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Familien-Eigenthümlichkeiten – Warum Wilhelmine hopst und Dr. Wrenzchen Sherry auffährt – Von der ärztlichen Konkurrenz und einsichtsvollen Männern – Von der Beschwerdecommission und den Millionärhaften – Warum die Enkel belohnt werden und Fritz ein Lazarus ist – Wer hat die Schuld? – Von höherem Benehmen – Wie Wilhelmine Räthin werden möchte und selbst in den Vorkostkeller geht – Von den Manieren der Vorsehung
Wir sind ja schon gewohnt, daß mein medizinischer Schwiegersohn auf seinen Geburtstag keinen hervorragenden Werth legt und selbst Emmi ihn nicht dahin bringen kann, diesen Tag durch eine kleine Mehrleistung vor den übrigen auszuzeichnen. – »Unterstreichen Sie ihn meinethalben so dick im Kalender, liebe Schwiegermutter, wie Sie wollen,« entgegnete er auf einen mit dem zartesten Tulpenstengel verabreichten Wink, »ins Haushaltungsbuch kommt er mir nicht.« – »Wer spricht denn von dick? Sie sollen nicht vergeuden, blos Ihren Geburtstag festlich begehen.« – »Das ist nur äußerlich.« – »Aber was reden die Leute?« – »Was sie immer reden: Blech. Spart Einer sein Geld, nennt er sich ökonomisch, macht ein Anderer es ebenso, schilt er ihn geizig. Wirft Einer sein Geld weg, dünkt er sich generös, thut’s ein Anderer, schilt er ihn Verschwender. Ich denke daher, Jeder macht es so, wie er will.« – »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, aber auch manchmal seines Nächsten Hölle, aber auch manchmal seines Nächsten Hölle,« sagte ich ohne weitere Betonung, wie man so Sprüche der Weisheit fallen läßt. – Er wandte sich um und sagte: »Liebe Schwiegermutter, ich habe nicht für mich allein, sondern auch für Andere zu sorgen, und da Sie für alte Schnäcke zu schwärmen scheinen, will ich Ihnen einen sagen, der mir des Behaltens besonders werth erscheint; der lautet: fette Küche – mageres Erbe.«
»Und ich weiß einen, der heißt: es ist nichts trauriger, als wenn reiche Leute kein Geld haben.«
»Das trifft mich leider nicht,« sagte er. »Wäre ich reich, ich ließe Sie in pures Gold fassen.«
»Und dann versetzen, und den Pfandschein verlieren,« lachte ich. »Nein, so leicht werden Sie mich nicht los.« – »Damit wäre mir keineswegs gedient,« entgegnete er.
»Sie hätten leicht eine schlimmere Schwiegermutter kriegen können,« beendete ich wohlwollend das kleine Scharmützel, wie wir solche von Zeit zu Zeit kämpfen. Ein Schwiegersohn muß mitunter ins Manöver, sonst artet er aus und verliert den Apell gänzlich.
Meine Tochter Emmi hat die Zügel schon zu locker gelassen, er war auch zu sehr an ungebundene Junggesellenfreiheit gewöhnt, ehe er in unsere Behandlung kam und da er durchaus nicht für Friedens-Hüte ist oder Diamanten oder auch nur Handschuhe, um Versöhnung zu stiften, fängt sie lieber gar keinen Zank an. So hat jede Familie ihre Eigenthümlichkeiten. –
Endlich hatte die Vorsehung die Gefälligkeit und sorgte für mein Vergnügen; sie mochte wohl eingesehen haben, daß sie mir nachgerade eine kleine Erfreuung schuldig geworden war. Das kam folgendermaßen.
Ich sitze und bin mir gar nichts vermuthen, als die Dorette mit einem Briefe hereinkommt.
»Jetzt Post?« fragte ich, »mitten zwischen den Bestellungen?«
»Der Postbote hat ihn auch nicht gebracht,« sagte sie.
»Wer denn?« – »Einer mit der rothen Mütze, so ein Eckenrath.« – »Ist er noch da?« – »Nein, er ging gleich, er sagte, er wäre bezahlt und auf Antwort brauchte er auch nicht zu warten.«
Ich erkannte auf den ersten Blick Emmis Handschrift; also todt war sie nicht. Und doch war ich vor Besorgniß verwirrt, und las in fliegender Hast:
Liebste Mama!
Komme augenblicklich. Franz hat mir ein neues Kleid bewilligt. Wir suchen es zusammen aus und fahren gleich zur Schneiderin. Deine überglückliche
Sanitätsräthin Emmi Wrenzchen.
