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Wer weiß denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk aller Instrumentalisten sein soll, weil man sich in allen Stücken dem Natürlichen, soviel es immer möglich ist, nähern muß?
Leopold Mozart.
Eine Musik, recht vorgetragen, wiegt sich wie ein Stück des Himmels, und sieht aus dem reinen Äther in unser Herz, und zieht es hinauf. Und was ich einzig und allein im Ton hören will, ist die Begeisterung. Einen tragischen oder göttlichen Enthusiasmus gibt es, der herausklingend jeden Zuhörer von seiner menschlichen Beschränktheit erlöst.
Tieck.
Unter den Besuchern von Orchesterkonzerten mit klassischer Musik und von Liederabenden pflegt die weibliche Jugend zu überwiegen; die männliche Jugend zieht Klavierabende und Orchesterkonzerte mit moderner Musik vor; Kammermusikabende locken vor allem die älteren Leute an. Wer je in jungen Jahren Gelegenheit hatte, ein Berliner Konzert des Joachim-Quartetts zu besuchen, der wird beim Eintritt in den Saal zunächst ein bedrückendes Gefühl gehabt haben: Eine ganz ungewohnte Stille, viel weißhaarige Damen und noch mehr alte Herren mit Notenbüchern, nirgends die frohen Farben der Jugend, überall ernste, strenge Mienen, – wars nicht wie in einer Kirche? Ebenso feierlich und ebenso unfroh? Was man dann hörte, klang gewiß auch dem jungen Hörer ergreifend, ward ihm zu einem unvergeßlichen inneren Erlebnis; und doch sehnte er sich heimlich hinaus ins Freie. Elementare Leidenschaftsausbrüche, ein Schwelgen in farbenprächtigen Harmonien, jubelnder Frohsinn, – das fehlte hier. Die Musik erschien so unjugendlich wie das Publikum: Ernst, würdig, gelehrt dünkte sie den Hörer, niemals himmelhoch jauchzend, niemals zum Tode betrübt, sondern stets abgeklärt, maßvoll und weise. Durfte man gestehen, daß man sich viel, viel mehr zu einer anderen Musik hingezogen fühlte, vor der man zwar weniger Hochachtung empfand, die man aber mit wahrer Inbrunst in sich einsog, die einem die Sinne verwirrte und das Herz bis zum Halse hinaufschlagen ließ? Liszt und Wagner wollten wir damals hören, auch Chopin, Hugo Wolf und Richard Strauß, aber möglichst wenig Klassisches und vor allem keine Kammermusik. Das war etwas für unsere Väter, für Wagnerfeinde, für Konservative, für Professoren und andere altmodische Leute. Von Grieg kannten und liebten wir eine Anzahl Klavierstücke, ohne freilich für sie zu »schwärmen«; dazu waren sie uns zu wenig »aufregend«. Und dann sagte einer gelegentlich: »Grieg hat auch Kammermusik geschrieben; aber sie ist einfach entzückend.« Ungläubige Gesichter der andern. »Nein wirklich; sie klingt nämlich gar nicht wie … Kammermusik.« Nun waren wir doch neugierig, und nach eingehender Prüfung stellten wir dann mit großer Genugtuung fest, daß Griegs Sonaten und ebenso sein Quartett tatsächlich »keine Kammermusik« seien. (Die Musikkritiker und die älteren Musikfreunde machten damals ähnliche Feststellungen, allerdings mit ganz anderen Gefühlen als wir.)
Seitdem sind etwa zwanzig Jahre vergangen, aber noch heute mag es zweifelhaft erscheinen, ob Griegs drei Violinsonaten (op. 8, 13 u. 45) wie auch seine Violoncellosonate (op. 36) zur Kammermusik gezählt werden können; denn eine Tonsprache, wie sie hier angewandt wird, ist weit entfernt von dem strengen Stil, den wir als Hauptcharakteristikum eines Kammermusikwerkes ansehen. Griegs Musik reicht in seinen Sonaten vom einfachen Volkstanz bis zu ekstatischen Gefühlsausbrüchen in freien Formen; und das gefällt denen nicht, die in einen Kammermusiksaal wie in einen Tempel oder in ein Amtszimmer zu treten gewohnt sind. Beherrschung der Leidenschaften scheint ihnen hier erstes Gebot; und tanzen kann man ja anderswo. Aber wir wollen doch nicht gar so feierlich und gar so griesgrämig sein. Es ist Zeit, daß man in Tempeln und Amtsstuben Fenster und Türen weit aufmache, daß man Luft und Licht, Sonne und Frohsinn hereinlasse. Wenn das Leben draußen vorbeiflutet, wenn man sich gegen das Leben abschließt, dann werden die Tempel leer bleiben und die Amtsgebäude schließlich nur noch ein Gegenstand des Spottes sein.
