Rudolph Stratz
Arme Thea!
Rudolph Stratz

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VIII.

Regen . . . Regen . . . endlos triefender, rauschender Regen. Grauer Himmel über nassem Asphalt . . . ein Meer von grämlichen Regenschirmen auf den schmutzigen Straßen, Kälte und Feuchtigkeit überall . . . Thea wäre am liebsten zu Hause geblieben, als Herr von Hoffäcker sich am nächsten Tage zum Besuch des Rennens rüstete, den grauen Zylinder ausbürstete, einen Bleistift anspitzte und ein leeres Opernglas-Futteral umhing.

Aber sie wollte ihn nicht allein lassen . . . keine Stunde mehr . . . und schritt fröstelnd an seinem Arm und unter seinen Schirm sich duckend, zum Bahnhof Friedrichstraße.

Heute fehlte der übliche Faustkampf um die Coupéplätze. Die Extrazüge fuhren halbleer aus der riesigen, schiefgewölbten Halle weiter in die graue Welt hinaus. Selbst in den prunkvoll ganz vorne rollenden Sonderwagen des Union-Klubs schimmerten nur spärliche Uniformen und braungelbe Paletots und ganz vereinzelte Damenhüte.

Bei dem Hundewetter ging nur hinaus, wer mußte, ein fragwürdiges Häuflein, das schläfrig durch die regenblinden Scheiben auf die vorbeiziehenden Kartoffeläcker starrte. Freilich, an einem solchen Tage konnte man auch einen großen Coup machen! Der glatte, aufgeweichte Boden veränderte alle Chancen. Die leichtgewichteten Gäule hatten Oberwasser – es konnte eine ganze Reihe von Stürzen geben und unabsehbare Odds, wenn man den rechten Außenseiter traf.

Trübselig wateten die Gruppen mit hochgeklappten Rockkragen und gegen den Wind gedrehten Schirmen vom Bahnhof über den gelben Kiesweg durch das kümmerliche Stangenholz zum Rennplatz. Das helle Schmettern der Musik klang heute wie Hohn über die weite Fläche mit ihren hochragenden Tribünen, den Hürden und groben Hindernissen, mit ihren triefenden Busch- und Baumgruppen, dem dampfenden Wäldchen und dem künstlichen See, in dem die Ringe der Regentropfen durcheinanderzitterten.

Die paar hundert Menschen verloren sich fast auf diesem großen, unermüdlich von neuen Schauern überrieselten Raum. Da und dort zeigte sich ein Jockey, in seinem bunten Dreß so seltsam versprengt inmitten dieser farblosen Welt wie ein Kolibri auf der Lüneburger Heide, das eintönige Grau der Offiziersmäntel leuchtete in Gruppen auf, und als schwarze, braune und gelbe Punkte wanderte das Zivil fluchend und frierend über die weiten Rasenplätze und langen Kieswege dahin.

Selbst am Totalisator ging es schläfrig zu. Nur in langen Pausen klang sein Rasseln durch das einlullende Rauschen der himmlischen Flut.

»So schlägt man sich nun durchs Leben, mein Kind!« sprach Herr von Hoffäcker trübselig . . . ». . . man stapft in dieser Schlammbrühe umher, man sieht, wie unschuldige Tiere sich das Genick brechen, und muß das Geld von fremden Dummköpfen am Totalisator verspielen!« . . .

Damit näherte er sich einer der Drehtüren des Totalisators.

»Warte nur draußen, Thea! . . . Damen dürfen hier nicht hinein. Ich komme gleich wieder, sowie ich meine Aufträge ausgeführt hab' . . .« Und sinnend murmelte er, in sein Notizbuch blickend, vor sich hin: »I. Rennen, 2 auf die Drei, 1 auf die Sieben, 1 auf die Acht!«

Eben als er dem Beamten sein Ticket vorwies, stieß er auf einen kleinen, rundlichen Herrn, der nebenan aus dem Schalterraum trat.

»Ah . . .! 'Morgen, alter Baron!« sprach Herr Heinlein gönnerhaft und vertraulich, und dann leise, indem er ihn etwas beiseite zog . . . ». . . was machen Sie denn da wieder? . . . Einsätze für fremdes Geld? . . . Sie wollen wohl von der Bahn verwiesen werden? . . . und außerdem . . . Sie wissen . . . ich lieb' das nicht! Sie sind bei mir so gestellt, daß Sie's nicht nötig haben, sich nach einem solchen Nebenerwerb umzusehen . . . verstanden?«

Der alte Herr blickte hilfesuchend umher. Sein Auge fiel auf Thea, in deren Nähe sie getreten waren.

»Ja . . . allerdings . . . Herr Heinlein . . .« erwiderte er verwirrt . . . ». . . wenn Sie das so meinen . . . übrigens . . . darf ich vorstellen . . . Herr Heinlein . . . meine Tochter Thea!«

Thea neigte gleichgültig das Haupt. Der Herr mißfiel ihr.

Der aber stand ganz verblüfft und setzte nur zögernd den schwarzen Filzhut wieder auf. Alle Wetter ja . . . Wo hatte denn der Alte das Mädel aufgetrieben? Das war ja eine fabelhafte Ueberraschung.

Und das schlimmste dabei war: Herr Heinlein fühlte sich sofort unbehaglich, verlegen, wie noch jedesmal in den paar Fällen, wo ihn der Zufall mit Damen der höheren Gesellschaft zusammengeführt hatte. Ihre Väter, ihre Gatten und ihre Brüder, die imponierten ihm nicht im geringsten! Diese Kavaliere hatte der kleine fröhliche Herr seit Jahrzehnten in allen ihren Schwächen kennen gelernt.

Aber anders die Damen! Diese eigentümliche, liebenswürdige Kühle, diese selbstbewußte, lächelnde Ruhe des Salons, die wie ein zartes Parfüm sie umwehte, die erinnerte ihn immer, er mochte wollen oder nicht, an ein ziemlich dunkles Gewölbe mit Kaffeesäcken und Heringsfässern – und an einen jungen, blau und rotgefrorenen, von allen Seiten geknufften jungen Menschen, namens Heinlein, der dort seufzend erkannte, daß ehrlich am längsten währt, und sich nach einigem Besinnen dann für den kürzeren Weg entschied.