P. S. Dies war mein Geheimniß. Du begreifst, daß ich schweigen mußte, bis es amtlich war.
D. O.
Ein freiwilliges Kleid! Das war das Geheimniß? Deshalb einen Dienstmann aus seinem Stehschlaf schrecken? Das Kleid amtlich? Was hieß das?
Ich las noch einmal. »Ha!« rief ich. – »Mein Gott« schrie Dorette, »ist Jemand verunglückt...?« »Nein, nein. Schnell mein Schwarzrispenes, ich muß zu meiner Tochter der Frau Sa–ni–täts–räthin!«
Dorette sah mich groß an.
»Ja, Dorette, prägen Sie sich meinen Anblick nur recht getreu ein; so wie ich sieht eine Sanitätsräthinmutter aus.« Es kam eine Elastizität in mich bei diesem Gedanken, daß, ohne Dorettes Gegenwart, ich in einen Solo-Hopser ausgebrochen wäre, so aber legte ich die mir geziemende Würde an und sprach, indem ich mit dem Zeigefinger wie Maria Theresia auf die Erde deutete und die Augenlieder hoheitsvoll senkte: »Dorette, gehen Sie ins Comptoir und melden Sie dem Herrn, ich gäbe mir die Ehre, meine Tochter, die Frau Sanitätsräthin zu besuchen, ob er vom Geschäft abkommen und sich anschließen könne. Aber eiligst, Dorette.«
Als die Dorette draußen war, hopste ich doch.
Mein Mann hatte keine Zeit und ließ sagen, er käme nach. – »Freute er sich denn nicht, Dorette?«– »Ach nee. Der Herr schienen bereits zu wissen.« – »So wird es wohl sein.« – Natürlich wußte er und mir nichts gesagt! Die Männer halten eben zu sehr zusammen und deshalb werden die Frauen auch nie hoch kommen, wenn sie es ihnen nicht nachmachen. man vertraue der Bergfeldten etwas Verschwiegenes: am andern Tag ist es herum wie an den Säulen.
Zu meinem Erstaunen standen bei Sanitätsrathens eine Flasche mit Gläsern auf dem Tisch und auch Zigarren waren offen hingelegt, wie es sich bei Gratulationserwartungen geziemt.
Ich schloß Emmi gerührt in die Arme. Zu ihm sagte ich: »Herr Schwiegersohn, Sie stehen jetzt auf einem hervorragenden Sockel, eine gewissermaßen ehrengekrönte menschliche Statue auf dem Opernplatze des Lebens. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück dazu, denn neben Ihnen steht mein liebes Kind, meine Emmi, und das, das macht auch mich so glücklich.«
Er wurde ebenfalls ganz gerührt; er hat seine innerlichen guten Seiten, wenn er auch auf das Aeußerliche weniger giebt. Und doch schien es, als wenn ihm mit dem Sanitätsrath der Pflichtgedanke gekommen wäre, die Fassade seines bisherigen Daseins abzuputzen, indem er nicht nur Sherry und Zigarren aufgefahren und seiner Frau einen blauen Schein für Verschönerungszwecke gewidmet hatte, sondern sogar auf meinen Vorschlag einging, seine Ernennung durch ein kleines Fest einzuweihen. Was thut man mit der Freude? Wenn sie nicht ans Freie kann, kommen Motten hinein.
Wie ich darlegte: im englischen Hause den großen Saal zu nehmen und die zahlreichste Verwandt- und Bekanntschaft zu entbieten, reimte nicht mit seinen Tendenzen, da er die Richtfeier der Standeserhöhung mit seinem erst später fälligen Geburtstage zusammenzulegen gedachte. Jedenfalls aber nicht mehr Gäste, als das eigene Heim zur Noth faßte.
»Und eine Riesenkalbskeule,« fügte ich verletzt hinzu.
»Das versteht sich. Wenn eine nicht langt, zweie!«
»Alle Welt hält dergleichen außer dem Hause ab« wagte ich noch einen schwachen Bekehrungsversuch.
»Und alle Welt macht Schulden und Pleite,« entschied der mit der bekannten Punktumhaftigkeit der Doktoren, die sie sich gar bald bei den armen, elenden, willenlosen, schwachen, ohne Muck gehorchenden Kranken anüben.
»Jedoch nicht ohne Poesie,« riskierte ich einen letzten Angriff.