Grieg hat die überkommenen Formen mit neuem, frisch pulsierendem Leben zu füllen versucht, und wo sie sich als zu eng erwiesen, da hat er seine Musik sorglos durch Fugen und Risse quellen lassen. So ist denn die ganze Architektur ein bißchen in die Brüche gegangen und etwas recht eigenartig Geformtes herausgekommen, das in kein Schubfach passen will. Das eine ist zu groß, das andere zu klein, das dritte zu breit, das vierte zu schmal, und solche Unstimmigkeiten ärgern uns Deutsche allemal ganz gewaltig. Man könnte ja schließlich neue Schubfächer bauen, die zu den neuen Formen passen; aber damit wollen wir uns nicht aufhalten, denn es ist uns ja gar nicht darum zu tun, Griegs Kammermusik irgendwo fein säuberlich wegzuschließen, sondern wir wollen sie im Gegenteil aus dem Winkel hervorholen, in dem sie verstaubt, und sie dahin bringen, wo noch mit jugendlichem Überschwang musiziert wird. Diese Musik taugt nicht für den Studiertisch; man wird sie auch nicht während des Vortrags in großen Notenbüchern nachlesen; denn zu »konstatieren« ist hier nicht viel, jedenfalls nichts Wesentliches.
Eigentlich müßte man sie so vortragen, wie die Ungarn ihre Musik spielen: ganz frei, mit stärkster Hervorhebung aller Gefühlswerte, vor allem unakademisch, ohne jede Pedanterie. Mitgerissen soll der Hörer werden, mögen auch die Notenköpfe ein bißchen kraus durcheinanderwirbeln. Hier ist der Geist, das Gefühl alles; der Buchstabe, der Notenkopf nichts. Denn nicht etwas Fertiges, Definitives, nicht ein Ding an sich wollen die Notenblätter sein, sondern nur eine Beschreibung von Erlebnissen und zugleich ein Ansporn, eine Anleitung zum Musizieren. Das ideale Publikum für Griegs Kammermusik wären daher eigentlich die Spieler selbst; handelt es sich doch um eine Musik, die man nicht für Zuhörer, sondern zur eigenen Freude spielen soll.
Was sind den Kindern die Burgen und Schlösser, die die andern Kinder bauen? Selber machen, wenn auch nach einer Vorlage, darin liegt alles Glück! So ist es auch bei Griegs Musik. Da heißt es zupacken, nicht aus der Ferne bewundern; nur wer sich mit ihr seine eigenen Luftschlösser baut, wird sie von Herzen lieben. Auch der Zuhörer kann ja wohl in Gedanken aufbauen; er darf nur nicht dasitzen und darauf warten, daß die Musik zu ihm kommen, in ihn hineindringen möge. Darüber wollen wir uns doch klar sein: Künstlerische Genüsse vermag sich niemand mit einer Eintrittskarte zu einem Konzertsaal zu erkaufen, und der Musikalienhändler kann sie auch nicht mit den Noten frei ins Haus liefern. Ganz ohne geistige Anstrengung verschafft sie sich keiner; aber die Hauptsache ist und bleibt jugendliche Begeisterungsfähigkeit und kindhafte Einbildungskraft. Wir müssen schon werden wie die Kinder, wenn wir in das Paradies kommen wollen, das uns die Künstler hier auf Erden erschaffen haben. –
Wenn man die drei Geigensonaten nach ihrer Entstehungszeit benennen will, so kann man von einer Kopenhagener, einer Christianiaer und einer Hardanger Sonate sprechen. Die erste stammt also von einem noch Werdenden, die zweite ist eine Arbeit aus Griegs bester Zeit und die dritte das Werk eines Einsamen. Ihrem Inhalt nach unterscheiden sich die beiden ersten Sonaten nur wenig; die eine trägt mehr idyllische Züge, die andere mehr tanzartigen Charakter; beide werden weit überragt von der dritten, der tragischen Sonate.