Also, wie gesagt, er war verlegen. Mit Cilli und Genossinnen – den Umgangston traf er instinktiv. Aber hier . . . nein . . . er wandte sich lieber an den Baron.

»Ein Hundewetter, mein lieber Hoffäcker!« sprach er, sich die Hände reibend . . . ». . . aber was soll man machen? An der Börse ist nichts los . . . die kleine Bluffpartie am Abend noch in weiter Ferne . . . 'n bißchen Aufregung braucht der Mensch . . . na . . . und da . . .« er lächelte Thea verbindlich an . . . ». . . da hab' ich nu eben so'n paar Kassenscheine auf Kirawedda gesetzt.« Thea schwieg.

»Was wollen Sie, Herr Heinlein?« seufzte ihr Vater . . . »Sie sind freiwillig hier draußen. Aber wenn ein alter Mann wie ich sich hier die Gicht holen muß . . .«

Herr Heinlein reckte sich auf, um den ihn hoch überragenden alten Herrn vertraulich auf die Schulter zu klopfen. »Brauchen Sie nicht mehr, Barönchen! . . . Sie bekommen eine jüngere Kraft zur Seite . . . eine Art Adjutanten . . . hähä . . .«

»Ja . . . und ich?« fragte Herr von Hoffäcker ängstlich.

Sein kleiner Brotherr warf einen verstohlenen Blick auf Thea. »Sie bleiben natürlich, Bester! . . . nur die grobe Arbeit wird Ihnen abgenommen. Ich hab' gestern durch Zufall einen frisch geschwenkten Leutnant getroffen . . . Sie kennen jedenfalls auch seinen Namen . . . Textor von den 22. Husaren . . . leidlicher Herrenreiter . . . überhaupt flotter Bengel . . . Das ist unser Mann . . . übrigens . . . da kommt er eben angestiefelt . . .«

In der Tat, . . . da bummelte der kleine Sportsman mißmutig, den schwarzen Hut ins Genick zurückgeschoben, die Hände tief in den Taschen des kurzen Paletots, mit aufgekrämpten Beinkleidern seines Weges und blieb dann verblüfft vor der Gruppe stehen.

Herr Heinlein stellte mit der ganzen scherzenden Eleganz des Weltmanns vor:

»Mein gnädiges Fräulein . . . ich präsentiere Ihnen hier Herrn Leutnant a. D. Textor, von dessen Heldentaten auf dem Turf Sie gewiß schon gehört haben. Herr Textor . . . Herr Baron von Hoffäcker! . . . Mögen sich die beiden Herren gut miteinander vertragen!«

Die beiden Redaktionskollegen des »Paprika« sahen sich an, lüfteten die Hüte und reichten sich stumm die Hand.

»Und nun . . .« Herr Heinlein kam nicht dazu, weiterzusprechen. Ein schrilles Glockenzeichen hallte über den Platz, und etwa zweihundert Schritt vor ihnen zog in feierlichem, stelzendem Gänsemarsch ein halbes Dutzend Vollblüter, von Reitburschen geführt und in dem winzigen Rennsattel bunt gekleidete, lauernd zusammengekauerte Zwerge tragend, quer hinüber zur Bahn.

»Donnerwetter . . .« rief, Theas Gegenwart vergessend, Heinlein . . . »sie kantern auf! . . . da muß ich doch . . .«

Und eilig lief er mit den andern, spärlich zerstreuten Turfbesuchern über den feuchten Kies um die Tribüne herum nach vorn.

Der greise Freiherr blickte ihm finster nach. »Verfluchter Sklavenhalter!« brummte er halblaut vor sich hin. Dann besann er sich plötzlich. »Ja so . . . meine Einsätze! . . . Das ist höchste Zeit!«

Durch die Drehtüre, die der Beamte schob, stürmte der alte Herr mit langen, zitterigen Schritten, unterwegs noch einmal seine Nummern und Zahlen murmelnd, auf die Schalterreihen zu.

Georg und Thea blieben allein.

Es war fast kein Mensch ringsum zu sehen. Nur ein Dutzend Beamte in den Totalisatorbuden, ein paar Türhüter am Eingang, einige Kellner und Mädchen im Innern des dunklen Tribünenrestaurants.

Alles andere hatte sich nach vorne gezogen – auch der Freiherr lief jetzt, ein Bündel Tickets in der Westentasche bergend, mit hochrotem Gesicht an ihnen vorbei zur Tribüne, von der in kurzen Pausen vereinzelte Flüche, Rufe und Gelächter das abermalige Mißlingen eines Starts verkündeten.

Und um sie her rauschte und rieselte eintönig der Regen über das weite, weite Feld.

Sie standen schweigend beisammen. Gleichsam beschämt, wie zwei Leute, die sich gegenseitig auf einer Lüge ertappt haben. Und eben darum doch wieder Bundesgenossen.

Gestern im Coupé – er als der feudale Leutnant Textor und sie die Tochter des reichen Kammerherrn . . . und heute . . . ja, da standen sie und mußten die Scherze eines Heinlein über sich ergehen lassen . . .

Wie blaß sie aussah! . . . Georg schaute sie mitleidig an . . . die letzten sechsunddreißig Stunden mochten das arme Mädel furchtbar mitgenommen haben.

Er mußte Gewißheit haben!

»Werden Sie Berlin bald wieder verlassen, gnädiges Fräulein?« fragte er leise und stockend.

Sie schüttelte den Kopf, daß die feuchten, dunklen Locken flogen und starrte auf den Boden, in dem ihre Stiefelspitze allerhand Furchen und Rinnen zog.

»Ich bleibe hier. Bei Papa. Er hat mich nötig! . . .«

Gott sei Dank! Es war Georg, als löse sich eine schwere Last von seiner Brust. Sie blieb hier! Er würde sie täglich sehen!

». . . Da Sie ja jetzt mit Papa das Blatt schreiben sollen . . .« sie hob den Blick nicht von der feuchten Erde . . . »so haben Sie ja gewiß schon manches erfahren . . . oder werden es erfahren . . .«

»Ich weiß alles, mein gnädiges Fräulein!«

Sie hob rasch den Kopf. Fragendes Erstaunen lag in ihren schwermütigen Augen.

Jetzt war die Reihe an dem früheren Husaren, sich in den Anblick des feuchten Kieses zu vertiefen.

