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Elftes Kapitel

Langschwein – Ein Hochsitz des Kannibalismus

Nichts erregt heftiger unsern Abscheu als der Kannibalismus, nichts erschüttert mit größerer Sicherheit die menschliche Gesellschaft, nichts, so könnten wir schließen, muß die Gemüter derjenigen, die ihm anhängen, sosehr verhärten und entwürdigen. Und doch machen wir auf Buddhisten und Vegetarier einen ganz ähnlichen Eindruck. Wir verzehren die Leiber von Geschöpfen, die uns verwandte Neigungen, Leidenschaften und Organe haben, wir essen Junge, wenn auch nicht unsere eigenen, und der Schlachthof hallt täglich wider von Schreien der Qual und Furcht. Wir machen Unterschiede, das ist wahr, aber die Abneigung vieler Nationen gegen das Fleisch von Hunden, Tieren also, mit denen wir aufs innigste zusammenleben, zeigt, wie fragwürdig die Unterscheidungen begründet sind. Das Schwein ist die Hauptnahrung der Eingeborenen auf den Inseln, und ich hatte oft Gelegenheit, da meine Phantasie durch die Kannibalenumgebung angeregt war, den Charakter dieses Tieres und die Art seines Todes zu beobachten. Viele Insulaner leben mit den Schweinen wie wir mit unseren Hunden; beide bewegen sich in gleicher Freiheit in der Nähe des häuslichen Herdes, und das Inselschwein ist ein Kerl voll Lebendigkeit, Unternehmungslust und Klugheit. Es schält seine Kokosnüsse selbst und rollt sie, wie man mir erzählte, in die Sonne, damit sie platzen; es ist der Schrecken der Schafhirten!. Die alte Frau Stevenson beobachtete, wie eines in die Wälder flüchtete mit einem Lamm in der Schnauze, und ich sah, wie eines plötzlich zu der Überzeugung kam, die »Casco« ginge unter; es schwamm durch die Sturzwellen zur Reeling, um sich zu retten. Man erzählte mir in der Jugendzeit, daß Schweine nicht schwimmen können; ich habe eines gekannt, das über Bord sprang, vierhundert Meter schwamm bis zur Küste und zum Hause des früheren Besitzers zurückkehrte. Ich hatte einst, in Tautira, eine Schweinezüchterei von ziemlichem Ausmaß; zunächst herrschte in meinem Stall äußerste Zutraulichkeit; eine junge Sau mit Leibschmerzen kam herbei und flehte wie ein Kind um Hilfe; und ein stattlicher schwarzer Eber, den wir Catholicus nannten, weil er ein Sondergeschenk der Katholiken des Dorfes war, zeigte sehr bald Mut und Freundschaftlichkeit. Kein anderes Tier, weder Hund noch Schwein, durfte sich ihm nähern, wenn er fraß, und für menschliche Wesen bewies er das höchste Maß jener untertänigen Zuneigung, die den niederen Tieren eigen ist. Eines Tages sah ich beim Besuch der Schweineställe zu meinem Erstaunen, daß Catholicus sich mit Schreckensschreien vor jeder Annäherung zurückzog, und wenn ich über diese Veränderung verwundert war, so erschrak ich tatsächlich, als ich die Ursache erfuhr. Eines der Schweine war an jenem Morgen geschlachtet worden, Catholicus hatte den Mord beobachtet, er hatte entdeckt, daß er zwischen Schlachtbänken lebte, und von dieser Zeit waren Vertrauen und Lebenslust dahin. Wir verschonten ihn noch eine ganze Weile, aber er konnte den Anblick zweibeiniger Wesen nicht mehr ertragen, und wir unsererseits konnten unter diesen Umständen nicht ohne Verwirrung seinen Blicken begegnen. Ich habe übrigens dem Akt des Schlachtens in Hörweite beigewohnt; ich glaube, ich hätte vielleicht die Schmerzensschreie des Opfers ertragen, aber die Hinrichtung ging nicht glatt vonstatten, und der Ausdruck seines Entsetzens wirkte ansteckend: dies kleine Herz schlug nach derselben Melodie wie das unsere. Auf solchen »Fundamenten des Schreckens« ruht das Leben des Europäers, und doch gehört der Europäer zu den weniger grausamen Rassen. Die Schreckenskammer des Mordes, die brutale Zurichtung der Nahrung wird den Blicken verborgen; äußerste Empfindlichkeit herrscht an der Oberfläche, und Damen fallen in Ohnmacht, wenn man ihnen einen Bruchteil dessen schildert, was sie von ihren Metzgern täglich verlangen. Menschen werden sich in ihrem Innersten auch gegen mich empören wegen der Roheit meiner Worte. Und so steht es um die Inselkannibalen. Sie waren nicht grausam; abgesehen von dieser Sitte sind sie eine der liebenswürdigsten Menschenrassen; geradeheraus gesagt ist es weit weniger hassenswert, das Fleisch eines Menschen nach seinem Tode zu essen, als ihn zu Lebzeiten zu unterjochen, und selbst die Opfer ihres Appetits wurden im Leben nachsichtig behandelt und schließlich rasch und schmerzlos ins Jenseits befördert. In vornehmen Insulanerkreisen galt es ohne Zweifel als geschmacklos, bei dem, was widerwärtig war an dieser Sitte, länger zu verweilen.

