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Zweiter Teil. Die Paumotu-Inseln

Erstes Kapitel

Der gefährliche Archipel – Atolle in der Nähe

Am frühen Morgen des 4. September schleppte uns ein mit Eingeborenen bemanntes Walfischboot den grünen Kanal des Ankerplatzes entlang und um das wellengepeitschte Vorgebirge herum. Auf der Höhe der Küste war der Morgen heiß, windstill und doch kristallklar, aber hoch oben die Hügel von Atuona waren ganz in Wolken gehüllt, und der Ozeanstrom der Passatwinde jagte ohne Unterlaß dahin. Als wir aus dem unmittelbaren Schutz des Landes herauskrochen, erreichten wir endlich das Gebiet ihrer Herrschaft. Der Wind warf sich auf unsere Segel in Stößen, die stärker und gleichmäßiger wurden. Bald begann die »Casco« ihr Tagewerk, das Walfischfängerboot fiel zurück und schlug einen Augenblick lärmend gegen ihre Planken, Brot, Rum und Tabak wurden vereinbarungsgemäß hinübergereicht, noch einen Augenblick, und das Boot schwamm in unserem Kielwasser, und unsere ehemaligen Lotsen riefen uns ihre Abschiedsgrüße zu. –

Dies wirkte um so ermutigender, als wir auf Gegenden zusteuerten, die so ganz anders waren und, obgleich es eine kurze Fahrt war, doch ein neues Stück der Schöpfung bedeuteten. Jenes große Gebiet des Ozeans, das man leichthin Südsee nennt, erstreckt sich von einer tropischen Zone zur andern und ungefähr von 123 Grad westlicher bis 150 Grad östlicher Breite: ein Parallelogramm von 100 mal 47 Graden, wo diese am breitesten sind. Viel davon ist öde, viel dicht besät mit Inseln, und diese Inseln sind von zweierlei Art. Kein Unterschied wird in Südseegesprächen so durchgehend betont wie der zwischen niedrigen und hohen Inseln, und keiner macht sich in der Natur deutlicher bemerkbar. Der Himalaja ist nicht verschiedener von der Sahara. Einerseits erheben sich, fast immer in Gruppen von acht zu zwölf, vulkanische Inseln über dem Meeresspiegel, wenige sind unter 4000 Fuß hoch, eine ist höher als 13 000. Die Gipfel ihrer Berge sind oft in Wolken gehüllt, alle sind mit verschiedenartigen Wäldern bedeckt, alle haben Nahrung in Fülle, und alle verdienen Beachtung wegen ihrer malerischen und feierlichen Landschaft. Andererseits gibt es die Atolle, fragwürdig nach Ursprung und Geschichte, berühmte Gebilde eines offenbar noch nicht bekannten Insekts, von ungefähr ringförmiger Gestalt, selten größer als eine Viertelmeile in der größten Breite, oft in den höchsten Punkten niedriger als die Gestalt eines Menschen, der Mensch selbst, Ratten und Landkrabben ihre hauptsächlichsten Bewohner; nicht bunt mit Pflanzenarten bedeckt, dem Auge selbst in ihrer vollendetsten Gestalt nur einen Ring glitzernden Laubwerkes und grünen Strandes darbietend, innen und außen blaue See.

Nirgend sind die Atolle so dicht beisammen, nirgend so verschiedenartig in der Form, von der größten zu der winzigsten, und nirgend ist die Schiffahrt so von Gefahren bedroht wie in dem Archipel, den wir jetzt durchqueren sollten. Das große System der Passate wird aus gewissen Gründen durch diese zahlreichen Riffe völlig zerrissen, der Wind dreht fortwährend, Böen von Westen und Südwesten sind häufig, Wirbelstürme kommen vor. Die Strömungen geraten zudem unentwirrbar durcheinander, jede sichere Berechnung wird zur Farce, den Karten kann man nicht trauen, und so groß ist die Zahl und Ähnlichkeit dieser Inseln, daß man nicht klüger wird, wenn man eine von ihnen erreicht hat. Der Ruf dieses Meeresstriches ist entsprechend schlecht, Versicherungsgesellschaften schließen ihn von ihrem Bereich aus, und nur widerstrebend setzte mein Kapitän die »Casco« in diesen Wassern aufs Spiel. Ich glaube sogar, ein stillschweigendes Übereinkommen sieht vor, daß Jachten diesen gefährlichen Archipel meiden sollen, und nur mein dringliches Bitten – und die ganze Abenteurerlust Mr. Otis' – vermochten unseren Kurs durch ihre Mitte zu lenken.

