Julius Stinde
Wilhelmine Buchholz' Memoiren
Julius Stinde

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Harz-Tage.

Was die Schleifmühlen mahlen und Erklärung der Volkspoesie – Wilhelmine am Rande des Verbrechens und auf der Kuppe des Ziegenkopfes – Von der Zahnradbahn und dem alten Archimedes – Von Quesenköpfen und der Hermannshöhle – Von der politischen Wildniß und den schönsten Rosen

Das kalte Thal nebst Zubehör war jetzt thiergartenartig menschenbelebt, die Saison und die Rosen blühten. Große und Klein erlabte sich an der Natur. Wo die Tannen so schlank, Busch und Baum so in Kraft, die Rosen in herrlichster Schönheit, da muß auch der Mensch in Frische gedeihen. Seinen Namen trägt es mit Recht das kalte Thal. War der Tag heiß, am Abend, sobald die Sonne zur Ruhe, zieht aus dem kalten Thal mild kühle Gebirgsluft in das Städtchen Harzburg und zu den Schlafstätten der Erholungssuchenden. Da ist denn die Nacht doppelt erquickend, wenn man an die Häuser Berlins denkt, die um Mitternacht noch mit ihrer am Tage aufgesammelten Sonnenwärme die Straßen heizen.

Zuweilen fuhren wir nach Ilsenburg und freuten uns in dem Garten des wohlbekannten Hotels ›zu den rothen Forellen‹ an den schönen Blumen und den wohlgepflegten Gemüsebeeten, fütterten die kleinen Fische in dem Teiche, auf dem man mit Schwänen um die Wette gondeln kann, besuchten das Ilsethal, wo des Abends im rauschenden Wasser immer noch Elfen und Nixen spielen, wie die Dichter sagen, und auch ich überzeugt bin; denn wenn sie sind, wo es zum Verweilen schön ist, müssen sie beim Ilsenstein und da herum sein.

Nach der andern Seite hin liegt das Okerthal, wohin der Weg durch einen Schnitt Hölle führt, solchen Gestank machen die Hüttenwerke mit Schwefel, Dämpfen, Flammen und Qualm. »Siehste und riechste,« sagte ich, »so ist es bei Teufels, bloß üppiger.« – »Mumpitz, der kocht auch schon mit Gas.« – »Beweise.« – »Weil der Fortschritt bereits bei Deibel ist.« – »O Karl, um eins bitte ich Dich: nimm Dir Schmolicke nicht zum Muster, das wäre die schrecklichste Folge des Stammtisches.«

Unser Kutscher hieß Wellner; wir fuhren gern mit ihm, weil er die Gegenden kannte und mit den Sehenswürdigkeiten auf Du und Du war. Er sagte, eine junge Fichte sei ebensoviel werth, wie eine herangewachsene Buche, für jede kriegte der Holzdieb dasselbe Strafmaß. Wir fragten ihn, was das für Mühlen wären, die von der Oker getrieben werden. »Das sind Schleifmühlen,« belehrte er uns, »die schleifen das Holz fein, woraus Papier gemacht wird.« – »Aha,« sagte ich, »die liefern Spielhagen das Papier, der schreibt den hölzernsten Stil im ganzen Reiche.« – »Hast Du darüber ein Urtheil?« fragte mein Karl. – »Urtheilt er über meine Leistungen, werde ich auch wohl die Freiheit haben, mich über seine zu äußern. Lies seine geschriebenen Knüppeldämme laut: nach einer Viertelstunde mußt Du zum Stotterdoktor. Uebrigens seine letzten Bücher gefielen mir am besten.« – »Also doch.« – »Die hab ich nämlich nicht gelesen.«

Man kann auch von der Kästenklippe und der Feigenbaumsklippe ins Okerthal gelangen nach Romkerhalle und dem Wasserfalle, es geht ziemlich steil hinunter. Karl wollte. Ich lehnte ab: »Das Hinauf macht mir allerdings an solchen Naturtreppen ohne Stufen keine Mühe, bloß hinunter sind meine Gehmuskeln das Abschüssige nicht so gewöhnt.« – »Ich glaube die Bergfeldten ist besser zu Fuß als Du.«

Ein Blick genügte – und er sah weg.

Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander. »Karl,« unterbrach ich die Gewitterstimmung, »Nichts täuscht mehr als weiße Strümpfe; in den modernen schwarzen mißt sich jede Andere mit ihr. Uebrigens geht sie Dich nichts an, sie heirathet nächstens und ihr Butsch hat ein schwunghaftes Armgelenk. In Deiner Stelle würde ich ihm nie ohne Salicylwatte nahen.« – »Hab' keine Bange. Wer mit mir anfängt, bleibt auf dem Verbandplatz.« – »Daß Du mir keinen Krodo mehr trinkst, Du wirst schon zu verwegen.«

Die Lebenslust war erwacht aus der Arbeitsmüdigkeit, befreit von der Stadtschwere und der Bazillenlähmung, der Harzzauber hatte sie erweckt wie der Prinz das schlafende Dornröschen, was neuestens dahin gedeutet wird, daß allzuviel spinnen, nähen und stricken ungesund und der Achtstundentag nothwendig ist. Dies nennen sie vernunftgemäße Erklärung der Volkspoesie. –

Mittlerweile war Theater gekommen, im Kursaal traten Kunstgrößen verschiedenen Kalibers auf, Kinderfeste amüsirten so die Kleinen wie die Eltern; Militärkonzerte lösten die Kurmusik ab und Reunions und Bälle gaben allen denen, die Sool- und Fichtennadelbäder brauchten, beste Gelegenheit, die wiedergewonnene Geschmeidigkeit und Ausdauerfähigkeit ihrer Tanzbeine zu prüfen. Den Glanzpunkt aber bildete das Rennen. Da ward es munter in Harzburg. Wir machten mit, nur war schade, daß mein Karl keinen hellen Rennanzug hatte. Einige liefen darin wie zweibeiniges Vanilleneis. In dem herzoglichen Gestüt zu Harzburg werden solche Pferde gezogen, die Preise gewinnen. Auf der Auktion wurden ein Jahr alte Füllen mit zwanzigtausend Mark bezahlt. Wir sahen die herrlichen Geschöpfe und auch bei Woldag Photographien der berühmtesten Renner, die nach Prof. Sperlings Oelgemälden aufgenommen waren, von dem auch die »fünf Sinne« gemalt sind, durch fünf Hundecharaktere dargestellt, die ja weltbekannt sind.

Diese eine Ecke des Harzes bot so viel, daß uns wenig Zeit für das übrige Gebiet blieb, als die Kur beendet war, aber ein gut Stück wollten wir noch haben, wenn auch der Rest für das nächste Jahr verwahrt bleiben muß. So fuhren wir denn in schmuckem Gefährt über die Plessenburg nach der steinernen Renne. Wo es steil wurde, machten wir es den Pferden leicht und schritten durch das Waldesgrün. An freien Stellen blühte Fingerhut, mitunter einzeln, und dann wie eine stilgerechte rothe Wachskerze, oft aber auf den Halden in dichten Massen wie an der Sonne ausgebreiteter Purpur des Bergkönigs.

Von dem tosenden Wasser der steinernen Renne konnten wir uns kaum trennen, es schäumte durch die Felsen und stürzte grünlich schimmernd in die Tiefe, floß wieder eine Strecke ruhig und ward dann wieder uneins mit dem Gestein, in steter Abwechslung ein unbeschreibliches Schauspiel der Natur. Wir gingen mit dem Gewässer hinab aber zahlreiche Menschen kamen die Pfade an beiden Seiten des Felsenbaches herauf, junge Herrchen und weißgekleidete Jungfrauen, dieweil es Sonntag war. Das sah lustig aus: die vielen geputzten Menschen in dem Tannenwalde, wie sie langsam rechts und links anstiegen und auch wohl stehen blieben, die wirbelnde Wasserschönheit zu betrachten, und wieder dem Wirthshause oben zustrebten, wo das Bier schäumte und eine Hornmusik blies! Sonnenlichter fielen auf Welle und Gischt, auf helle Kleider und farbige Bänder, auf frohe Gesichter mit frischen Wangen und leuchtenden Augen, umzweigt von Wald und Busch. Das war so sonntäglich. – »Karl,« sagte ich, »der Harz hat es in sich; man muß es nur gut treffen.« –