Kannibalismus läßt sich von einem Ende des Pazifischen Ozeans bis zum andern nachweisen, von den Marquesas bis Neuguinea, von Neuseeland bis Hawaii, bald in vollster Blüte, bald in geringen, aber charakteristischen Überbleibseln. In Hawaii ist er am zweifelhaftesten. Wir finden Kannibalismus in hawaiischen Chroniken nur einmal in der Geschichte eines Krieges verzeichnet, scheinbar für eine Ausnahme gehalten, wie etwa bei jenen Verbrechern aus den Gebirgen, die durch die Hand des Theseus fielen. In Tahiti hat sich ein einziger Beweis erhalten, aber er scheint schlußkräftig zu sein. In historischen Zeiten bot man, wenn Menschenopfer in den Tempeln dargebracht wurden, die Augen des Getöteten in aller Form dem Häuptling an: eine Delikatesse für den vornehmen Gast. Ganz Melanesien scheint verseucht. In Mikronesien, auf den Marschallinseln, die ich nur als Tourist kenne, konnte ich nicht die geringste Spur finden, und selbst in der Gilbertzone habe ich lange vergeblich geforscht und nachgefragt. Man erzählte mir allerdings Geschichten von Menschen, die während einer Hungersnot verspeist worden seien, aber das besagt nichts für mich, denn ähnliche Dinge geschahen unter demselben Druck bei allen Rassen und Generationen. Schließlich traf ich in einigen handschriftlichen Aufzeichnungen von Dr. Turner, die man mir in Malua einzusehen gestattete, auf einen vernichtenden Beweis: auf der Insel Onoatoa war die Strafe für Diebstahl, getötet und gegessen zu werden. Wie können wir diesen allgemeinen Brauch in einem so großen Gebiet erklären, unter Völkern so verschiedener Zivilisation und, trotz aller Vermischung, so verschiedenen Blutes? Welche Lebensbedingung war ihnen allen gemeinsam außer der, daß sie auf Inseln lebten, die keine oder nur geringe Fleischnahrung boten? Ich kann aus meinem Appetit nur schließen, daß es dem Menschen nicht bestimmt ist, nur von Pflanzenkost zu leben. Wenn unsere Vorräte auf den Inseln abnahmen, sehnte ich mich nach dem Tage, da die Sparsamkeit uns erlaubte, wieder einmal eine Büchse minderwertigen Hammelfleisches zu öffnen. Und in mindestens einer ozeanischen Sprache gibt es ein besonderes Wort für den Zustand, wenn der Mensch »hungrig auf Fisch« ist, Gemüse ihm nicht mehr genügen und seine Seele wie die der Hebräer in der Wüste sich nach Fleischtöpfen sehnt. Nimmt man die Beweise für Übervölkerung und drohende Hungersnöte hinzu, die wir bereits angeführt haben, so hat man meines Erachtens einigen Grund, mit den Inselkannibalen Nachsicht zu üben.