Einige Tage segelten wir unter ständigem Wind, und eine ständige westliche Strömung versetzte unseren Kurs leewärts; gegen Sonnenuntergang am siebenten Tage hätten wir, wie wir vermuteten, Takaroa sichten müssen, eine von Cooks sogenannten König-Georg-Inseln. Die Sonne ging unter, aber einige Zeit nachher segelte der alte Mond – halb beleuchtet er selbst, mit einem silbernen Kreisfortsatz, der sich bald auffüllen sollte – zwischen heraufkommenden Wolken. Auch er verließ uns; Sterne, glitzernd in allen Schattierungen, und Wolken aller möglichen Formationen stritten sich um die Herrschaft in der dämmrigen Nacht, und noch blickten wir vergeblich nach Takaroa aus. Der Maat stand am Bugspriet, seine große graue Gestalt hob und senkte sich gegen das Licht der Sterne, und immer noch

Nihil astra praeter
Vidit et undas.

Wir anderen standen in Gruppen am Backbordanker und starrten mit nicht geringerem Eifer, aber mit abnehmender Hoffnung auf den dunklen Horizont. Inseln sahen wir in Fülle, aber sie waren aus dem Stoff, aus dem alle Träume sich gestalten, und verschwanden im nächsten Augenblick, um an anderen Plätzen wieder zu erscheinen. Nach und nach begannen nicht nur Inseln, sondern auch blitzende und drohende Lichter die Finsternis zu erhellen, Leuchtfeuer der Phantasie oder der überanstrengten Sehnerven, feierlich aufleuchtend und winkend, während wir vorüberzogen. Schließlich verzweifelte auch der Maat, kroch von seinem ruhelosen Nest wieder an Deck und verkündete, daß wir unser Ziel verfehlt hätten. Er war der einzige Mensch mit Erfahrung in diesen Wassern, unser einziger Lotse, den wir zu diesem Zweck in Tai-o-hae an Bord genommen hatten. Wenn er erklärte, daß wir Takaroa verfehlt hätten, so stand es uns nicht an, diese Tatsache zu bestreiten, sondern sie zu erklären, wenn wir es vermochten. Wir hatten ohne Zweifel unseren südlichen Kurs verloren. Die gekrümmte Linie unseres Kielwassers und unser einigermaßen trunkner Kurs auf der Karte bewiesen uns beide mit nicht geringer Sicherheit, daß eine heftige Westströmung vorhanden sei. Es blieb uns nichts anderes übrig als einzusehen, daß wir wieder weit nach Lee versetzt waren, und wir konnten nichts Besseres tun, als die »Casco« beizudrehen, gut Wache zu halten und den Morgen abzuwarten.

Ich schlief in dieser Nacht an Deck auf der Cockpitbank, wie es damals meine etwas gefährliche Gewohnheit war. Schließlich erwachte ich unruhig und sah den ganzen östlichen Himmel blaßorangenfarben aufleuchten, die Kompaßlampe versank schon gegen die Helligkeit des Tages, und der Steuermann lehnte erregt am Rad. »Dort ist sie, Herr!« rief er und zeigte mitten in den Sonnenaufgang. Eine Weile konnte ich nichts sehen als die bläulichen Reste der Morgenwolkenbank, die weithingestreckt lag am Horizont wie schmelzende Eisberge. Dann ging die Sonne auf, durchbrach die Nebelreste und enthüllte ein unscheinbares Inselchen, das flach wie ein Teller auf der See lag und mit Palmen von überraschender Größe besät war.

Soweit war alles gut. Hier war sicherlich ein Atoll, und wir waren sicherlich mitten im Archipel. Aber welche Insel? Und wo? Die Insel war zu klein für Takaroa: in der ganzen Nachbarschaft war schlechterdings keine, die so unscheinbar war, ausgenommen Tikei, und Tikei, eine von Roggeweins sogenannten Inseln des Verderbens, schien ebensowenig in Betracht zu kommen. In diesem Falle hätten wir, anstatt nach Westen zu treiben, dreißig Meilen windwärts gewinnen müssen. Und wie war es mit der Strömung? Sie hatte uns nach unseren Beobachtungen während aller dieser Tage nach Lee versetzt, und aus der Beobachtung des Kielwassers ergab sich, daß sie uns auch jetzt noch abtrieb. Wann hatte sie aufgehört, wann hatte sie wieder begonnen, und welche Art Strömung hatte uns in der Zwischenzeit nach Osten geworfen? Auf diese Fragen, die für die Navigation zwischen jenen Inseln so typisch sind, finde ich keine Antwort. Dies waren schließlich die Tatsachen: es stellte sich heraus, daß wir Tikei vor uns hatten, und unsere erste Erfahrung in dem gefährlichen Archipel war, daß wir dreißig Meilen von unserem Ziel entfernt angelangt waren.