»Ich habe Ihnen gestern meine Visitenkarte von früher gegeben,« murmelte er . . . »aber inzwischen . . .«

»Ich weiß! Herr Heinlein hat es eben erzählt!«

»Sehr freundlich!« Ein bitteres Lächeln umspielte die glattrasierten Lippen des Sportsmans . . . »und glauben Sie nun wirklich, daß jemand, der mit Schimpf und Schande aus seinem Beruf gestoßen ist, daß der zum Sittenrichter über andere taugt? . . . Ich glaub's nicht! Ich urteile über niemanden mehr ab, weder über Ihren Herrn Vater noch sonst wen!«

Thea nickte, schmerzlich die roten Lippen zusammenpressend, und beide schwiegen. Endlos rauschte und rieselte um sie der Regen und zuweilen klang das ferne Stöhnen des Windes über die Blachfelder herüber.

»Das ist alles so traurig!« sagte Thea endlich und schaute sehnsüchtig vor sich in die Weite . . . »so ganz anders als man denkt und träumt. Mir ist, als wäre mindestens ein Jahr vergangen, seit wir gestern zusammen nach Berlin gefahren sind.«

»Ja . . . das ist nun mal das Menschenleben!« meinte der kleine Herrenreiter bedrückt.

Das schöne Mädchen richtete sich auf und ballte in Ungeduld und Zorn die Hände . . . »Wenn das Leben so ist,« sprach sie rasch und finster . . . »so ganz grau und häßlich . . . dann hat es doch wirklich keinen Zweck! Dann ist es schon vernünftiger, man macht die Ofenklappe zu und legt sich schlafen . . . oder kocht sich Schwefelhölzchen, wie's die verliebten Dienstmädchen tun . . .«

Georg erschrak. »Aber mein liebes Fräulein!« er versuchte zu lächeln . . . ». . . aus Ihrem Munde solche Worte . . .«

»Haben Sie noch nie daran gedacht?«

Darauf konnte er nichts erwidern, sondern sah zur Seite, von wo eben durch den Wind und Regen wieder ein Glockenzeichen tönte. »Es geht los!« rief er . . . »das hat mit dem Start diesmal lang' gedauert . . .«

Sie blieb ruhig stehen. »Ach . . . lassen Sie doch nur die Pferde laufen . . . das kommt mir heute alles so töricht vor. Ich bin ja so tieftraurig . . .«

»Ich auch!« sprach er . . . ». . . und bei mir kommt noch das schlechte Gewissen dazu! . . . All meine dummen Streiche . . . zählen kann man sie überhaupt nicht. Eigentlich haben Sie ja ganz recht: Wer mir einen Groschenstrick und einen Kleiderhaken zum Aufhängen schenkt, der tut ein gutes Werk!«

Sie mußte unwillkürlich lächeln. »Wollen Sie denn nicht lieber in sich gehen und sich bessern?« fragte sie.

Der Sportsman nickte ernst und gewichtig. »Das will ich!« sprach er . . . ». . . nicht für mich selbst! Das wäre zu langweilig . . . sondern . . . hauptsächlich . . . um auch andern helfen zu können!«

»Ja . . . wem denn?«

Dir . . . du armes, süßes kleines Mädel! . . . Nein . . . das konnte er doch wohl noch nicht sagen . . . Er stockte . . . »Nun . . . Ihrem Herrn Vater zum Beispiel . . .« meinte er . . . ». . . dem könnte ich ja gleich ganz nützlich sein . . .«

Da ging zum erstenmal ein heller Schimmer der Freude über ihr blasses Gesicht. Sie reichte ihm die Hand.

»Wollen Sie das wirklich, Herr Leut . . . Herr Textor!«

»Aber gewiß . . . das tu ich! Darauf geb' ich Ihnen mein Wort . . . ja so . . . das hab' ich eigentlich nicht mehr . . .«

»Ich nehm's schon!« sagte sie schnell . . . ». . . und ich dank' Ihnen von Herzen! Der arme, gute, alte Papa! . . . Er hat ja keinen Freund mehr. Alle hacken auf ihn los . . . Alle . . .«

»Jetzt wird das anders!« rief der Ex-Husar eifrig.

»Ich weiß ja . . .« fuhr sie fort . . . ». . . es war nicht recht, was er getan hat . . . und er ist so schwach . . .«

»Schadet nichts! Sie stützen ihn rechts!«

»Und Sie links!« sagte Thea hoffnungsvoll.

»Und dann muß die Geschichte gehen!«

Ein freundliches, sorgloses Lächeln spielte dabei um seine Lippen. Sie schaute ihn an und lachte zum erstenmal wieder noch halb unter Tränen wie ein Kind.

»Wie tapfer Sie aussehen!« sprach sie herzlich.

Der zähe kleine Herrenreiter reckte sich unternehmend in die Höhe. »Bin ich auch, mein gnädiges Fräulein! Courage gehört zu den schönen Dingen, die einem eine hohe Obrigkeit trotz aller Anstrengungen nicht abknöpfen kann. Und ich besitz' 'nen ganzen Haufen davon!«

»Ich wollt', ich hätt' auch soviel!« Ihr Gesicht wurde wieder betrübt.

Der Sportsman tröstete sie, und es war ihm wohlig dabei zumut, als er sah, mit wie gläubigen Augen sie zu ihm aufschaute. »Ich geb' Ihnen davon ab! . . . soviel Sie haben wollen!«

»Ach ja!« sagte sie dankbar . . . ». . . ich brauch's . . . wegen Papa . . . sonst kann ich ihm nicht helfen . . .«

»Wir helfen ihm beide!« entschied Georg gewichtig . . . »Der alte Herr wird einfach von uns untergefaßt und mit sanftem Zwang auf den Pfad der Tugend geleitet! Und dazu . . .« . . . ein leichtsinniger Wagemut verklärte sein hageres Gesicht  . . . »dazu singen wir, wie's in der Operette heißt:

Trotz allem Pech ein lustig Lied!
Drum, Schicksal, schlag' nur zu!
Wir wollen sehn, wer eher müd' . . .«

». . .  Ich oder du!« ergänzte sie hell auflachend. »Das hab' ich in Posen auch gehört!«

Die beiden sahen sich fröhlich an, wie zwei gute Kameraden.