Man muß jedes Problem von zwei Seiten betrachten, aber es liegt mir fern, dies mehr als bestialische Laster entschuldigen zu wollen. Die höherstehenden polynesischen Rassen, wie die Tahitier, Hawaiier und Samoaner, waren über diese Sitte alle hinausgewachsen, und manche hatten sie teilweise schon vergessen, als Cook und Bougainville mit ihren Segelschiffen am Horizont auftauchten. Sie hielt sich nur auf einigen niedrigen Inseln, wo der Lebensunterhalt schwierig zu gewinnen ist, und unter unverbesserlichen Wilden wie den Neuseeländern und Marquesanern. Die Marquesaner verknüpften die Menschenfresserei mit dem ganzen Gewebe ihres Daseins, »Langschwein« war gewissermaßen Zahlungsmittel und Sakrament, es war der Lohn des Künstlers, betonte die historischen Erinnerungstage und war Anlaß und Höhepunkt jedes Festes. Heute müssen sie diese blutrünstige Verquickung büßen. Die Zivilverwaltung mußte in ihrem Kreuzzug gegen den Kannibalismus alle marquesanischen Künste und Belustigungen unterdrücken, fand sie ohne Ausnahme mit kannibalischen Elementen durchsetzt und brachte sie nacheinander auf die Liste der Verbote. Ihre Kunst im Tätowieren war einzigartig, die Ausführung wundervoll, die Zeichnungen herrlich und überwältigend, kein schönerer Schmuck für schöne Menschen! Anfangs mag es etwas Schmerz bereiten, aber ich bezweifle, ob es auf die Dauer so qualvoll ist wie die unedle europäische Damensitte des Schnürens, und sicher ist es viel gesünder. Und nun wurde es für notwendig befunden, diese Kunst zu untersagen. Ihre Gesänge und Tänze waren zahlreich, und das Gesetz mußte sie dutzendweise abschaffen. Sie stehen heute mit leeren Händen der Öde ereignisloser Tage gegenüber, und wer soll sie bemitleiden? Der Sanftmütigste muß gestehen, daß ihnen recht geschehen ist.

Der Tod allein konnte marquesanische Rache nicht befriedigen, das Fleisch des Opfers mußte gegessen werden. Der Häuptling, der Mr. Whalon gefangennahm, hatte den sehnlichsten Wunsch, ihn zu verspeisen, und glaubte sich gerechtfertigt, als er erklärte, es handle sich um einen Racheakt. Vor zwei oder drei Jahren ergriffen und töteten Talbewohner einen armen Wicht, der sie beleidigt hatte. Vermutlich war die Beleidigung schwer, sie konnten ihre Rache nicht unvollkommen lassen, und unter den Augen der Franzosen wagten sie nicht, ein öffentliches Gastmahl abzuhalten. Der Leichnam wurde also verteilt, jeder zog sich in sein Haus zurück, um den Ritus im geheimen zu vollziehen, und trug seinen Anteil an dem entsetzlichen Gericht in einer schwedischen Zündholzschachtel heim. Der Barbarismus des Dramas und die europäischen Gebrauchsgegenstände bieten der Phantasie Bilder ungeheuren Kontrastes. Aber noch bezeichnender ist ein anderer Vorfall aus dem Jahre 1888, als ich mich selbst dort befand. Im Frühling trieben sich ein Mann und eine Frau in der Nähe der Schule von Hiva-oa umher, bis sie ein bestimmtes Kind allein antrafen. »Bist du der und der, der Sohn von Soundso?« fragten sie und lockten es unter Liebkosungen tiefer hinein in die Wälder. Irgendein Instinkt erwachte in der Brust des Kindes, oder irgendein Blick verriet ihm das entsetzliche Vorhaben der Betrüger. Es versuchte ihnen zu entfliehen und schrie, aber sie ließen die Maske fallen, packten es fester und fingen an zu laufen. Seine Schreie wurden gehört, Schulkameraden, die in der Nähe spielten, eilten zu seiner Rettung herbei, aber das grausame Paar floh und verschwand in den Wäldern. Es wurde nie ermittelt, kein Strafgericht folgte, aber man nahm allgemein an, daß sie Groll hegten gegen den Vater des Knaben, den sie aus Rache zu verspeisen beschlossen. Überall auf den Inseln kann man, wie bei unseren Vorfahren, beobachten, daß der Rächer es nicht auf eine bestimmte Person absieht. Familie, Klasse, Dorf, ein ganzes Tal oder eine Insel, ein ganzer Stamm haben teil an der Schuld eines ihrer Angehörigen. So mußte in unserer Erzählung der Sohn an Stelle des Vaters büßen, und Mr. Whalon, der Steuermann eines amerikanischen Walfischfängers, sollte für die Freveltaten eines peruanischen Sklavenhändlers bluten und verspeist werden. Ich erinnere mich eines Vorfalls in Jaluit auf der Marschallgruppe, den mir ein Augenzeuge berichtete, und den ich hier wiedergebe wegen seiner Eigenartigkeit. Zwei Männer hatten das Mißfallen der Jaluithäuptlinge erregt, und ihre Frauen wurden zur Bestrafung herangezogen. Ein einzelner Eingeborener vollzog die Hinrichtung. Am frühen Morgen watete er angesichts einer großen Menschenmenge zwischen seinen Opfern hinaus zu den Riffen. Die Frauen klagten und sträubten sich nicht, begleiteten geduldig ihren Henker, tauchten auf seinen Befehl unter, als sie tief genug hineingelangt waren, er legte seine Hand auf die Schultern der beiden und hielt sie unter Wasser, bis sie ertrunken waren. Ohne Zweifel standen ihre Familien laut wehklagend am Ufer, obgleich mein Gewährsmann mir nichts darüber berichtete.