»Sehr angenehm« sagte er. »Aber wenn mir der Pegasus das Haus volltritt, jag' ich ihn hinaus.«
»Was soll das heißen?«
»Daß Ich keine Gewaltsachen wünsche.«
Die Unterhaltung wurde durch Gratulanten unterbrochen. Es kamen Herr Dr. Paber, der auch schon Sanitätsrath ist, und mehrere Herren von der medizinischen Donnerstagsgesellschaft, ältere Kollegen und jüngere. Sie sprachen wohlgesetzte Worte, aber es zog sich durch alle das Bedauern wie ein rother Faden hindurch, daß mit dem Titel, der doch Standespflichten auferlege, kein Gehalt verbunden sei.
»Erlauben Sie, meine Herren« ergriff ich die Unterhaltung, »ein Sanitätsrath kann meiner Meinung nach einen Besuch höher schätzen, als der einfache unräthliche Doktor. Auf diese Weise kommt noch ein Ueberschuß heraus.«
»Verehrte Frau,« nahm Herr Sanitätsrath Dr. Paber das Wort. »Ich glaube annehmen zu dürfen, daß wir alle Ihre treffliche Ansicht theilen, aber trotzdem läßt Ihr Vorschlag sich schwer ausführen, zumal jetzt, wo die Konkurrenz eine so kolossal gesteigerte ist, daß mehr Aerzte, als man glauben möchte, nicht über ein steuerpflichtiges Einkommen verfügen. Aber sie vertuschen bestmöglichst wie sie zu leben gezwungen sind, wie und woher sie sich die Mittel für den täglichen Bedarf verschaffen, womit sie ihre Familien erhalten, auf welche Weise sie die großen Summen, die ein fünfjähriges kostspieliges Studium verschlungen hat, wieder einbringen. Es ist eben nicht Jeder in der Lage, Jahre hindurch aus dem Geldbeutel seines Herrn Vaters zu leben oder sich von der Mitgift einer reichen Frau zu ernähren, welcher der Titel ›Frau Doktor‹ ihr Vermögen werth ist.«
»Wie kann man so hinter einem Namen her sein?« warf ich ein »Ich finde es sehr unpassend, mit Geld zu concurriren, wo die Tüchtigkeit den Sieg davon tragen sollte.«
»Heute tritt die Billigkeit mit in den Bewerb,« entgegnete Dr. Zehner, ein höchst intelligenter jüngerer Freund und Kollege meines Schwiegersohnes. »Wo die allerdürftigste Cassenarztstelle ausgeschrieben wird, strömen die Aspiranten scharenweis herbei und machen vor Gevatter Schuster und Schneider, als den Vertretern der Kasse, ihre tiefsten Reverenzen. Da fahren sie vor in Frack und weißer Binde und sind hoffnungsbeglückt, wenn der im Verein angesehene Ra- Fri- und Masseur ihnen die kalte Seifenschaumhand reicht und sie im Vorstande zu erwähnen verspricht. Es ist aber nicht Jedermanns Sache, den an Demüthigungen reichen Weg der Gunsterbettelung zu beschreiten; gediegene Kenntnisse und Tüchtigkeit geben Selbstbewußtsein, und darum sind es nicht immer die Besten, die zur Existenz gelange, und nicht die Schlechtesten, die mit der täglichen Noth ringen.«
»Es läßt sich das nun doch mal nicht ändern,« sagte mein Schwiegersohn, der Sanitätsrath. »Das Krankenversicherungsgesetz ist da und im Reichstag von einsichtsvollen Männern berathen.«
»Die wohl nicht bedachten, wie viel von der Opferfähigkeit der Aerzte verlangt wird. Sehen Sie sich doch die Thätigkeit eines Kassenarztes an. Den ganzen Tag geht es Trepp auf, Trepp ab, des Nachts keine Ruhe, keine Ruhe an Sonn- und Feiertagen, keine Zeit zur Erholung oder zu weiterfördernder Beschäftigung, und für diesen Aufwand an Lebenskraft und Gesundheit eine geradezu jämmerliche Bezahlung: Vierzig Pfennig für eine Consultation in der Sprechstunde,« redete Herr Dr. Zehner.
»Gestatten Sie,« sagte Dr. Paber, »in Berlin rechnet man nach Points. Drei Points für eine Consultation in der Sprechstunde in der Wohnung des Arztes, sechs Points in der Wohnung des Patienten.«
»Die wundervolle Bezeichnung Points ist wohl aus dem Knobelkomment herübergenommen?« bemerkte einer der älteren Collegen.