»Das ist nett!« sagte Thea . . . ». . . daß wir uns nun in dieser weiten Welt doch wieder getroffen haben! Nun fühle ich mich gar nicht mehr so allein!«

»Ich auch nicht!« sprach er und beide schwiegen. Der Regen rauschte um sie, von ferne stöhnte der Wind und ein seltsames, unerklärliches Bangen durchzog seine Brust.

Von der Tribüne her ertönte verworrener Lärm und ein Glockenzeichen.

»Kommen Sie!« Thea vermied es, ihn anzuschauen . . . »wir wollen nach vorn gehen.«

* * *

Dort war das Rennen gerade vorüber. Ein hagerer Jockey ritt an ihnen vorbei im Schritt auf dampfendem Roß durch den Regen. Vereinzelte Bravos begleiteten ihn auf seinem Weg zur Wage.

Aber die Mehrzahl der Besucher hatte sich nach vorn an die Barriere gedrängt. Dicht davor stand mitten auf der Rennbahn ein regloses Pferd. Sein rechtes Vorderbein war gebrochen, so daß der Huf und ein Stück des Sprunggelenks rechtwinklig abgeknickt auf dem Grase lag, nur durch das Fell mit dem Knochenende verbunden, auf dem das Bein ruhte.

Ein paar Herren standen daneben. Aus der Ferne kam ein Mann mit einer langen Flinte.

In dem Publikum herrschte ängstliche Aufregung. Namentlich unter den paar anwesenden Damen gebärdete sich die eine und andere ganz hysterisch, ließ sich auf einen Stuhl heben, sprang mit einem Aufschrei wieder herunter, als der Mann mit dem Gewehr hinter das Pferd trat, bedeckte die Augen mit den Händen und schielte doch wieder zwischen den Fingern gierig nach der Szene.

Jetzt krachte der Schuß. Der Gaul schwankte, fiel plump vornüber und begann sich schwerfällig hin und her zu wälzen, während eine dunkle Blutlache um seinen Kopf sich rasch vergrößerte.

Ein paar Minuten dauerte sein Todeskampf. Dann schleifte man den Kadaver etwas abseits, um ihn da, mit einem Tuch verhüllt, bis zum Schluß der Rennen liegen zu lassen.

»Nun ist's vorbei!« sagte Georg zu seiner Begleiterin, die sich umgedreht hatte, um die Hinrichtung nicht zu sehen . . . ». . . und ein schlechtes Hindernispferd weniger auf der Welt!«

»Ach . . . das arme Tier!«

»Gott! . . . Der Gaul hat's überstanden!« meinte der Husar kaltblütig . . . ». . . wenigstens kann ihn jetzt kein Mensch mehr piesacken! . . . Eigentlich müßte man von Staats wegen solch einen Kerl mit 'ner langen Flinte anstellen, der herumgeht und alle unnützen Individuen totschießt . . . nicht die Pferde . . . mein' ich . . . sondern die Menschen!«

Sie schaute umher: »Da hätte er wohl hier viel zu tun!«

»Gewiß! Wo er irgend 'nen Menschen mit 'nem Knax sieht . . . irgend 'ne verfehlte Existenz: ›Mein Herr . . . bitte, einen Augenblick stillzuhalten . . . und recht freundlich, wenn ich bitten darf!‹ Bums! . . . Da liegt der Kerl auf dem Rücken . . . ein unnützer Brotesser weniger, und der Mann mit der langen Flinte wandert weiter!«

»Und haben Sie keine Furcht, daß er auch 'mal zu Ihnen kommt?«

»Nein! Ich zeig' ihm dann den Herrn Heinlein! Dann rennt er und ladet doppelt, um ja nicht zu fehlen!«

Sie lachten beide, während sie, den Freiherrn suchend, über den zweiten Platz dahinschritten.

Da saß er, würdevoll wie immer, eine Tasse dampfenden Kaffee vor sich, in dem Restaurant des zweiten Ranges. Drei, vier zwerghafte Gesellen mit glattrasierten Gesichtern um ihn her.

»Jockeys!« sagte Georg stirnrunzelnd . . . ». . . ich mag mich nicht unter die Reitknechte setzen!«

Aber dann fiel es ihm ein, daß das ja nun zu seinem Beruf gehörte! Er ließ sich also etwas abseits von dem Tisch nieder, während Thea einen Stuhl herbeizog und fast hinter dem alten Herrn Platz nahm, der sie in seinem eifrigen Gespräch gar nicht bemerkte.

Die Professionals blinzelten wohl neugierig auf sie hin, und es ärgerte den Herrenreiter, ihre schöne, vornehme Gestalt den Blicken dieser vulgären, marktschreierisch gekleideten Gnomen ausgesetzt zu sehen, denen der bunte Seidendreß zwischen den Knöpfen des Paletots durchschimmerte und farbige Kappen die faltigen Gesichter überschatteten.

Angenehm war es immerhin, daß ihn niemand der Leute kannte! Er hatte seine Triumphe hauptsächlich auf den östlichen Rennplätzen gefeiert und war in Berlin ein seltener Gast gewesen. Und die Offiziere und Gentlemen, von denen sicherlich auch hier auf der Rennbahn mancher wußte, wer er war, die verirrten sich nicht auf den zweiten Platz und in sein plebejisches Bier- und Kaffee-Restaurant.

Die Jockeys nahmen denn von ihm auch weiter gar keine Notiz. Es herrschte ein starkes Gedränge an den paar Tischen, die in der windgeschützten Ecke standen, und alles saß kunterbunt durcheinander, Stalleute, Hoboisten der konzertierenden Militär-Kapellen, Zigarrenhändler, Barbierherren und andere zweifelhafte Turfagenten, Offiziersburschen, sogar ein paar kleinere Buchmacher, die ihren Lauerplatz an der schmalen Tribünenwand des Regens wegen verlassen . . . und mitten darunter sie – das schlanke, aristokratische Geschöpf in dieser rüden Umgebung.

Unwillkürlich suchte er sie mit den Augen. Ihre Blicke trafen sich . . . stumm und lang. Sie sah traurig aus. Ein bitterer Zug spielte um ihren festgeschlossenen Mund.