Der Anblick von Tikei, scharf gegen den Glanz des Morgens gesetzt, aller Farbe beraubt und entstellt von hohen Bäumen, die wie Reiser eines Besens zum Himmel ragten, konnte den Atollen schwerlich unsere Liebe gewinnen. Später am gleichen Tage sahen wir unter günstigeren Bedingungen die Insel Taiaro. »Verloren im Meere« ist ungefähr die Bedeutung des Namens. Und so sahen wir sie, verloren zwischen blauer See und dem Himmel, ein Ring von weißem Strand, grünem Unterholz und wehenden Palmen, edelsteinartig in der Farbe, von feenhafter, himmlischer Zierlichkeit. Die Brandung umspielte sie ringsumher weiß wie Schnee und brach sich an einem Punkt weit draußen in der See, an einem offenbar auf den Karten nicht verzeichneten Riff. Kein Rauch, kein Anzeichen von Menschen. Tatsächlich ist die Insel nicht bewohnt und wird nur von Zeit zu Zeit besucht. Und doch beobachtete uns ein Händler (Mr. Narii Salmon) von der Küste und verwunderte sich über das unerwartete Schiff. Ich habe seither lange Monate auf niedrigen Inseln zugebracht, ich kenne die Langeweile ihrer immer gleichen Tage und die Schwierigkeit der Beschaffung des Lebensunterhaltes. Wie groß auch der Neid gewesen sein mag, mit dem wir von Deck aus das grüne Dickicht erblickten: Mr. Salmon und seine Kameraden sahen uns mit zehnfach größerem Neid in unserem stolzen Schiff seewärts steuern.

Äußerst lieblich brach die Nacht herein. Nachdem der Mond versunken war, strahlte der Himmel wunderbar in seiner Sternenpracht. Und als ich in dem Cockpit lag und dem Steuermann zuschaute, glitten mir Emersons Verse ins Gedächtnis:

And the lone seaman all the night
Sails astonished among stars.

In dieser glitzernden und gedämpften Helligkeit erreichten wir ungefähr um vier Glas während der ersten Wache unser drittes Atoll, Raraka. Niedrig lagen die Umrisse der Insel direkt über dem Horizont, so daß ich zunächst an einen Saumpfad erinnert wurde und wir einen kanalisierten und schiffbar gemachten Fluß zu befahren schienen. Bald darauf erschien ein roter Stern ungefähr von der Höhe und Helligkeit eines Haltesignals, und damit wechselte mein Vergleich: wir schienen an einem Eisenbahndamm entlang zu fahren, und das Auge begann instinktiv nach Telegraphenpfählen zu suchen und das Ohr einen ankommenden Zug zu erwarten. Hier und da, aber selten, wurde die flache Linie von blassen Baumwipfeln unterbrochen. Und der Lärm der Brandung begleitete uns, bald monoton rauschend, bald drohend aufbrausend.

Die Insel erstreckte sich ungefähr von Ost nach West und hinderte die Annäherung an Fakarava. Wir mußten deshalb an der Küste entlang fahren, bis wir das Westende erreichten, wo wir durch eine Meerenge von acht Meilen Breite südwärts segeln konnten zwischen Raraka und der nächsten Insel, Kauehi. Wir lagen frei im Winde, einer leichten Brise, aber Wolken von tintiger Schwärze begannen heraufzukommen, und zeitweise blitzte es, ohne zu donnern. Irgend etwas, ich weiß nicht was, trieb uns fortgesetzt gegen die Insel. Wir lagen im Kurs immer mehr nordwärts, und man konnte fast glauben, die Küste mache unsere Manöver mit und übersegele uns. Einmal oder zweimal lagen wir Raraka wieder gegenüber, wieder wurde nach Seemannsart der ganz unschuldige Steuermann gescholten, und wieder strebte die »Casco« fort. Hätte man mir aufgetragen, auf Grund unserer Erfahrungen den Umriß dieser Insel zu zeichnen, so hätte ich eine Serie von ausbuchtenden Vorgebirgen angegeben, die einander nordwärts überragten, und hätte das Land von Südosten nach Nordwesten verlaufen lassen, während es sich auf der Karte fast ostwestlich in gerader Linie erstreckte.

Gerade hatten wir unser Manöver wiederholt und waren von Land weggekommen – nicht länger als fünf Minuten war der Eisenbahndamm unseren Augen entschwunden und die Brandung unhörbar gewesen –, als ich von neuem Land sah, nicht nur auf der Wetterseite, sondern direkt vor uns. Ich spielte die Rolle der vorsichtigen Landratte und schwieg bis zum letzten Augenblick; gleich darauf sahen die Seeleute es selbst:

»Land in Sicht!« sagte der Steuermann.

»Bei Gott, es ist Kauehi!« rief der Maat.