»Wahrscheinlich,« sagte Dr. Paber und fuhr fort: »da nun mit den Points in die Beiträge der Krankenkassenmitglieder dividirt wird, kann der einzelne Point eine sehr verschiedene Höhe erreichen. Im vorigen Jahre kam der Point nur auf dreizehn Pfennige zu stehen, und da dreimal dreizehn neununddreißig macht, hat College Zehner einen Pfennig zu viel für die Consultation angegeben. Dies wollte ich nur feststellen.«
»Danke verbindlichst für die gütige Revision,« sagte Dr. Zehner lächelnd. »Ein Hausbesuch kam auf achtundsiebzig Pfennige.«
»Davon kann kein Arzt standesgemäß leben!« rief ich aus. »Er muß doch das seinige verdienen.«
»Das thut er auch, wenn er so zahlreiche Kunden hat, daß auf jeden zwei bis drei Minuten Sprechstunde fallen. Bei dreißig bis vierzig Patienten hat er einen Tagelohn von zwölf bis fünfzehn Mark.«
»Und die Patienten?« fragte ich. »Kriegen denn die ihr Recht?«
»Genau so, wie es sich aus dem Gesetz entwickelt: dem Entgelt entspricht die Leistung. Das ist die unumstößliche Lehre von der Erhaltung der Kraft, die der große Helmholtz begründet hat.«
»Ueberall dasselbe,« fügte ich wissenschaftlich hinzu. »Wie der Lohn, so die Arbeit. Eine perfekte Schneiderin.... Emmi, wir wollten noch auf Besorgungen aus...«
»Gleich, Mama. Wenn nun aber Einer nicht so Viele in der Sprechstunde hat, was dann?«
»Dann häuft er die Besuche bei den Patienten außer dem Hause. Die Masse muß es auch hier bringen.«
»Damit die Bäume jedoch nicht in den Himmel wachsen,« nahm ein jüngerer College das Wort, »werden z. B. in Nürnberg nur zehn Besucht für den Kopf des Patienten und das Vierteljahr bezahlt. Hat man bei einem Patienten fünfzehn, bei dem andern zehn Besuche im Quartal gemacht, zahlt die Kasse nur für zwanzig Visiten. Aber auch dabei leppern sich anständige Summen für überbeschäftigte Aerzte zusammen. Wenn hier in Berlin ein Arzt unnütz viel verschrieben und viele unnütze Besuche gemacht hat, streicht die Beschwerde- und die Revisionscommission ihm das ›Uebereifrige‹ ab.«
»Das ist weder schön, noch hebt es das Ansehen des Stande,« sagte Herr Sanitätsrath Dr. Paber, »wenn ein Arzt sein Thun von einer Commission kritisiren und sich Abstriche gefallen lassen muß, wie ein unreeller Handwerker bei Lieferungen. Darunter leiden auch die Anständigen. – Gott bessre es.«
»Was können wir dabei machen?« fragte mein Schwiegersohn.
»Zusammenhalten,« rief ich. »Ein einig Volk von Gebildeten müßte doch wohl das Beste erreichen, wenn es ernstlich will. Dies ist meine Meinung und es sollte mich freuen, wenn sie Anklang fände. Emmi, es ist höchste Zeit.«
Wir verabschiedeten uns von den Herren, die sich wohl immer mehr in ihr Fach vertieft haben werden und fuhren nach Rudolph Hertzog. Wir gingen durch den großen Saal sozusagen mit zuen Augen, namentlich links an der ersten Ecke vorbei, wo man sich gewöhnlich in mehr Meter verliebt, als eigentlich beabsichtigt sind, weil der Herr Verkäufer die Stoffe so geschmackvoll vorzulegen versteht, daß einer davon eine durchaus nothwendig zu habende Neuheit der Saison wird. Schließlich läßt man es sich abschneiden.
In der Abtheilung für Seidenwaaren verlangten wir von vornherein Preiswürdiges, weil sie sonst erst das Millionärhafte ausbreiten, denn preiswürdig ist der Ausdruck für verschämt Billiges. Ich sagte: »Meine Tochter, die Frau Sanitätsräthin, wünscht etwas Gediegenes, aber nicht zu Schweres. Haben Sie ein feines Grau, das namentlich bei Licht superben Effekt macht?«
»Zu dienen,« sagte der junge Mann, und legte einen blendenden Stoff vor. »Vielleicht wählen Frau Räthin diese gebrochene Lavendelfarbe, die großartig gefällt.«
Wie das that, so dies erste Frau Räthin, frei aus dem Publikum heraus, das läßt sich gar nicht beschreiben, ungefähr so als wenn man mit einem Sammthandschuh das Rückgrat heruntergestrichen kriegt und Pralines dazu ißt.
Wir besahen noch alle gräulich-bläulichen Stoffe, die er hatte und noch einige hellgraue, rosa, lichtbraune und blaue, nahmen aber den ersten, der uns Beiden gleich so gut gefiel. Man kommt meistens auf Nummer zuerst zurück, aber sehen muß man das Andere doch auch. Mir zeigte der junge Mann ein Schwarz-Damast mit atlasartigen Ranken darin, wie ich in meinem Leben noch keine Nouveautät sah. Einfach lähmend.