Er merkte wohl, warum! Es war kein Zweifel, daß der Freiherr, der ja selbst von Pferden nicht viel mehr als ein anderer vornehmer Mann verstand, in diesem Kreise von Professionals eine Art komische Figur war. Ja . . . vielleicht gab er sich absichtlich so, um zum Lohn hinter einige Stallgeheimnisse zu kommen. Jedenfalls erzählte er mit trockener Würde und unerschütterlichem Ernst allerhand ungereimtes Zeug aus Hof- und Kavalierkreisen und schien es gar nicht zu bemerken, daß ein paar rotbäckige Reitburschen an der Türe prusteten und die Jockeys am Tisch sich mit medisanten Galgenphysiognomien zuzwinkerten.

Georg konnte das nicht mehr vertragen. Er stand auf und ging hinaus, auf den ersten Platz zurück.

»Mahlzeit, Herr Leutnant!« redete ihn dort ein hagerer, gelblicher Mensch an und lüftete familiär den Hut . . . ». . . Platzwette . . . was meinen Sie? . . . Ich mach's billiger als der Totalisator. Von fünf Märkern aufwärts . . . weil Sie's sind!«

Der Herrenreiter erkannte ihn. Es war der von Lenski, den er gestern bei Cilli getroffen.

»Nee . . . danke!« erwiderte er und griff im Weitergehen flüchtig an den Hutrand. Da sah er Heinlein auf sich zukommen.

Der kleine Herr schaute nicht so rosig aus wie sonst. »Ewiges Pech . . .« brummte er Textor zu . . . ». . . für heut' hab' ich genug! Ich fahr' nach Haus! Erwarten Sie mich morgen bei dem Baron! Ich komm' so gegen zwölf bei ihm vor . . . muß 'mal visitieren! Ich glaube, der alte Gauner hat sich da in aller Stille ein komplettes Wettbureau eingerichtet, statt den ›Paprika‹ zu redigieren . . .« er blieb stehen und faßte Georg spielend am Paletotknopf . . . »sagen Sie mal, Verehrtester: ist das nun wirklich seine Tochter?«

»Gewiß!«

»Kennen Sie sie von früher?«

»Ich bin gestern im selben Coupé mit ihr nach Berlin gefahren!«

Herr Heinlein sah ihn einen Augenblick mißtrauisch an. »Süperbes Weib!« sagte er dann, während Georg nur mit Mühe der Versuchung widerstand, ihm eine Ohrfeige in sein glattes, rundes Gesicht zu versetzen – . . . ». . . schade! . . . schade! . . . Heute kann man nu jedenfalls gar nicht ran . . . der Baron sitzt mit ihr unter allerhand Volks auf dem zweiten Platz. Da darf ein anständiger Mensch wie ich sich gar nicht zeigen. Na . . . Morjen, mein lieber Textor! . . .«

Und herablassend grüßend schritt er dem Ausgang zu, wo das Glascoupé seiner harrte.

Georg sah ihm mit dumpfer Wut nach. Am liebsten hätte er diesem arroganten Halunken den ganzen Bettel vor die Füße geworfen. Aber Thea . . . nein . . . das ging nicht! Er mußte ausharren . . . um ihretwillen.

Da hörte er leichte Schritte. Sie stand neben ihm.

»Das ist eine abscheuliche Gesellschaft da drinnen,« klagte sie . . . ». . . und ein Englisch reden die widerlichen kleinen Menschen, das ich gar nicht versteh' . . . und Papa ist auch so . . . so seltsam . . .«

»Dafür ist Herr Heinlein weg!« tröstete sie Georg.

»Oh . . . wirklich?« Das schien sie zu freuen . . . ». . . ist das einmal ein unangenehmer Mensch!«

»Und dabei doch unser Brotherr!« sprach der kleine Sportsman traurig . . . ». . . ohne ihn müssen wir verhungern!«

»Schrecklich!« sagte Thea, während sie, als ob sich das von selbst verstände, wieder dem Eckchen hinter der Tribüne zuschritten, das jetzt, nach dem ersten Glockenzeichen des neuen Rennens, zu veröden begann . . . aber was soll man machen? . . . Ich erinnere mich: in Posen kam mein Onkel, der Major, einmal in ganz greulicher Stimmung nach Hause geritten. Er sei beim Manöver in den Wurstkessel hineingeraten! . . . Wie das zuging, hab' ich nicht ganz begriffen. Aber ich glaube, wir stecken jetzt auch in so 'nem Wurstkessel drin! . . .«

». . . Papa wenigstens!« plauderte sie weiter und ging vertrauensvoll neben dem neuen Freunde her . . . ». . . ich bin ja so glücklich, daß Sie mir dabei helfen wollen! Vor allem muß er das Trinken lassen! . . . Das ist gar nichts für einen alten Herrn . . . und dann überhaupt solide und sparsam werden und hübsch seine Ausgaben aufschreiben . . . denn wissen Sie, daß wir gestern für zwanzig Mark zu Mittag gegessen haben? . . . ist das nicht sündhaft? . . . und wenn möglich, sollte man es so einrichten, daß nicht mehr alle diese ungeschliffenen Menschen zu ihm auf die Stube kommen und ihm Geld zum Rennen geben! Viel schaut dabei doch nicht heraus . . . das kann man schon irgendwo anders anbringen! Denn . . . sehen Sie . . . einen gewissen Komfort muß Papa doch haben . . . ein alter Herr wie er . . . den müssen wir ihm verschaffen!«

Da . . . eben lief der greise, puterrote Freiherr an Ihnen vorbei. Er winkte ihnen mit der Hand flüchtig zu. Sein Gesicht war verdrießlich und aufgeregt, während er nach vorn eilte.

Thea wandte den Kopf etwas zur Seite. »Eigentlich . . .« sagte sie stockend . . . ». . . eigentlich ist es ja ganz unglaublich, daß ich Ihnen das zumute, sich für uns fremde Menschen zu interessieren oder gar uns zu helfen. Sie haben gewiß genug mit sich selbst zu tun!«

Er wagte es, ihre Hand zu ergreifen, und fühlte mit Freude, daß sie nur zögernd ihre Fingerspitzen daraus löste.