Von Hatiheu aus besuchte ich zum erstenmal einen Hochsitz des Kannibalismus.

Der Tag war schwül und trübe. Heftige Tropenschauer wechselten mit glühendem Sonnenschein. Der grüne Fußpfad wand sich steil aufwärts. Unser kleiner Führer, ein Schuljunge, ging etwas voraus, und Pater Simeon hatte sein Skizzenbuch in der Hand, benannte die Bäume für mich und las mir aus seinen Notizen laut ihre Hauptvorzüge vor. Plötzlich bot der ansteigende Weg einen freieren Ausblick in das Tal von Hatiheu, und der Priester deutete, indem er den Führer gelegentlich fragte, die Grenzlinien an und nannte mir die Namen der größeren Stämme, die früher in ewigem Kriege miteinander lagen: einer wohnte im Nordosten, ein anderer am Strand, der dritte dahinten auf den Bergen. Mit einem Überlebenden des letzteren hatte Pater Simeon gesprochen: bis zum Friedensschluß war er nie bis zur Meeresküste gekommen und hatte, wenn ich mich recht erinnere, niemals Seefische gegessen. Die Stämme lebten abgeschlossen für sich in ihrem Distrikt, eingepfercht und belagert. Kam eine Hungersnot, so mußten die Männer in die Wälder gehen, um Kastanien und kleine Früchte zu sammeln; selbst heute noch müssen die Schulen geschlossen und die Schüler zum Proviantieren ausgesandt werden, wenn die Eltern mit ihren wöchentlichen Abgaben im Rückstand sind. Aber in alten Zeiten herrschte bei allen Nachbarn höchste Tätigkeit, wenn ein Stamm in Schwierigkeiten war, man legte überall in den Wäldern Hinterhalte, und wer für sich selbst Früchte sammeln wollte, konnte schließlich als Braten für seine Erbfeinde enden. Es bedurfte nicht einmal einer besonderen Veranlassung. Ein Dutzend verschiedener Naturanzeichen und sozialer Ereignisse trieben dies Volk auf den Kriegspfad und zur Menschenjagd. Mochte jemand von Häuptlingsrang seine Tätowierung beendet haben, das Weib eines anderen sich ihrer Niederkunft nähern, zwei der Bergströme ihr Bett näher zur Bucht von Hatiheu verlegt haben, der Gesang eines gewissen Vogels gehört, eine bestimmte bedeutungsvolle Wolkenbildung über der nördlichen See beobachtet worden sein: sofort wurden die Waffen geölt, und die Menschenjäger schwärmten durch den Wald und legten ihre Fallen für den Brudermord. Es scheint auch, daß sich der Priester bisweilen, vielleicht bei einer Hungersnot, in sein Haus einschloß, wo er eine bestimmte Zeit wie tot dalag. Kam er wieder zum Vorschein, so rannte er drei Tage lang nackt und ausgehungert durch das Gebiet des Stammes und schlief nachts allein auf dem Hochsitz. Dann mußten die andern das Haus hüten, denn es bedeutete Tod, dem Priester auf seinen Runden zu begegnen. Am Abend des vierten Tages war der Lauf zu Ende, der Priester kehrte zu seiner Wohnung zurück, das Volk erschien wieder, und am Morgen wurde die Zahl der Opfer verkündet. Ich kann diese Erzählung von dem Priester nur auf eine Autorität – ich glaube, eine gute – zurückführen. Die Einzelheiten sind so sonderbar, daß ich annehme, man hätte sie öfter erwähnen müssen, wenn sie wahr wären. Über einen Punkt scheint kein Zweifel: die Festessen wurden manchmal mit Material aus dem eigenen Stamm bestritten. In Zeiten des Mangels hatten alle, die nicht durch Familienbeziehungen geschützt waren – nach einem schottischen Hochlandsausdruck alle Gemeinen der Sippe – Ursache zu zittern. Widerstand oder Flucht waren vergeblich und fruchtlos. Sie waren auf allen Seiten von Kannibalen eingeschlossen, und der Bratofen stand bereit für sie draußen im Lande der Feinde oder zu Hause im Tal ihrer Väter.