»Wir haben dies Muster ausschließlich,« sagte er. »Großartige Seide. Bereits an zwei Kommerzienräthinnen verkauft. Befehlen für Abendtoilette mit langer Schleppe?«
»Nein danke. Ein andermal. Vorläufig kann ich keinen Gebrauch davon machen.« Für den Stoff mußte man in der That Kommerzienräthin sein.
Der junge Mann winkte dem braun livrierten Diener – es war Nummer 98 – der nahm das Erstandene und trug es uns bis zur Kasse nach. Vorher gingen wir in das Lichtzimmer, das auch bei Tage mit Gas erleuchtet wird und mit Spiegelwänden tapeziert ist, damit man sehen kann, wie die Farben am Abend lassen. Das Gebrochenlavendelfarbige war ideal. »Emmi,« sagte ich, »es schreit förmlich nach Gemachtwerden, so bildschön ist es. Ich esse bei Euch zu Mittag und dann zur Nähseuse.«
»Aber wo bleibt Papa?«
»Der muß sich mit dem Telephon behelfen, durch das ich ihm guten Appetit wünsche. Und wenn er auch knurrt, für unsere Angelegenheiten wird den Männern das rechte Verständniß doch ewig fehlen; ertragen wir das mit Geduld. Hast Du hingegen an die Kinder gedacht?« – »Wieso?« »Die dürfen zur Feier des Tages nicht unbelohnt bleiben, weil sie so sittsam sind und so lieb. Wir gehen in einen Spielwaarenladen, ich weiß, wonach ihr unschuldiges Gemüth sich sehnt.«
Der Schwiegersohn war mit der Wahl des Stoffes zufrieden, als wir ihn zur Begutachtung auseinanderfalteten, hatte jedoch an unserem längeren Wegbleiben Aussetzungen.
»Lieber Herr Rath,« sagte ich, »so geschwind, wie Massen-Kassenärzte ihre Patienten erledigen, können wir ein Kleid nicht kaufen. Fragen Sie die einfachste Arbeiterfrau, ob sie an dem Kattun zu ihrer Bluse nicht länger herumfingert und besieht als der Vierzigpfennig-Doktor an ihrem Mann, wenn er an zu quienen fängt und die Krankheit ist noch verborgen. Umtauschen kann er die Medizin nicht, wenn sie hinter gelöffelt ist, ebenso wenig wie einen verschnittenen Stoff retour geben.«
»Mir ist nur unangenehm, daß Emmi heute nicht zurück kam, die Jungens haben wieder Unheil gestiftet.«
»Franz natürlich.«
»Nein, Fritz.« – »Sagen wir Beide, Franz giebt an und Fritz, der sanfte, thut ihm den Gefallen.« – »Auch möglich. Mehrfach ist ihnen verboten, sich mit dem kleinen Rothkopf aus dem Vorkostkeller nebenan einzulassen. Nun haben sie wieder eine Schlacht geliefert, der Lehrling aus dem Keller kommt dem Söhnlein seines Prinzipals zur Hülfe...« »Solche Gemeinerei: so ein Rufti über unsere süßen Kleinen. Das muß ihm besorgt werden.«
»Lassen Sie's nur gut sein, ich habe die Fensterscheibe schon bezahlt, die Fritz aus Rache eingeschmissen hat.« – »Der Engel; weil der Grützwurm seinen Bruder mißhandelte; das liebe edle Herz.« – »Weil Sie seine Lust am Zertrümmern mit Chokolade nähren, verehrteste Frau Schwiegermutter. Ich bitte mir ein für alle mal aus, sich nicht in die pädagogische Behandlung meiner Kinder zu mischen.« – »Thue ich denn das? Nicht einen Schlag geb' ich ihnen.«
»Keine Minute kann man aus dem Haus sein, gleich passirt was,« sagte Emmi mißvergnügt. »Warum paßtest Du nicht besser auf?«
»Was kann das Stück Fensterglas groß gekostet haben?« fragte ich. »Außerdem muß man sich nie zu sehr dem Mammon hingeben, sonst knöpft der liebe Gott ihn wieder ab.«
»Ich denke, wir gehen zu Tisch,« sagte Er kurz. Wir folgten stumm. So sind die Männer immer, wenn sie ungestört unter sich waren.