Wernigerode mit seinem alterthümlichen Rathhause, wo wie meist in Rathhäusern eine Trinkgelegenheit gastlich einladet, mit seinem Schloß, von dem man eine Aussicht hat, die das Herz weit macht, lag in Sonntagsruhe. Nur den mit Harzandenken handelnden Geschäften war Ladenöffnung gestattet. »Sieh,« sagte ich zu meinem Karl, »da liegt »Für gewöhnliche Leute« von Johannes Trojan im Fenster; das hast Du Dir immer schon gewünscht.« – Wir hinein und das Buch verlangt. – »Bedaure sehr,« wies uns der Mensch ab, »Bücher darf ich am Sonntage nicht verkaufen!« – »Auch keine Bibel; kein Gesangbuch?« – »Ich werde in Strafe genommen, nur Harzandenken sind gesetzlich. Wünschen Sie vielleicht diesen Kletteraffen mit Miniaturansicht vom Rathskeller?« – »Augenblicklich keinen Bedarf. Aber wenn ich in das Buch eine Widmung mit Erinnerung an Wernigerode schreibe, dann ist es doch ein Harzandenken?« – Er gab mir eine Feder, ich schrieb in das Buch: »Ihrem lieben Karl zur Erinnerung an Wernigerode im Jahrhunderte des gesunden Menschenverstandes,« zahlte die Silberlinge und nahm das stolze Bewußtsein mit, hart am Rande des Verbrechens den Pfad der Tugend innegehalten zu haben. »Was sagst Du dazu?« fragte ich meinen Mann. – »Herr Gott, wie ist Dein Thiergarten groß. Oder was meinst Du sonst noch?«

Am Spätnachmittag kamen wir in Blankenburg an. Wie hübsch, wie sauber, wie romantisch Kirche und Schloß auf hohem Berge. Zum Sonnenuntergang waren wir aber auf dem Ziegenkopf, von wo eine herrliche Schau auf die Stadt ist und auf den Brocken und Hexentanzplatz. Der Wirth dort oben hat die Kuppe des Ziegenkopfes käuflich erworben aber rund herum pflanzt der Fiscus Tannen an und wenn die nach etlichen Jahren hoch sind, dann adje Aussicht, und Blankenburg ist um einen Hauptanziehungspunkt so lange ärmer, bis nach vielen Jahren abgeholzt wird. »Was macht die Stadt dann?« fragten wir, »muß Bädecker die Aussicht streichen? Reisen die Fremden so lange nach der Schweiz? Denn der Fiscus hat statt des Herzens einen großen Tintenfleck, den rührt nichts.«

»Der Harzklub hat sich bereits der Sache angenommen,« hieß es, »der baut einen Thurm, höher als die Tannen und die Aussicht ist nicht ganz verloren.« – »Harzklub, was ist das?« – »Ein Verein, dem nicht ausschließlich Harzer angehören, sondern auch viele Freunde des Harzes in den Städten deutschen Landes, der sich die Aufgabe gestellt hat, durch seine Zweigvereine die Schönheiten des Gebirges zu erschließen und zu erhalten, dem Reisenden das Wandern zu erleichtern, ihn zu schützen, mit einem Worte, den Harz zu einem Naturgarten zu gestalten, wie ihn die weite Welt nicht zum zweiten Male aufweisen kann. Ueberall ebnet er die Wege oder legt neue an, über sechstausend wegweisende Schilder, mit der Tanne darauf, brachte der Harzklub an, gegen zweitausend Ruhebänke stellte er auf.«

»Viele Bänke, das ist wahr,« sagte mein Karl, »aber leider ist vor mancher, wo früher wohl eine Aussicht war, der Wald hochgewachsen, so daß man gegen eine grüne Wand sieht. Warum wird an solchen Stellen nicht zum Vortheil des Fremdenverkehrs gekappt?« – Sie sagten blos »Fiscus«.