»Nein, mein Fräulein!« sprach er vergnügt . . . ». . . um mich selbst kümmere ich mich nicht! Ich hätte mich vorgestern abend auf allgemeines Verlangen totschießen sollen! Da ich aber eine dumpfe Empfindung hatte, als sei ich vorläufig keinen Schuß Pulver wert, so unterließ ich's und bin jetzt sehr froh darüber.«

»Ja . . . ich auch!« sagte Thea.

»Denn nun bin ich eben noch da!« fuhr Georg eifrig fort . . . ». . . und sehe, daß ich noch zu etwas auf der Welt nützlich sein kann. Das ist ein sehr angenehmes Gefühl, wenn man mal auch was für andere tut und nicht nur immer bei Sekt und Zigaretten sich selber pflegt. Man verdient's ja gar nicht. Und andere, die alles verdienten, die man auf den Händen tragen sollte, die haben's nicht! Ach . . . es ist eine verkehrte Welt!«

Sie wich seinem Blicke aus. »Wenn Sie mich damit meinen . . .« sagte sie langsam . . . ». . . also . . . das müssen Sie mir versprechen! Von mir ist überhaupt nicht die Rede! . . . nie mehr! . . . sonst geht's nicht!«

»Ja . . . ich versteh' schon!« Der Herrenreiter machte ein möglichst zerknirschtes Gesicht . . . ». . . Nur Papa! Papa muß auf den Pfad der Tugend geleitet werden. Und Sie schreiten als Wegweiserin voran! Denn ich . . . ich fürchte . . . ich fürchte . . . von selber find' ich ihn nicht!«

Sie lachte hell auf und nickte mit dem Kopf. »Das glaub' ich! . . . Ja . . . bemühen Sie sich nur, jetzt so scheinheilig auszusehen! Ich merk' schon, was Sie für ein Strick waren! . . . gestern schon . . . im Coupé . . . ich hab's Ihnen ja gesagt . . .«

»Vielleicht, wenn ich mir 'nen Vollbart wachsen lasse?« Der kleine Sportsman zweifelte . . . ». . . ich glaube, das und 'ne Brille . . . das gibt dem Menschen ein ganz kolossal solides Air!«

Aber dann plötzlich wurde er ernst. »Jawohl, Fräulein Thea,« sagte er . . . ». . . Sie müssen mir als guten Kameraden schon erlauben, daß ich Sie ab und zu zur Belohnung Fräulein Thea nennen darf . . . jawohl . . . ich hab' viel zu bereuen und gutzumachen . . . ebensoviel wie der alte Papa! Sie müssen da unser Leitstern sein, und wenn wir wirklich in diesem Leben noch einmal wieder solide, achtbare Leute werden, dann verdanken wir's Ihnen!«

* * *

Nun war der Sport bis zum vorletzten Rennen gediehen.

Vom Totalisator, an dem er, entgegen seinen ursprünglichen Vorsätzen, doch die Zeit über ein bißchen mitgewettet, trat Georg auf den Platz heraus und schaute mißmutig zu dem grauen, regenströmenden Himmel auf.

Er fühlte sich einsam und verlassen. Und der Turf interessierte ihn so gar nicht mehr. Ob da der bekannte Leibgardehusar, katzengleich auf seinen Gaul geduckt, aufkanterte, ob ein anderer Meisterreiter von den gelben Kürassieren hinter ihm in langen Sprüngen zum Start zog, daß die Erdschollen flogen, ob zwei, drei andere Ulanen und Dragoner elegant über die Tribünenhürde setzten, ihm war es gleich. Er sah ihnen mit dem scharfen Auge des Fachmanns nach, aber so ganz teilnahmlos, als trüge er gar keine Tickets auf zwei der Pferde in der Tasche.

Wo sie nur blieb? Vor jedem Rennen trafen sie sich bisher ohne weitere Verabredung in stillschweigendem Einverständnis hier hinter der Tribüne, und jetzt . . .

Ein kleiner Ulanenleutnant eilte in hastigem Sporenklirren an ihm vorbei zur Wage. Es war Herr von Wendelslohe, den er gestern unter den Linden hatte vorüberfahren sehen. Beim Anblick Georgs stutzte er. Dann ging er kühl und würdevoll, ohne sein rotbäckiges Kindergesicht zu verziehen und ohne seine Hand zur Mütze zu erheben, an dem entlassenen Kameraden vorbei, von dessen Schicksal er also offenbar inzwischen Kunde erhalten hatte.

Der sah ihm finster nach, und seine schmalen, bartlosen Lippen murmelten einen bösen Fluch.

»Da bin ich!« sagte Thea . . . »was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Hohe Zeit . . .« erwiderte der Exhusar melancholisch . . . »Hohe Zeit, daß Sie kommen und mich bessern! Eben hab' ich dem kleinen Wendelslohe . . . dem Ulanen da . . . gewünscht, er möchte sich das Genick brechen!«

»O pfui!« Sie rief das mit dem Ausdruck aufrichtiger Empörung.

»Ja . . . wenn Sie da sind, werd' ich wieder friedlich! Also der kleine Wendelslohe soll den ersten Preis kriegen . . . und alle weiteren Rennen machen . . . meinetwegen sogar den silbernen Schild und die Karlshorster Internationale . . . und eine Millionenerbin soll sich darob in das kleine Unwurm verlieben und . . .«

»Genug . . . genug!« sagte sie lachend . . . ». . . ich wär' schon früher gekommen . . . aber Papa hielt mich zurück . . . es waren da vorn ein paar Namen mit Kreide an die Renntafel geschrieben, und er konnt' sie nicht lesen! . . . ach . . . da vorn ist's häßlich . . . abscheuliche Menschen . . . und all die aufgespannten Schirme . . . da komm' ich mir ganz trostlos vor. Ich bin viel lieber hier!«

»Nicht wahr?« Georg sah ihr tiefsinnig in das blasse Gesicht . . . ». . . das Fleckchen Erde da gehört uns! . . . Es regnet zwar gehörig . . . der Wind pfeift um die Ecke der Tribüne, und der Kies unter unsern Stiefelsohlen ist naß wie ein Schwamm . . . aber es ist eben doch unser Buen-Retiro, und wir fühlen uns ganz warm und behaglich . . .«

Thea neigte das Haupt. »Schön ist's hier ja nicht . . .« sagte sie leise . . . »Aber die Welt ist ja überall grau und trostlos! Und hier ist man wenigstens beisammen . . . und fühlt sich geborgen, weil man einen Freund neben sich weiß . . .«

* * *

Sie sprachen jetzt nicht mehr viel, sondern gingen, in Gedanken verloren, ihr Plätzchen hinter der Tribüne auf und ab. Oben vom Dache tropfte das Wasser, der Regen rieselte eintönig, und von vorne klang das abgerissene Stimmengewirr, das den Verlauf des Rennens begleitete.