Als die Kinder kamen, erschraken wir Beide, Emmi und ich, denn Franz sah ziemlich verschwollen aus. »Mein Liebling!« rief Emmi, »Was ist Dir? Was hast Du da?« – »Kittauge,« sagte Fritz. – »Die Beute aus der Schlacht,« bemerkte Er spöttisch, anstatt sein eigenes, schrecklich zugerichtetes Fleisch und Blut zu beklagen. – Wie Du aussiehst,« sagte Emmi. – »Der andere Jung sieht noch viel döller aus,« berichtete Franz. – »Viel dölderer,« bestätigte Fritz, der kleine Lazarus.
»So war's recht,« sagte ich, obgleich es eigentlich nur gedacht sein sollte, und richtig, Er gleich wie ein Oberlehrer: »So war's nicht recht. Ihr sollt Eurem Vater gehorchen, der Euch verboten hat, mit dem Knaben aus dem Keller Krakehl anzufangen.«
»So wie Unsere fangen doch nicht an? Wenn hingegen einer ein meilenweit sichtbares Karnickel ist, denn schon der Rothkopf.«
»Sollte nicht auch das Fenster aus eigener Bosheit geborsten sein?« spottete er.
»Sehr möglich. So viel Philippinen ich schon gehabt habe: so oft eine Scheibe was weg hatte, beschwor eine jede, das sei ganz von selber gekommen. Es giebt eben noch Dutzende unaufgeklärte Naturgesetze.«
»Scheint mir auch so,« brummte Er. »Schade, daß keine Professur mehr an der Universität frei steht.«
Seine Retourkutschen blieben bereits stecken, ihn weiter triezen, hatte keinen moralischen Werth mehr.
Emmi war besorgt um Fritz; wäre die auch Mutter, die bei der Verkeilung ihres Knaben nicht mitfühlte? »Wo thut es sonst noch weh?« fragte sie. – »Hier so,« sagte Fritz und legte den Handrücken vorsichtig dahin, wo die Beine oben endigen, wobei er furchtsam nach dem Vater schielte. – Wir wußten genug. Ja, warum waren wir nicht früher zurückgekehrt, anstatt die Stoffe zu beunruhigen, die wir nicht einmal dachten zu kaufen? Dann wäre dem süßen Liebling eine Mißhandlung erspart geblieben. Und wer weiß, ob Franz nicht eben so viel Schuld hatte? Ich sagte nur das eine halblaute Wort:
»Wütherich!«
Wir aßen wie an der Eisenbahntafel, wo keiner den andern kennt und Hunger die einzige Entschuldigung ist, daß man zusammensitzt. Auch die Kinder waren wie auf das Mündlein geschlagen, obgleich Er die Erziehung von der entgegengesetzten Richtung unternommen hatte. Sonst bei Tisch war es immer eine wilde Ecke, wo die Kleinen saßen und heute muxstill wie ausgestopft, nur daß es ihnen schmeckte, während wir bloß so thaten.
»Na ja,« sagte ich.
Emmi schwieg, und Er hielt es nicht für nöthig, seinen Geist anzustrengen.
Er hatte bald ausgegessen und schützte Sprechstunde vor, uns zu verlassen.
»Hübscher Ton!« konnte ich nicht umhin zu bemerken. »Wenn Er »Geheimer« geworden wäre, müßten wir uns wohl entschuldigen, überhaupt geboren zu sein?«
»Mama, reize Franz doch nicht immer.« – »Ich?« – »Es sind doch schließlich seine Kinder.« – »Bestreite ich das? Aber wer ist der Schuldige, Franz oder Fritz, wer wagt bei der Aehnlichkeit einen Zeugeneid? Wer weiß, ob Franz nicht das blaue Auge verdient hat und die väterliche Bimse, worunter Fritz nun leidet? Er hätte wissen müssen: Zwillinge passen in einen modernen Haushalt nicht hinein!« – Sie lachte.
»Emmi, höherer Grad verlangt höheres Benehmen. Ich an Deiner Stelle... ich sage Dir: die Conduite.«
Wie ich ihr das nun so vormache, mit fein abgerundeter Handbewegung und den Kopf aristokratisch mit herablassendem Blicke in den Nacken geworfen, vergessen die Knaben ihren Trübsinn und werden heiter... »Ihr seid ja unartig,« ermahnte ich sie, »und dann eßt Ihr schon wieder mit den Fingern, das dürft ihr nie und nimmer thun. Ihr seid jetzt ja junge Sanitätsräthe.« – Das macht ihnen denn viel Spaß. –
Noch mehr aber freute sie, was Großma' mitgebracht hatte, zwei schöne Pusterohre und zwei Schachteln Bleisoldaten. Hatte die hartherzige Mutter ihnen die harmlosen Indianerwaffen weggeschlossen, die gute Großmutter schaffte Ersatz. Sie sind ja auch Preußen und denen ist das Zündnadelige einmal angeboren. Nachdem Emmi sich überzeugt hatte, daß sich mit der Munition kein Troja zerstören ließ, fuhren wir mit dem Stoff zur Bekleidungskünstlerin. Wir mußten ziemlich warten, bis wir an die Reihe kamen und das Maaßnehmen und Bereden brauchte auch ein kleines Stündchen und darüber. Zur Stärkung sprachen wir in einer Conditorei vor, obgleich ich selten solches Dessert-Restaurant benutze; aber heute nach dem dürftigen Mittag gebot die Selbsterhaltung. Warum war Er auch solcher Appetitvergrauler?