»Man sollte denken, es wären genug Bäume im Harz, um einige der Ausschau zu opfern.« – »Fiscus.« – »Aussichten sind für den Harz doch so werthvoll, wie die paar Stämme, die sie verhindern. Ihretwegen kommen die Touristen. – »Der Harz macht mehr aus dem Fremdenverkehr als aus seinen Forsten.« – »Weiß das der Fiscus nicht?« – Sie zuckten die Achseln. – »Dann hat er wohl Tintenfässer statt Ohren,« entschied ich, »und kann nicht hören.«

Als es dunkelte, blitzten in Blankenburg in einem Nu die elektrischen Straßenlaternen auf. Das war hübsch, und als wir hinabgingen, leuchteten im Kraut am Wege Glühwürmchen. Das war auch hübsch. Wir hoben eins auf, setzten es auf das Uhrglas und konnten bei seinem Scheine die Zeit ablesen. So macht sich jeder Licht wie er es versteht. Mit und ohne Fiscus.

In dem Garten des »weißen Adlers« zu Blankenburg, der uns gute Herberge bot, steht ein merkwürdiger Baum, eine Eiche nämlich, die im Jahre 1871 die Franzosen gepflanzt haben, als sie ihre angenehme Gefangenschaft in Deutschland ertrugen. Denen hat es so ausgezeichnet in Blankenburg gefallen, daß sie dies grünende Andenken als Dankeszeichen hinterließen.

Mein Karl äußerte, die Franzosen wären an und für sich gar nicht so übel, bloß ihre Zeitungen taugten nichts, die hetzten und petzten und redeten ihrem nationalen Anmaßungsklapps zu Gefallen, woran sie alle mehr oder weniger litten. – »Wie schön, daß solche Verhältnisse bei uns nicht vorkommen,« freute ich mich. – »Wir sind bescheiden – kann man uns in Afrika Uebergriffe vorwerfen?« – »Wir haben keine Aufstachelpresse – wie wundervoll schläfst Du immer bei den Leitartikeln ein, und die Extrablätter, womit literaturverteilende Pennbrüder die Straßen rebellisch machen, sind ja meistens erlogen. Das arme Frankreich.« – »Aber warum schüren die Blätter denn immer Haß und Verachtung und Parteigeist?« – »Geld zu verdienen, Mienchen, um Geld dreht sich Alles.« – »Schade, daß ich kein Französisch kann, denen würde ich ihren Standpunkt klar machen und der ewige Friede wäre gesichert.« – »Recht so, die Waffen nieder und den Unterrock an. Heiliger Molke!« – »Karl, was willst Du damit sagen?« – »Daß wir an den Bahnhof müssen.«

In Harzburg hatte man uns schon von der hochinteressanten Harz-Zahnradbahn zwischen Blankenburg und Tanne erzählt, deren Idee von dem Schweizer Abt herrührt, die jedoch zum ersten Male vom Geheimen Baurath Schneider ausgeführt wurde, obgleich kein Mensch glaubte, daß sie ginge, und die Sachverständigen völliges Mißlingen prophezeiten. Denn wenn das Patent so vortheilhaft wäre, wie behauptet, hätten die Engländer es längst. Da die jedoch nichts davon wissen wollten, konnte es unmöglich taugen. Unter solchen Aufmunterungen eine neue Bahn zu bauen, dazu gehört Willenskraft und Ueberzeugung. Nun ist sie fertig und geht wie irgend was Altes von Archimedes oder so einem.

Wir hatten einen Herrn in dem Aussichtswagen, der Bescheid wußte. Diese Wagen sind nach dem Grundriß der Rheumatismuswagen unserer Berliner Pferdebahn mit Quersitzen und nach beiden Seiten offen, so daß der Blick in die Reize der Natur nur dann versperrt ist, wenn die Vorhänge gegen Regen zugezogen werden.

