiert. Er erwartet mich jedenfalls am Bahnhof!«

Draußen ertönte das Abfahrtszeichen. Der Schaffner trat mahnend heran. Mit ihm Georg, der diskret das Coupé verlassen, aber draußen auf dem Gang doch jedes Wort des erregten Gesprächs gehört hatte.

Der alte Herr drinnen hatte beide Hände auf die Schultern des jungen, Mädchens gelegt und sah ihr traurig in das leichtfertig lächelnde Gesicht.

»Arme Thea!« sagte er leise . . . ». . . arme Thea! . . . Sie wissen nicht, wohin Sie fahren! Mög' es Ihnen so gut wie möglich ergehen! Es tut mir von Herzen leid, daß ich Sie nicht zurückhalten darf!«

Sie lachte mutwillig auf. »Sehen Sie . . . da scheiden wir doch noch als gute Freunde! . . . Und nun . . .« sie nestelte an den Knöpfen seines Rockes und sah mit strahlenden Augen zu ihm empor . . . ». . . nun gestehen Sie mir zum Abschied: Sie danken ja innerlich Ihrem Schöpfer, daß Sie mich Hurlebusch nicht ins Haus bekommen haben mit all dem Aerger drum und dran . . .«

Ein leises Zucken ging durch den Zug. »Mein Herr . . . ich muß dringend bitten . . .« Der Schaffner öffnete die Wagentür und ließ den alten Herrn samt dem wackeligen Diener hinaussteigen.

Thea schob das Fenster herunter. »Ich schreib' Ihnen einmal aus Berlin, wie mir's geht!« rief sie . . . ». . . und meinem Onkel sagen Sie, die Flucht wäre mir bis jetzt ganz ausgezeichnet bekommen!«

Der Zug glitt aus der Halle. Sie mußte den Kopf hereinziehen. Sich in dem Sessel zurückwerfend, schaute sie ihr Gegenüber an, und beide lachten unwillkürlich hell auf.

»Sind noch mehr Garnisonen unterwegs alarmiert, mein gnädiges Fräulein?« scherzte der Ex-Husar.

»Möglich wär's schon!« seufzte sie empört . . . ». . . das nennt man eine Reise mit Hindernissen!«

»Schneidig genommene Hindernisse! Und im Notfalle steh' ich im Hintergrund. Wenn eine unbefugte Dienerfaust Ihre Koffer anrührt . . . Tritt vor den Leib! Ab nach Kassel! . . .«

Der Kellner servierte den Kaffee. »Ich habe mir nämlich erlaubt, gleich zwei Porttonen zu bestellen!« bemerkte der kleine Sportsman bescheiden . . . . »Nach all den Aufregungen . . .«

»Danke. Ja.« Sie führte vergnügt die Tasse zum Mund. »Das heißt . . .« Ihr Gesicht wurde ernster, als sie die Schale wieder absetzte . . . ». . . Ich bin Ihnen doch eigentlich wohl eine Aufklärung schuldig . . . Sie haben da plötzlich einen Einblick in meine Familie und meine Angelegenheiten gewonnen . . .«

Er hielt es an der Zeit, sich vorzustellen, und reichte ihr, sich erhebend, mit schweigender Verbeugung seine Visitenkarte. Auf der stand freilich auch noch seine militärische Würde verzeichnet. Aber darauf kam es ja auch in diesem Augenblicke nicht an.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt und gab es ihm wieder. »Sie müssen ja allerhand denken, Herr Leutnant,« sagte sie, und es berührte ihn, während er sich setzte, ganz eigen, noch einmal, zum letztenmal, gerade von diesen roten Lippen als Leutnant angeredet zu werden . . . ». . . aber eigentlich ist die Geschichte ganz einfach. Ich war jetzt ein Jahr bei Verwandten in Posen und fahre, allerdings gegen deren Willen, zu meinem Vater, dem Kammerherrn und Rittergutsbesitzer Freiherrn von Hoffäcker zurück.«

Er verbeugte sich nochmals, um für ihre Vorstellung zu danken, und goß ihr das Kaffeetäßchen halbvoll.

»Das heißt . . . eigentlich . . .« fuhr sie fort . . . ». . . das Rittergut hat er verkauft . . . vor einem Jahr. Das war auch besser bei der jetzigen Notlage der Landwirtschaft.«

Er lächelte über den heiligen Ernst, mit dem sie das große Schlagwort des Tages aussprach. »Gewiß,« sagte er, . . . »ein Kammerherr hat ja in Berlin auch zuzeiten seinen Dienst!«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Preußischer Kammerherr ist Papa nicht. In Rhena . . . bei dem alten Herzog! Es ist ja eine kleine Residenz . . . so lustig wir auch da gelebt haben . . . Papa ist schon lange verwitwet . . . wissen Sie . . . und da ging es oft ein bißchen bunt bei uns zu . . . – nun . . . und der Herzog ist recht kränklich geworden. Da entschloß sich Papa, Rhena zu verlassen, ging erst auf Reisen und lebt jetzt in Berlin.«

»Ich gehe jetzt auch auf einige Zeit nach Berlin!« sagte Georg.

Sie lachte. »Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen! Das hab' ich Ihnen auf den ersten Blick angesehen, daß Sie ein Kavallerieleutnant sind, der nach Berlin bummeln fährt . . .«

»Also so unsolide sehe ich immer noch aus?« fragte der kleine Sportsman bekümmert.