Ich hatte noch nicht den letzten Happen Apfelkuchen mit Schlagsahne genutscht, als mich die Ahnung durchschoß: ›jetzt wird Pech destillirt.‹ Ich habe das manchmal so. Es ist dann, als hätte ich schon einmal erlabt, was ich jetzt erlebe, und weiß genau, was kommt, genau was Einer im nächsten Moment sagen wird, oder was ich sagen werde und sagen muß, ob ich will oder nicht. Und darnach, je deutlicher das Wiedererleben war, um so eher, ereignet sich irgend etwas für mich Unangenehmes. Emmi sagte: »Meinst Du, daß ich an dem Neuen viel Gut haben werde?« – Darauf mußte ich antworten: »Was ist ein Tropfen im Strom?« und das Ahnungsgefühl war da. – »Wie meinst Du das?« – »Komm nur, wir müssen nach Hause. Papa holt mich nachher ab. Rasch einiges für die Kinder, sie sind auch nicht satt geworden. Komm.« – »Was hast Du, Mama?« – »Nichts, mir ist hier zu heiß. Bist Du so weit?«
Es war, als hätte ich Hellsehen gelernt gehabt: Franz und Fritz, die Herzeken, hatten sich wegen der Schlacht am Morgen noch nicht beruhigt und, ganz wie Knaben nicht nur sind, sondern auch sein müssen, die Fehde wieder aufgenommen. Dabei sahen sie jedoch weniger auf Faustkampf sondern mehr auf strategisches Bombardement, wozu die Pustrohre wie geschaffen waren. Von Papa's Wartezimmer aus konnten sie dem Vorkostmenschen in das offene Fenster vom Lagerkeller feuern und das thaten sie redlich, wobei sie richtig ins Schwarze schossen, nämlich in ein Pflaumenmusfaß, das offen neben Sauerkraut, amerikanischem Schmalz und anderen Fressabilien stand.
Emmi dies sehen, die Beiden klappsen und trotz ihres Geheules wegschleppen, das geschah mit Eisenbahnunglücksgeschwindigkeit. Ich aber athmete erlöst auf; das also war das ganze vorgeahnte Mißgeschick. Gottlob, denn wenn das Ungemach vorbei ist, hab' ich meistens längere Zeit Ruhe vor Aehnlichem.
Die Pusterohre legte Emmi abseits zu der bereits konfiszirten Artillerie. Die Soldaten ließ sie ihnen. Die wollten die Zwillinge aber nicht mehr. Zur Strafe mußten sie ins Bett.
Mein Mann kam; er gratulirte ohne besondere Entzückung. – »Ich verstehe Dich nicht,« nahm ich ihn vor, als Emmi nach dem Abendbrot sehen gegangen war. »›Rath‹ ist doch ein gehöriger Klacks Familienehre. Ich sage Dir, ich sah heute bei Hertzog einen Seidendamast, zwei Kleider sind schon für Kommerzienräthinnen herabgeschnitten, was meinst Du, wenn ich das dritte hätte? Kannst Du gar nicht ein Bischen dazu thun?« – »Nein, Minchen, solche Socken, wie dazu gehören, fabrizire ich nicht.«
Der Rath hatte noch zu praktiziren. Als er eintrat, sah ich ihm sofort elektrische Ladung an und er donnerte auch nicht schlecht los: »Emmi! Emmi!« – Die Frau Räthin flog herbei. »Wer ist im Wartezimmer gewesen?« – »Ich war nach Mittag aus.« – »Wer war drinnen?« – »Wie so, Männchen?« – »Aha,« dachte ich, »die Ahnung hat noch ein Fortsetzung folgt.« – »Wo sind die Pillen geblíeben?« – »Welche Pillen?« – »Die in den runden Holzschachteln auf dem Ecktisch. Ich will sie wieder an ihren Erdinder zurückschicken – wir werden mit Arzneimittelproben überfluthet – weil sie zu drastisch wirken...« – »In wie fern dieses?« fragte ich so unbefangen wie möglich, obgleich in meinem Innern ein gräßliches Schreckbild aufdämmerte.