An einer bestimmten Ecke des Weges bog unser jugendlicher Führer zur Linken ab in die Dämmerung des Waldes. Wir befanden uns nun auf einem der uralten Eingeborenenpfade, eingebettet in hohe Waldgewölbe, scheinbar ziellos hinaufkletternd über Steinblöcke und abgestorbene Bäume, aber der Junge wand sich ein und aus, hinauf und hinunter, ohne Zögern, denn diese Wege sind für die Eingeborenen so gut zu erkennen wie für uns eine königliche Heerstraße, so daß man sie in den Zeiten der Menschenjagden sogar zu verrammeln oder unkenntlich zu machen versuchte, anstatt sie zu verbessern. In der Höhle des Waldes war die Luft feucht und heiß und kalt, zu unseren Häupten rauschte der Tropenregen brausend auf die Blätter nieder, aber nur hier und da fiel wie durch Löcher eines lecken Daches ein einzelner Tropfen herab und machte einen Fleck auf meinen Regenmantel. Nach einer Weile stand der gewaltige Stamm eines Banyan vor uns, er schien zwischen den Ruinen eines uralten Forts zu wurzeln, und unser Führer hielt an, streckte den Arm aus und verkündete, daß wir beim » paepae tapu« angelangt seien.

Paepae bezeichnet einen Fußboden oder eine Plattform, auf der ein Eingeborenenhaus errichtet wird, und selbst solch ein Paepae, ein » paepae hae«, kann in einem gewissen Sinne als tabu bezeichnet werden, wenn es verlassen und von Geistern bewohnt ist. Aber der öffentliche Hochsitz, den ich jetzt betrat, war eine außerordentlich wichtige Stätte. Soweit mein Auge das dichte Unterholz durchdringen konnte, war der Boden des Waldes gepflastert. Drei Terrassenstufen liefen am Abhang des Hügels entlang; davor umschloß eine abbröckelnde Rampe die Hauptarena, deren Bodenbelag an verschiedenen Stellen von Brunnenlöchern durchbohrt und von kleinen Gehegen unterbrochen war. Vom Oberbau war keine Spur mehr erhalten, der Bauplan des Amphitheaters war schwer zu erkennen. Ich besuchte einen anderen Hochsitz auf Hiva-oa, kleiner aber vollkommener, wo man deutlich Sitzreihen und isolierte Ehrenplätze für hervorragende Persönlichkeiten wahrnehmen konnte, und wo auf der oberen Plattform ein einzelner Gerüstbalken des Tempels oder Totenhauses stehengeblieben war, dessen Pfeiler reich geschnitzt waren. In alten Zeiten wurde der Hochsitz sorgfältig gepflegt. Kein Baum außer dem heiligen Banyan durfte auf seinen Stufen wuchern, kein welkes Blatt auf dem Bodenbelag verfaulen. Die Steine waren sorgsam gelegt, und man erzählte mir, daß man ihnen durch Öl Glanz verlieh. Auf allen Seiten waren Wächter in Schutzhütten untergebracht, um den Platz zu behüten und zu reinigen. Der Fuß keines anderen Menschen durfte sich ihm nähern, nur der Priester kam in den Zeiten der Läufe zum Schlafe dorthin und träumte vielleicht von seiner gottlosen Sendung. Aber zur Zeit des Festes erschien der ganze Stamm geschlossen auf dem Hochsitz, jeder einzelne hatte seinen bestimmten Platz. Es gab Sitze für die Häuptlinge, den Trommler, die Tänzer, die Frauen und die Priester. Die Trommeln, etwa zwanzig an der Zahl, manche zwölf Fuß hoch, erdröhnten unaufhörlich im Takt. Im Takt ließen die Sänger ihren langgezogenen, finsteren, heulenden Gesang ertönen, im Takt schritten und sprangen auch die Tänzer einher, wunderbar zierlich, herausgeputzt, sie schwärmten gestikulierend umher und ließen ihre federgeschmückten Finger wie Schmetterlinge