So lange die Lokomotive in der Ebene vorgespannt ist, zieht sie wie andere Dampfrösse auch, sobald aber starke Steigung beginnt, liegt eine dreifache Zahnradschiene zwischen dem Geleise und die Maschine fängt an doppelt zu arbeiten, wobei sie nicht schlecht poltert, denn es gilt einen ganzen Zug steilauf zu schieben über die Höhen. Wird die Strecke wieder ebener, hört die Zahnschiene auf und man fährt wieder wie sonst überall. Der Vortheil aber besteht darin, daß die Geleise nicht um die Berge herum geführt werden und weniger Tunnels nöthig sind. Dadurch wird der Weg kürzer und ist billiger in der Anlage, dieweil gradeaus klettern, wenn es auch langsamer geht, doch eher zum Ziele führt als Rascherfahren auf weitem Umwege. Die Hauptsache bei dieser Bahn ist das richtige Eingreifen des Zahnrades in die Zahnschiene, und das geschieht so einfach, als wenn sich ein paar vernünftige Menschen die Hand geben.

Als die Bahn sich über alle Erwartung bewährte, waren Alle mit einem Male klug und sagten, sie hätten vorausgesehen, wie es kommen mußte. Das hatten aber blos Albert Schneider und die Wenigen, die zu ihm hielten. Nach und nach stellten sich Engländer, Franzosen, Italiener, Schweizer ein, die Harzer Zahnradbahn zu studiren. Die Folge davon ist, daß nach ihrem Muster Bahnen in England und anderen Ländern, ja sogar in Indien gebaut wurden.

Solches vernahmen wir mit Vergnügen, als wir in den unverfälschten Morgenäther hineinfuhren und der Harz uns neue Bilder zeigte; es ist diese Anerkennung des Unternehmensgeistes und deutscher Tüchtigkeit in der That ein Glanz mehr für Blankenburg, das schöne.

Während wir fröhlich genossen, was sich den Blicken bot, und in gewissermaßener Erkenntlichkeitszufriedenheit hinnahmen, was in der Art der Verhältnisse begründet ist, konnte ein Mitreisender nicht umhin, sich wie ein Rohrspatz zu betragen. Wo die Lokomotive beinahe auf den Rücken fällt, kann sie doch nicht galoppiren. Er aber über Schneckenpost und vorsündfluthliche Beförderung geschimpft. Warum stieg er denn nicht aus und lief? Mußte die Maschine umgespannt werden, weil sie hinauf von hinten schiebt und hinabwärts voran bremst, damit solche Quesenköpfe ihren Deetz nicht in den Abgründen zerschmettern, er geschrieen: »Was ist das wieder für eine unglaubliche Halterei? Wird hier übernachtet?«

Und dabei wußte er doch nach dem Fahrplan, wann der Zug ankommt: nicht eine Minute früher oder später. Solche Kupeegenossen sind herbe und kann man den Schaffnern verargen, wenn sie kurzab werden durch höhnisches Gefrage? Wo wirklich Unzuträglichkeiten vorfallen: ran an das Beschwerdebuch, wenn es, was selten, noch vor Weiterfahrt des Zuges zu ergattern ist.

»Karl,« sagte ich, »der Mann leidet gewiß an der Leber; wüßte er von Krodo'n, wie würde er saugen, um sich von dem belästigenden Zustande zu befreien.« – »Nie; der gefällt sich darin. Und das sind die schlimmsten Narren, die ihre Kappe mit Bewußtsein tragen.«

In der Hochgegend, wo es ärmlich wurde, wo wenig wächst, aber Eisenerz gebuddelt wird, ging ihm das Redewerk wieder schmählich.

»Das sind nun die renommirten Harzscenerien. Solche Wüstenei. Nicht einmal eine anständige Feldblume.«

»Darf ich Ihnen einen Rath geben?« fragte ich, und ehe er verneinen oder bejahen konnte, empfahl ich ihm: »Werden Sie Harzklubmitglied und beantragen Sie, daß eigens für Sie Levkojen an der Bahn längs gesät werden, Dann haben Sie hoffentlich Ruhe und wir auch.« – So, das war leserlich.