»Es sind leicht lösliche Rhabarberpillen in drei Stärken; Nummer Drei ist aber für Pferde und nicht für Menschen.« – »Und die sind weg?« – »Nicht wahr, Sie finden das auch seltsam?« – »Gott,« sag' ich, »wie so Pillen wegkommen, der Eine braucht mehr, der Andere weniger.« – »Damit ist nichts erklärt.« – »Es kann ja ein Patient, dem das Warten langweilig wurde, sie aus Zerstreuung genommen haben.« – »Dann ist der bereits abgeschieden oder er schickt noch. Fatal, wenn ich in der Nacht herausmüßte.«
Ich wußte, wo die Pillen waren. In dem Pflaumenmus.
Was nun beginnen? Ihm reine Aufklärung einschenken? Ihm direkt sagen, wie unverantwortlich es ist, Pillen herumstehen zu haben, wo Kinder mit Pusterohren spielen? Da hätte er wahrscheinlich mir die Verantwortung aufgebürdet. Indem jedoch Emmi ihn bei meiner Meinung ließ, hatte ich auch keine Ursache, seinen guten Glauben zu erschüttern.
Beim Abräumen halt ich thatkräftig. »Emmi,« sagte ich draußen, »leih mir einen Topf, ich gehe das Pflaumenmus kaufen. Die Kinder sind ja des Todes, wenn er es erfährt.« – »Die haben ihre Lektion. Mir ist es auch recht, wenn Du die Sache aus der Welt schaffst. Man muß seinem Gatten Aerger ersparen. – »Gewiß, das ist die oberste eheliche Pflicht. Hast Du einen Vier- oder Fünf-Pfund-Topf?«
Ich also nach dem Vorkostkeller. »Nein, bitte geben Sie mir aus dem Lager, das ist frischer.« – »Mit Verjnüjen.«
Fünfeinhalb Pfund Mus gingen in den Topf. Der Inhaber bemühte sich selbst mit Zubinden und war sehr höflich. Er gab mir sogar den Lehrling mit bis an die Sanitätsrathsthür und das war eine Behütung vom Schicksal, denn wenn ich ihn selber getragen hätte: Topf und Mus wären hingewesen, wie ich Adje sage und er sagt: Madame werden zufrieden sein, ick hab es mitten aus de Mitte herausjeholt.«
Mir sanken die Arme schlank am Leibe nieder. Ich hatte das Mus, das keiner von uns dauernd ißt und die Pillen, auf die ich es abgesehen hatte, waren natürlich ordentlich in das Faß hinein mengelirt.
Zum Scherzen war ich nicht aufgelegt, als wir wieder gemüthlich beisammen saßen. Die Herren rauchten und netzten das Gespräch mit einem leichten Mußbacher an, ich war aber theilnahmlos wie die linke Eckfigur am Göthedenkmal, die auch schreckliche Gedanken hat. An diesem Abend ward mir bewußt, was eigentlich tragische Schuld ist, nämlich die feste Ueberzeugung, daß man seinen Nebenmenschen ohne es zu wollen, Unheil angerührt hat und nicht weiß, wann, wo und wie es losgeht. – Die Nacht verbrachte ich unter qualvollen Träumen und dazwischen im Aufwachen die Sorge: Wer soll all das Mus mögen?
In den nächsten Tagen fragte ich den Rath wie verloren nach dem Gesundheitszustand Berlins und seines Weichbildes. – Er nannte ihn zufriedenstellend. Was ist aber zufriedenstellend für einen Arzt: wenn es krankt oder nicht?
»Gar kein unreifes Obst-Epidemisches oder Verwandtes in der Nähe?« forschte ich. – »Nicht die Spur. Im Gegentheil, ich habe weniger zu thun, als sonst. Es liegt wohl am Wetter.«
»Die Vorsehung hat allerlei Manieren zu heilen und zu helfen,« sagte ich. »Wenige wissen, was ihnen gut ist und erhalten es doch auf Umwegen.«
»Sie sind merkwürdig orakelhaft, theuer Schwiegermutter.«
»Je älter man wird, um so deutlicher erkennt man das höhere Walten. Sie sind ja für Sprüche. Ich weiß einen sehr wahren:
Das Leben ist die beste Schul'
Von der Wiege bis an den Großvaterstuhl.
Was sagen Sie dazu, Herr Sanitätsrath?«