Sie prüfte ihn und nickte dann. »Ehrlich gesagt: Ja. Recht unsolide! Aber was macht denn das? Ich nehm' es keinem Mann übel, wenn er sein Dasein genießt. Wir freilich . . . manchmal wünsch' ich mir, ich wäre ein Mann! Aber dann sage ich mir wieder: Gute Thea . . . dann wärest du ja ein solcher Bummelfritze geworden, daß es mit dir kein gutes Ende nehmen kann! Bleib' du, was du bist . . . 's ist besser! . . . Und nun lachen Sie nicht, sondern stecken Sie sich eine Zigarette an. Danach sehnen Sie sich ja doch schon die ganze Zeit!«

Er tat es, unter der Bedingung, daß sie einen Schluck Kognak in ihren Kaffee nehme. Das müsse so sein . . . nach einer nächtlichen Eisenbahnfahrt. Sie ließ es geschehen. »Wie das wärmt!« sagte sie, sich behaglich schüttelnd, und gab ihm sein Fläschchen zurück.

Er fand das auch. In lichtroten Strahlen fiel die Morgensonne auf den sauber gedeckten, kleinen Frühstückstisch. Unter ihm rasselten die eilfertigen Räder, die Sommerlandschaft draußen flog in blühender Pracht vorbei, der Kaffee dampfte, die Zigarettenwölkchen kräuselten sich darüber – und ihm gegenüber saß in dem behaglichen, glashellen Kämmerchen die schöne, seelenvergnügte Nachbarin – welch eine Torheit, diese Welt zu verlassen!

Wenn er nun den Leuten in der Garnison den Gefallen getan hätte! Dann mochte ihn jetzt wohl der Bursche finden . . . lang auf dem Boden ausgestreckt . . . mit geballten Fäusten und offenem Mund . . . und Blut ringsum . . . und Hirn, und in den Ecken kalter, stinkender Pulverqualm . . . äh . . . pfui! . . . Georg Textor streifte die Asche von der Zigarette und sah hinaus zu dem blauen, warmen Himmel, an dem in dunklen Punkten die Lerchen sich jubilierend schwangen.

»Was machen Sie denn für ein ernstes Gesicht, Herr Leutnant?« fragte sie über den Tisch herüber.

Er wich ihrem Blick aus. »Oh . . . ich dachte nur an etwas!«

»Denken Sie nicht zuviel!« lachte sie . . . »wofür sind Sie denn Husarenoffizier!« Sie hatte den Kopf etwas vorgeneigt, um ihm im Lärm des Wagens die kleine Bosheit mitzuteilen. Auch er beugte sich nach vorn. Ihre Stirnen berührten sich fast, während sie so im Sonnenschein dasaßen und sich allerhand harmlosen Unsinn mit ernster Miene erzählten. Namentlich der alte Regierungsrat und sein trübseliger Diener wurden im Laufe ihrer gegenseitigen Schilderungen zu wahrhaft ungeheuerlichen Figuren. Und dann lehnten sich die beiden wieder zurück und lachten hell auf, daß die verschlafenen, verdrießlichen Reisenden nebenan das lustige Paar beneideten. Unter ihnen aber donnerten die Räder ihr einförmiges »Rattata«, die Landschaft draußen flog vorbei, in rastlosem Laufe näherte sich der Eilzug Berlin . . .

* * *

Aus der Ferne winkten die Rennplätze von Hoppegarten und Karlshorst mit den Villen der Sportsmen, den Boxes und Häuschen der Trainer . . . Vorbei an Friedrichshagen . . . schon ragt da und dort aus dem flachen Ackerland der mächtige Bau einer Mietskaserne, aus dem Gewimmel schmutziger Fabrikdächer heben sich die ersten Schornsteine zu dem sich mehr und mehr umwölkenden Himmel. Windschiefe Bauernhütten, die des Abbruchs harren, säumen, von Nutzgärten umrahmt, den Bahnkörper, zwischen ihnen, sie fast mit ihrer Masse erdrückend, die Kolosse der Zinshäuser. Größer und größer wird ihre Zahl, sie schließen sich zu endlosen, einförmigen Straßen aneinander, die Fabriken rücken zusammen. Ueberall dehnen sich die schmutzigen Lagerplätze, die Bauflächen, die düstern Höfe. Ein Gewirr grauer Mauern, grauer Dächer, geschwärzter Schornsteine, erblindeter Fenster ringsumher, dazwischen in widrigem, schreiendem Kontrast die bunten Riesenflächen der Reklame-Plakate an fensterlosen Brandmauern. Die Sonne war hinter Wolken geschwunden. Farblos sah alles in der nüchternen, frostigen Morgenluft aus. Häuser und immer wieder Häuser, seelenlose, charakterlose Heimstätten für dunkle, unbekannte Massen, Bahnhöfe und Kasernen, Fabriken mit rauchigen Maschinensälen und ölig spiegelnden Tümpeln im Hof, halb unterirdische Grünkramkeller, zerschlissene Wäsche und dumpfiges Bettzeug an den Fenstern der Hinterhäuser, und auf den Straßen überall ein schwarzes Gewimmel, das hier die sich schwerfällig öffnenden Fabriktore, dort mit emporrollenden Holzjalousien die Kaufläden, da wieder die Lattenzäune der Neubauten verschlangen. »Arbeit! Arbeit!« schien es rastlos im Rollen des Zuges aus dieser grauen Welt zu klingen. Und »Not! Not!« tönte dumpf von der andern Seite das Echo dagegen.

Sie waren im Bahnhof Friedrichstraße. Thea schaute erregt durchs Fenster. »Da ist Papa!« jubelte sie, und dann förmlich, mit leichter Kopfneigung zu ihrem Reisegefährten: »Leben Sie wohl!«

Ein Dienstmann hatte ihr Gepäck gefaßt. Sie huschte hinter ihm her aus dem Wagen. Georg Textor wollte ihr nachsehen. Aber andere Kofferträger drängten sich herein, die Menschenmengen draußen fluteten und wogten, und trennend schob sich das Getümmel der Weltstadt zwischen die beiden.



 << zurück weiter >>