Geige und Klavier sind zwei so verschiedenartige Instrumente, daß ihre Vereinigung nur dann künstlerischen Wert hat, wenn irgend ein Kampf zwischen ihnen ausgefochten wird. Solange die beiden Instrumente friedlich neben einander herlaufen, wird die Violine mit der Melodie ohne weiteres die Führung übernehmen und dem ein ganzes Orchester in sich schließenden Klavier die unwürdige Rolle eines Begleitinstruments aufdrängen. Dadurch entsteht jene üble Musikgattung, die man als Salonmusik bezeichnet, obgleich sie in Salons weit weniger heimisch ist als in Kaffeehäusern. Wenn nun Grieg in seiner ersten Geigensonate idyllische Stimmungen ausdrücken wollte, so lag die Gefahr einer Vertauschung des Kammermusikstils mit dem Salonstil sehr nahe. Gegen diese Gefahr gab es ein gutes Vorbeugungsmittel: motivische Arbeit. Daß es an ihr nicht fehle, sehen wir auf den ersten Blick; aber statt die beiden Instrumente Zwiesprache halten zu lassen, begnügt sich Grieg zumeist mit Wiederholungen und Nachahmungen, so daß Geige und Klavier zwar einander gleichwertig gegenüberstehen, aber doch immer wieder dasselbe sagen. Zu Meinungsverschiedenheiten kommt es selten, was ja an sich dem Charakter der Idylle entspricht; immerhin ist das Klavier im ersten Satz etwas gar zu sehr in die Geige verliebt, wenn es alles getreulich nachbetet, was diese zu sagen hat. Daß das Gespräch in munterem Wechsel von einem Thema zum andern überspringt, zeigt hinreichend, wie wenig wichtig den beiden Instrumenten ihre Unterhaltung ist. Tiefsinnige Probleme werden nicht behandelt; dafür findet die Freude an der Natur einen sehr anmutigen Ausdruck. Frisch und heiter zieht das Ganze am Hörer vorbei. Und wenn der hübsche, leichtflüssige Satz nicht von Grieg wäre, so könnte er auch von Gade sein. Dann folgt ein Allegretto, das uns aus Dänemarks Waldungen nach den Bergen Norwegens entführt. Der Anfang gemahnt schon leise an die ersten Takte des Klavierkonzerts mit seinen charakteristischen Terzensprüngen. In gemessenen Tanzschritten bewegt sich der erste Teil, während das Trio den lebhafteren Rhythmen des Springtanzes folgt. Ein langsamer, »getragener« Satz fehlt; dafür enthält der Schlußteil ein sehr schönes, kunstvoll durchgeführtes Gesangsthema. Recht hübsch ist hier, daß Grieg in der Mitte eine kleine Fuge beginnt, um sein Können zu zeigen; allerdings spinnt er den Faden nicht lange fort. Gehts nicht weiter, oder mag er nicht mehr? Das ist schwer zu entscheiden. Dieser letzte Satz wirkt in seiner mosaikartigen Zusammensetzung nicht sehr einheitlich, aber er ist so frisch und so voll von jugendlichem Überschwang, daß man den großen Erfolg gerade dieses Werkes begreift.