Völlige Mundleiche war er dennoch nicht. Die Dampfglocke an der Lokomotive mißvergnügte ihn, obwohl sie, wie uns erzählt worden war, auch eine dortige, durch Beobachtung der Wind- und Druckverhältnisse gemachte Erfindung ist, und schon deshalb Anerkennung verdient. Warum blieb der Mann nicht in Blankenburg in der großen Nervenheilanstalt, die eigens wegen der kräftigenden Luft angelegt ist? Wie viel Nervenschwache es doch heut giebt. Früher, wenn der Mensch mit Sorge und Kummer kämpfen mußte, rief er den lieben Gott zur Hülfe und ward stark im Kampf. Jetzt wirft er die Flinte ins Korn und sich selbst dem Nervenspezialisten in die Arme, wobei Alkohol und Morphium helfen und die Ethik nichts ausrichtet.

In Rübeland nahmen wir Aufenthalt. Dort sind die Baumanns- und die Biels- und die neueste und beliebteste – die Hermannshöhle. Auch in Höhlen giebt es Novitäten.

Mit einem gut gemessenen halben Hundert forschungsbedürftiger Männlein und Weiblein, die sich auch einmal den Erdglobus von innen besehen wollten, wurden wir von einem Knappen, der einen ledernen Schniepel anhatte und eine grüne Kappe auf, hineingeführt. Aber die Kälte.

Im Urzustande sind Höhlen für das große Publikum ungenießbar und nur Bergleuten und Gesteins-Gelehrten zusagend, so aber, mit Gängen und Treppen und elektrischer Beleuchtung machen sie auch auf Nichtkenner einen wunderbaren Eindruck. Der Führer wies auf die Tropfsteine hin, die wie Kanzeln gebacken sind, wie Schweine, wie Köpfe, meistens jedoch wie zu weit durchgewachsene Petersilienwurzeln, ebenso weiß und länglich. Wer einen solchen Stein abbricht, muß fünfzig Mark Strafe bezahlen »und dieses,« sagte der Bergmann, »ist für das Vergnügen ein zu theurer Spaß, dafür kann man besseres haben.« In der Höhle sind viele ganze Bärenschädel gefunden, aber in der Verkalkung drin liegen noch Tausende von Höhlenbärenknochen durcheinander. »Es ist nicht anzunehmen,« sagte der Führer, » daß die Bären zu ihren Lebzeiten in der Höhle gelebt haben, sondern wie ein jedes Thier, wenn es den Tod fühlt, sich in einen verborgenen Winkel zurückzieht, so sind die Bären in diese Höhle gegangen, um zu sterben. Darum nennt man diese Ecke hier den Bärenkirchhof.« – Noch mehr wußte der Mann, vielmehr als ein Vergnügungsreisender an Wissenschaft ohne Ueberfracht in sich aufnehmen kann.

Meinem Karl war es höchst wissenswerth, daß aus der Rübelander Gegend und weiter hinter der Kalk gebrochen wird, mit dem man in Berlin jetzt vorzugsweise die Häuser mauert. Früher kam der Baukalk für Berlin viel aus Schlesien, aber seitdem die Zahnradbahn den Transport verbilligt, haben sich die Lieferungen verschoben. So ändert irgendwo eine Anlage das Geschäft an einem ganz entgegengesetzten Ende.

Auf dem Bahnhof zu Rübeland aßen wir trefflich zu Mittag. Der Gallige war abhanden gekommen; um so freundlicher lachten uns Tannengrün und Sonnengold zu. Mein Karl hielt einen Schaumwein vom Rhein hier angebracht, ich nicht minder. Das erste Glas galt dem Stück Erde, dessen wir so froh waren, dem Harz, das zweite dem Harzklub, dessen Wirken wir auf Schritt und Tritt zu unserer Annehmlichkeit empfanden.