Jetzt plötzlich ein geller, hundertstimmiger Aufschrei . . . ein Chaos von Rufen, Fluchen, Fragen hinterher . . . ein immer wieder aufschwellender, angstvoller Lärm . . . das geübte Ohr des Sportsman unterschied sofort, was das bedeutete. Das war kein »Rumpler« – nach dem beruhigt sich das Publikum sofort wieder! – das war ein Sturz, ein schwerer Sturz!

»Da ist einer gefallen!« sagte er zu Thea . . . ». . . wir wollen nach vorn!«

Wendelslohe! . . . Der Name schlug ihnen sofort entgegen, als sie in die erregten Gruppen vor der Barriere traten . . . Wendelslohe! überall . . . »Zu kurz is der Schinder gesprungen . . .« brummte ein heiserer Baß . . . und dazwischen eine näselnde Stimme: ». . . dieser Karlshorster Sprung ist wirklich jemeinjefährlich!«

Der Leibgardehusar von vorhin flog, sich ab und zu kampfbereit im Sattel umdrehend, wie ein langer Feuerstreifen über die Gerade und durchs Ziel. Zehn Längen dahinter der Kürassier in sausendem Galopp . . . dann in kurzem Peitschenklatschen und Endgefecht um den dritten Platz die anderen Herren. Aber niemand achtete sonderlich darauf. Aller Augen waren auf die dunkle, sich rasch vergrößernde Gruppe in der Ferne gerichtet.

»Nun haben Sie's!« sagte Thea und heftete vorwurfsvoll die dunklen Augen auf den Freund.

Der zuckte die Achseln. »Ich kann doch nicht hexen!« meinte er kühl . . . ». . . wem's bestimmt ist, der fällt! . . .«

* * *

Da kam im Regenrauschen der Zug quer über das Blachfeld heran. Voraus ein Schutzmann hoch zu Roß, in seinen Mantel gewickelt und mit befehlender Handbewegung die müßig sich herandrängenden Neugierigen teilend. Dann ein Trupp von Sportsmen, ein paar Zivilisten, der Trainer, ein halbes Dutzend Regimentskameraden . . . und dann endlich eine Bahre, von vier Männern getragen. Auf ihr ein Haufen Tücher und Decken, und darüber, im Gleichschritt der Männer schwankend, ein wächserner Kopf, den Mund wie klagend halbgeöffnet . . . blutverklebtes Haar um die bleiche Stirne . . .

Der Zug hatte es eilig. Ueber die Bahn, über den Tribünenrasen, am ersten Platz vorbei, nach hinten in den Pavillon, wo schon alles zur Aufnahme der Verunglückten bereitsteht.

Eine lange, bange Pause entstand.

Dann kehrte Georg, der nach hinten gegangen war, frohlockend zu Thea und dem alten Herrn zurück.

»Es ist nicht so schlimm!« rief er . . . ». . . Schlüsselbein entzwei . . . ein bißchen Gehirnerschütterung . . . sonst geht's ganz gut!«

»Also keine Lebensgefahr?«

»Nein!«

»Gott sei Dank!« sagte Thea . . . ». . . und nun schämen Sie sich gehörig!«

»Nein!« Sein hageres Gesicht verzog sich in trotzige Falten . . . ». . . ich bin doch nun mal kein Säulenheiliger, sondern ein armer Teufel! Und wenn einen da so ein grasgrünes Bürschchen über die Achsel ansieht . . .«

»Wir find alle drei arme Teufel!« unterbrach ihn Thea ruhig . . . ». . . und wir müssen uns daran gewöhnen, daß man uns über die Achsel ansieht! Das ist's ja gerade, daß wir uns dadurch nicht verbittern lassen dürfen! Denn mit dem Haß und dem unterdrückten Zorn machen wir unser armes Leben ja nur noch ärmer. Nein . . . wir müssen es geduldig ertragen und uns sagen: ›Wartet nur! Wir werden schon wieder euresgleichen werden, und die Zeit wird kommen, wo ihr wieder den Hut vor uns abnehmt! . . .‹ Und nun, Papa . . . wenn du beim letzten Rennen doch nichts mehr zu tun hast, wollen wir nach der Stadt zurückfahren. Ich habe argen Hunger!«

* * *

Es war recht behaglich in der kleinen, bescheidenen Weinstube. Wenig Gäste, gedämpft flackerndes Gasglühlicht, ein gewandter Kellner, der geräuschlos die Reste des Mahles abräumte.

»So gut wie bei dem Mann unter den Linden gestern ist's ja nicht!« sagte Thea und trank vergnügt ihr Glas mit dem dünnen Mosel aus . . . »aber wenn ich daran denke: Zwanzig Mark! Es ist furchtbar! Die anderthalb Mark hier sind auch noch zu teuer. Von morgen ab essen wir zu Hause. Es wird schon gehen mit meinen Kochkünsten. Die ersten Tage mußt du eben Nachsicht haben, Papa! Und Sie, Herr Textor . . .« sie wandte sich ernst an Georg . . . »Sie täten besser, auch mit uns zu speisen! Ich rechne dann aus, was auf Ihren Anteil kommt – und Sie werden sehen, es wird viel billiger, als wenn Sie in die schlechten Kneipen gehen!«

»Aber gewiß, Fräulein Thea!« erwiderte der Sportsman fröhlich . . . »befehlen Sie nur immerzu! . . . ich gehorche!«

»Also abgemacht!« Sie klatschte vergnügt in die Hände . . . »Paß auf, Papa: jetzt fängt das neue Leben an! Also morgens stehen wir recht zeitig auf und frühstücken. Dann kommt Herr Texter, und ihr geht an die Arbeit. Ich mach' mich unterdessen im Haushalt nützlich, und vielleicht kann ich euch auch helfen. Dann, wenn das größte Tagewerk getan ist, geht's zum Essen . . . dann gegen Abend ein Spaziergang im Tiergarten . . . und dann lesen wir bei der Lampe zusammen ein Buch oder die Zeitung . . . denn zum Theatergehen . . . da langt's ja nicht . . . na . . .« sie schaute hoffnungsfreudig vor sich hin . . . »es wird schon werden!«

»Ja . . . mein Goldkind . . . ja . . .« sprach der alte Herr. Seine Augen waren feucht.