durch die Luft flattern. Die Empfindung für den Rhythmus ist bei allen ozeanischen Völkern außerordentlich stark ausgeprägt, und mir scheint, als ob bei solchen Festen jeder Ton und jede Bewegung in eins verschmolz. Um so einheitlicher mußte die Erregung der Festteilnehmer wachsen, und um so wilder mußte die Szene jedem Europäer erscheinen, der sie dort in greller Sonne und im tiefsten Schatten der Banyanen beobachtet hätte: eingerieben mit Saffran, um die Arabesken der Tätowierung höher hervortreten zu lassen, die Frauen in tagelanger Zurückgezogenheit zu beinahe europäischer Hautfarbe gebleicht, die Häuptlinge gekrönt mit silbernen Federn aus Barthaaren alter Männer und gegürtet mit Haarsträngen toter Frauen. Inselgerichte aller Art wurden inzwischen für die Frauen und Männer aus dem Volke aufgetragen; und für diejenigen, die das Vorrecht hatten, davon zu essen, wurden Körbe mit »Langschwein« zum Totenhaus geschleppt. Man erzählt, daß sich die Feste lange ausdehnten, das Volk kehrte erschöpft von den tierischen Ausschweifungen heim, die Häuptlinge gestopft voll von ihrer bestialischen Speise. Gewisse Gefühle nennen wir ausdrücklich menschlich, und wir verweigern denen, die ihrer entraten, diese ehrenvolle Bezeichnung. Bei solchen Festen –, besonders wenn das Opfer in der eigenen Heimat erschlagen war und die Leute die Überreste eines armen Kameraden verspeisten, der mit ihnen in der Jugend gespielt, oder einer Frau, deren Gunst sie einst genossen – wurden alle diese Empfindungen mit Füßen getreten. Überlegt man sich alles das eingehender, so versteht, ja verzeiht man die eifernde Gerechtigkeit alter Schiffskapitäne, die ihre Kanonen laden und Feuer eröffnen ließen auf eine Kannibaleninsel, die sie passierten.

Und doch war es sonderbar. Dort, am Hochsitz selbst, als ich unter dem hohen, tropfenden Gewölbe des Urwaldes stand, den jungen Priester in seiner Kutte auf der einen, den helläugigen, marquesanischen Schulknaben auf der anderen Seite, schienen alle diese Dinge unendlich fernzuliegen, in der kühlen Perspektive und dem kalten Licht der Geschichte. Vielleicht beeinflußte mich das Benehmen des Priesters. Er lächelte, er scherzte mit dem Knaben, dem Nachkommen sowohl der Festteilnehmer wie der Opfer, er klatschte in die Hände und sang mir eine Strophe der alten grausigen Chorgesänge vor. Jahrhunderte mochten vergangen sein, seit das furchtbare Spiel auf diesem Theater zum letzten Male aufgeführt worden war, und ich betrachtete den Platz ohne größere Erregung, als ich sie bei einem Besuch von Stonehenge empfunden hätte. Als ich in Hiva-oa wahrnahm, daß die Sitte verborgen dicht neben mir noch lebte, so daß ich des Aufschreis eines in die Falle gegangenen Opfers möglicherweise gewärtig sein mußte, versagte die historische Betrachtungsweise vollständig, und ich verspürte einige Abneigung gegen die Eingeborenen. Aber auch hier bewahrten die Priester ihre Heiterkeit, sie neckten die Kannibalen, als ob es sich um absonderliche, nicht aber um entsetzliche Dinge handele, und suchten sie durch gutmütigen Witz und Erweckung des Schamgefühls von der Sitte abzubringen, wie man ein Kind beschämt, um es vom Zuckernaschen zu entwöhnen. Wir können hier den milden und klugen Geist des Bischofs Dordillon wiedererkennen.


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