»Man sieht, wie Großes im Stillen geschaffen werden kann,« sagte mein Karl, bevor wir anstießen, »wenn Viele einig sind und sich nicht durch Parteihader gegenseitig hemmen. Hier wollen sie, daß der Harz sich nach jeder Richtung vervollkommne und sie erreichen es; wollte Gott, im großen Vaterlande nähmen alle, die das Wort führen, sich das Bestreben dieser Männer zum Vorbild und schüfen aus der politischen Wildniß einen wonnigen Garten, ein hohes, großes, unantastbares Deutschland. Die Väter des Harzklubs H. C. Huch und Geheimrath Albert Schneider sollen leben.« – Wir stießen an, und wie!

Die folgenden Gläser leerten wir auf das Wohl lieber, freundlicher Menschen, denen zu begegnen wir das Glück hatten. Wir gedachten ihrer mit innigem Danke.

Dann holte der Zug uns ab und nach einigen Tagen waren wir wieder in Harzburg. Ob ich auf dem Brocken war, das laß ich Onkel Fritz rathen.

Wir mußten wieder in die Heimat, die Ferien waren um. Goslar hätte ich gern noch zum zweitenmal gesehen, die Kaiserstadt, wo der wahre alte Kaiserstuhl ist, den sie im Jahre 1809 einem Klempnermeister Namens Mäveres für siebenundzwanzig Thaler zum Einschmelzen verkauften. Zufällig kam der einstige Thron in Kennerhände, denen Prinz Karl ihn für dreitausend Mark abkaufte. Jetzt steht er an seiner alten Stelle im Saale des wiederhergestellten Kaiserhauses, den Prof. Wislicenus mit Wandgemälden schmückt.

»Kannst Du Dir vorstellen, wie es in und mit Deutschland aussah,« fragte mein Karl, »als sein Kaiserthron an Klempner Mävers verschleudert wurde, weil Niemand darnach fragte und Leute ihn hatten, die weder seinen Metallwerth noch seinen Kunstwerth, geschweige seinen Würdewerth kannten? Wo war das einstige große deutsche Reich? Zertreten und vergessen. Da kam Einer und fügte es wieder mit Blut und Eisen und es war ein Hoher, Edler, Großer, dem Gott die Kaiserkrone bestimmt hatte, Wilhelm der Erste, der Hohenzoller. Nun wird das Reich bleiben, der Hohenzolleradler hat scharfe Fänge.« –

Für den letzten Nachmittag hatte wir denn dem Burgberge unsern Abschiedsbesuch zugedacht. Als ich zum Gärtner ging und Harzburg noch einmal durchwandelte, hörte ich aus einer Villa Harfenklänge, denen ich schon öfter gelauscht. Warum wird einem immer das Herz schwer gemacht, wenn man abreisen muß?

»Was willst Du mit den Rosen?« fragte mein Karl, als ich ihn abholte. – »Ich fand sie so schön,« antwortete ich. – »Nie sah ich köstlichere,« gab er mir Beifall.

Wir stiegen hinan, nicht den leichten Weg, sondern den mühevolleren über den kleinen Burgberg; wir konnten jetzt klettern wie in Freiheit dressirte Gemsen. Und oben schlossen wir alle Lieblichkeit und Schönheit, die sich dem Auge bietet, noch einmal so recht fest in uns ein.

Dort, wo der Blick ungehindert ist, oben auf dem Burgberg, nahm ich die Rosen und streute sie in das Grün des Abhangs hinab. Mein Karl sah mich verwundert an, ich aber sprach: »Mir hat es Herr Pastor Eyme gesagt, der so hübsche Sachen in der Harzer Mundart schreibt, daß einst ein Göttinger Student sich auf dem Burgberg verlobte und das muß an dieser Stelle gewesen sein nach meiner Meinung, weil er von hier in das deutsche Land hineinsah, das er zur Größe führte, weil er es liebte mit aller Kraft. Der Student war Otto von Bismarck; die Rosen streue ich seiner Johanna, die ihm unwandelbar blieb in Liebe und Treue.«

 


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