Georg räusperte sich: »Heute nehmen wir also gewissermaßen Abschied von der Vergangenheit, Fräulein Thea! . . . Das muß denn doch gefeiert werden . . . und da möcht' ich mir den Vorschlag erlauben . . .um die Sache würdig zu gestalten . . . wenn die Herrschaften ein Glas Sekt . . . ein letztes Glas Sekt mit mir trinken wollten . . .«

Thea sah ihn starr an. »Sie sind doch wirklich unverbesserlich!« rief sie entrüstet.

»Ein letztes Glas Sekt!« flehte er . . . »einen Satteltrunk, ehe wir ins Philisterland einreiten! . . . das müssen Sie mir erlauben!« und das verräterische Zucken ihrer Mundwinkel bemerkend, ersah er seinen Vorteil . . . »Sie sind ja selbst kein Philister . . . und Sekt trinken Sie gewiß auch gern! . . .«

»Ja!« sagte sie betrübt.

»Na . . . also!« Er rief dem Kellner und bestellte. Bald perlte und prickelte es vor ihnen in den geschliffenen Glasbechern, die klingend aneinanderstießen.

»Sind wir leichtsinnig!« seufzte Thea und wischte sich den roten Mund . . . »die reinen Eintagsfliegen! Ich merke schon: Wir geben heute wieder zwanzig Mark aus!«

»Aber dafür ist's doch nett!«

»Nett ist's schon!« sagte sie träumerisch . . . »ich wollt', es wäre immer so! . . . ich hab' eigentlich gar keine Lust zu arbeiten! Ich bin der geborene Faulpelz! Aber wie gesagt, es muß sein! Und morgen geht's los!«

»Jawohl, mein Kind!« Auf dem gedunsenen Gesicht des Freiherrn erschien ein kampfbereiter Zug . . . »Morgen!«

»Morgen!« wiederholte der Husar und lächelte verwegen. »Morgen fordern wir unser Jahrhundert in die Schranken!«

»Ja . . . und richtig,« Thea war etwas Neues eingefallen . . . »jetzt wollen wir einmal sehen, wieviel Geld wir beisammen haben! . . . sonst ist ja gar keine Ordnung möglich. Also du, Papa? . . . von gestern müssen doch noch hundert Mark mindestens übrig sein!«

Der alte Herr schluckte ein paarmal und sah schuldbewußt zur Seite.

»Eigentlich . . . Thea . . . mein Herz . . .« sprach er endlich stockend . . . »du darfst nicht böse sein . . . es ist nichts Rechtes mehr davon da! Weil . . . weißt du . . . ich wollte doch das Armband wieder einlösen. Und da hab' ich heute selbst am Totalisator gesetzt und . . . und es war eben ein Pechtag . . .«

»Aber . . . Papa!«

Sie sagte nichts weiter, sondern beherrscht sich. »Und Sie, Herr Textor!« wandte sie sich mit zückenden Lippen und halb erstickter Stimme zu dem andern . . . »Sie haben mir erzählt, daß Sie fünfhundert Mark haben . . .«

»Ich hatte sie . . .« der kleine Sportsman räusperte sich schuldbewußt . . . »ungefähr hundert davon hat der verfl . . . dieser angenehme Totalisator heute auch verschluckt!«

Jetzt aber warf Thea zornig den Kopf zurück, und ihre Augen sprühten.

»Hört mich an!« sagte sie leise und drohend . . . »wenn ihr so seid . . . wenn alles vergebens ist . . . mein heiligster Wille . . . und meine Bitten und Tränen . . . dann braucht ihr mich ja nicht . . . dann . . .« ihre helle Stimme schwankte, als glaubte sie selbst nicht an das, was sie nun sagen wollte, und verklang in Schluchzen . . . »dann geh' ich auf und davon! Zu den Verwandten! Dann könnt ihr allein hier fertig werden! . . . Aber ich weiß, was dann geschieht . . .« sie legt den Kopf auf den Tisch und weinte . . . »verbummeln werdet ihr . . . ohne Rettung . . . wenn ich euch nicht halte . . . Und statt mir ein bißchen dankbar zu sein, vergeudet ihr so recht unsinnig das schöne Geld . . . und lacht mich womöglich noch aus . . . da geh' ich lieber weg!«

»Aber Kind!«

»Aber Fräulein Thea!«

Die beiden verlorenen Männer tauschten einen stummen, angstvollen Blick und sahen dann wieder auf den schluchzenden Lockenkopf zwischen ihnen.

»Bleiben Sie bei uns, Fräulein Thea . . .« sagte Georg leise . . . »ich schwör' Ihnen: das war das letzte Mal!«

Und der alte Herr legte ihr zögernd und furchtsam die Fingerspitzen auf die Schulter: »Bleib' bei mir, Kind! Du bist mein Glück und Sonnenschein!«

Da hob sie den Kopf und lächelte unter den Tränen, die sie sich von den langen Wimpern trocknete.

»Also das war das letzte Mal!« sagte sie rasch . . . »ich halte euch beim Wort! Und nun wollen wir also rechnen: Sie haben noch vierhundert Mark, Papa hat nichts, mein Schmuck ist noch mindestens fünfhundert Mark wert. Da können wir also für den Anfang ganz gut leben!«

Georg hob sein Glas: »Also auf einen guten Anfang!«

»Und auf ein gutes Ende!« ergänzte sie.

»Von morgen ab wird ordentlich gearbeitet!« Der greise Freiherr ballte energisch die Fäuste.

»Geschuftet wird! . . . für diesen Heinlein! . . .« rief der Sportsman finster . . . »aber heute sind wir noch freie Männer beim letzten Glase Sekt!«

Die Gläser klirrten, und durch ihr Schwingen klang Theas helle Stimme:

»Beim letzten Glase Sekt! . . .«



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