So war es, und damit begann ich die Kartographen zu bedauern. Wir fuhren ungefähr drei und einen halben Knoten, und sie wollten mich glauben machen, daß wir innerhalb fünf Minuten eine Insel verlassen, acht Meilen offenes Meer durchfahren hatten und beinahe auf den Strand der nächsten Insel gerannt waren. Aber mein Kapitän tat sich selber noch mehr leid, daß er in einem solchen Labyrinth spazierenfuhr, drehte bei, ließ die Lotleine herunter, setzte sich auf die Vorderreling und wartete, bis der Morgen anbrach. Er hatte genug von der Nachtfahrt in den Paumotus.

Bei Tagesanbruch, am 9. September, begannen wir Kauehi zu umfahren und hatten nun Gelegenheit, die Geographie der Atolle aus nächster Nähe zu betrachten. Hier und da ragte die gegenüberliegende Seite auf, wenn sie hoch war; hier und da tauchte das uns zugekehrte Ende ganz unter und zeigte eine breite Wasserstraße in die Lagune hinein; hier und da waren beide Seiten gleich niedrig, und wir konnten durch den unterbrochenen Ring zum Seehorizont im Süden hinübersehen. Man stelle sich in vergrößertem Maßstabe den eintauchenden Ring eines Entenjägers vor, der mit grünem Schilf besetzt ist, um seinen Kopf zu verbergen – Wasser drinnen und draußen –, so hat man das Bild eines vollkommenen Atolls. Man stelle sich nun einen solchen Ring vor, der teilweise seines Schilfrandes beraubt ist, und man hat das Atoll Kauehi vor sich. Und um sich die beiden Küsten nahebei zu vergegenwärtigen, denke man an eine alte römische Heerstraße, die einen feuchten Sumpf durchzieht, hier versunken und dort sich wieder erhebend, gekrönt mit grünem Gestrüpp, nur an Stelle des stehenden Wassers der Marsch den lebendigen Ozean, der den schwachen Wall bald immer wieder bespült, bald unter sich begräbt. Die Eindrücke der letzten Nacht wurden also vom Tage bestätigt und änderten sich nicht. Wir segelten in der Tat auf einer Art Seestraße, die durch die Natur selbst geschaffen war, aber sie war nicht größer als manches Menschenwerk.

Die Insel war unbewohnt, alles war grünes Buschwerk und weißer Sand, zwischen durchsichtiges blaues Wasser gesetzt, selbst Kokospalmen waren selten, obgleich manche die leuchtende Farbenharmonie vervollständigten durch herabhängende goldgelbe Fächer. Lange Zeit bemerkten wir kein Leben außer dem der Pflanzen und hörten keinen Laut außer dem der Brandung. Schweigend und verlassen glitten diese schönen Küsten an uns vorüber, tauchten unter und erhoben sich wieder aus der See, mit dichtem Buschwerk überwuchert. Und dann erschienen ein oder zwei Vögel, flatternd und schreiend, schnell wurden sie zahlreicher, und bald sahen wir über unseren Köpfen eine ungeheure Fülle beschwingten Lebens. An dieser Stelle war die ringförmige Insel meistens unter Wasser und trug hier und da auf ihrer untertauchenden Fläche ein bewaldetes Inselchen. Über einem dieser Inselchen hingen und flogen die Vögel in unglaublicher Dichte wie Schwärme von Mücken oder zahmen Bienen; weiß und schwarz sausten sie durcheinander, erhoben sich und flatterten, und das Geschrei übertönte in schrillem, grellem Gekreisch die Stimme der Brandung. Wenn man irgendein Inseltal herabsteigt, verkündet ein nicht unähnlicher Laut die Nähe einer Mühle und eines herunterstürzenden Baches. Streifend kamen einige, wie ich schon sagte, uns entgegengeflogen, einige umkreisten das Schiff, als wir wegfuhren. Der Lärm starb ab, das letzte Paar Flügel verschwand, und wieder flossen die Küsten von Kauehi an unserem Auge schweigend wie ein Gemälde vorüber. Ich vermutete damals, daß die Vögel wie unsere Ameisen oder Städter zusammenlebten, wo wir sie erblickten. Man hat mir aber später erzählt – ob zuverlässig oder nicht, weiß ich nicht –, daß die ganze Insel oder ein großer Teil ähnlich bevölkert ist, und daß die Häufung auf einem einzigen Fleck der Beweis von der Anwesenheit eines Bootes mit Eiersammlern von einem bewohnten Nachbaratoll war. So daß hier bei Kauehi, wie am Tage vorher bei Taiaro, die »Casco« unter dem Feuer von Augen segelte, die man nicht ahnte. Und eines ist sicher richtig: daß selbst auf diesem schmalen Landstreifen eine Armee verborgen liegen könnte, ohne daß der vorüberfahrende Seemann ihre Anwesenheit erriete.


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