Die zweite Sonate beginnt mit einem Lento doloroso (im 2/4-Takt), dessen nordische Melodik und harmonische Feinheit die Aufmerksamkeit erregt. Nach dieser ernsten Einleitung erwartet man, daß große Probleme aufgerollt werden. Aber Grieg hat wohl an die Neunte gedacht (»O Freunde, nicht diese Töne«) und läßt sogleich einen Hymnus an die Freude im munteren ¾-Takt folgen. Da er Norweger ist, äußert sich sein Frohsinn in den Formen des Springtanzes, und das hat man ihm sehr übel genommen. Im ersten Satz einer Sonate ein Volkstanz, – unerhört! Dieser Grieg beginnt mit einer feierlichen Ansprache, dann aber zieht er sich den Rock aus und legt die Beine auf den Tisch; was soll man dazu sagen? Ja, es ist wirklich schröcklich. Und es kommt noch schlimmer. Dem Hauptthema (in Springtanzform) folgt, wie üblich, ein Gesangsthema; aber was macht dieser Norweger? Er nimmt sich eine Laute von der Wand, klingkling, und singt eine phantastische Ballade, in die sich bald der Springtanz spukhaft hineinmischt; und dann beginnt eine wilde, rhapsodische Erzählung, deren Schluß zugleich das Ende des ersten Satzes bildet. Ist das noch Kammermusik? Der Satz wird äußerlich der Sonatenform einigermaßen gerecht, hat ein Haupt- und ein Seitenthema, einen Durchführungsteil, eine Reprise, – aber in seiner halb elegischen, halb dramatischen Form erweist er sich als eine kleine symphonische Dichtung für Klavier und Violine. Und so stark er auch als Musikstück wirkt, in eine Sonate paßt er »eigentlich« nicht recht hinein. Der zweite Satz enthält einen Hauptteil, der mehrmals wiederholt und kräftig gesteigert wird, sowie ein Trio, aus dessen zartem Gesangsthema später die unvergleichlich schöne Romanze der tragischen Sonate entwickelt worden ist. Der letzte Satz, der gleich den beiden andern im ¾-Takt steht, hat dieselbe Tonart wie der erste Satz und ein Thema, dessen Verwandtschaft mit dem Gesangsthema des Trios aus dem zweiten Satze sich allmählich immer mehr enthüllt (vgl. Teil D Seite 25). Man sieht hier, wie sich Grieg mit dieser Melodie getragen hat, wie er sie immer wieder umgestaltet, bis sie dann ihre definitive Form in der Romanze der c-moll-Sonate findet. Dieser Schlußsatz der zweiten Violinsonate ist ein Tanzstück und will auch gar nichts anderes sein; insofern muß man wieder zugeben, daß er sich in einer Sonate etwas merkwürdig ausnimmt. Aber er enthält eine so wunderhübsche Musik, zeigt eine solche Sicherheit im Wurf und eine solche Feinheit in der Ausführung, daß man sich seiner freut, gleichgültig, wo man ihm begegnet. Es ist ein so lebensfrohes Sehnen und Dehnen, Jubeln und Jauchzen in ihm, daß man meint, sein Schöpfer müsse einer der glücklichsten Menschen gewesen sein …
Die dritte, Franz von Lenbach gewidmete Sonate zeigt, wie irrig diese Meinung ist. Entstanden mag das Werk ungefähr zu derselben Zeit sein wie das Quartett, die Vinje-Lieder und die Klavierballade. Meisterhaft, ja geradezu klassisch in der Form, von tiefstem Empfinden erfüllt, ragt es groß und einsam aus der nordischen Sonatenliteratur empor. Trotzig und wild sich aufbäumend, setzt der Gesang der Violine ein, von heftigen Schlägen des Klaviers unterbrochen; dann steigt er vom tiefsten Geigenton bis zur höchsten Höhe auf und schließt mit den herrischen Akzenten des Anfangs, während der Baß nach einmaligem lautem Aufstöhnen langsam in die Tiefe gleitet. Noch lange zittert die Erregung nach, bis dann der synkopierte Rhythmus zu einem friedvollen Seitenthema führt, das von der Geige begonnen, vom Klavier aufgenommen wird; es nimmt bald einen schmerzlich-sehnsüchtigen Charakter an, bis es sich schließlich in klagende Ausrufe auflöst. Noch einmal kehrt es in friedvoller Form wieder, senkt sich von der Höhe hernieder und löst sich wiederum auf. »Du kannst nicht erlöst werden durch die Liebe, auch nicht durch den Glauben«, scheint der Sinn dieses Teils zu sein. »Versuche dich selbst zu erlösen«, fügt der Komponist dann hinzu: Das Hauptthema erscheint nun, von Harfenklängen umwoben, in Vergrößerung und in Dur-Form. (Noch mehr als in der Moll-Form tritt hier der charakteristische Leitton-Sprung hervor.) Ganz leise erklingt es in den höchsten Regionen; aber schon steigt von unten die Moll-Form mit wehem Aufschrei empor. Zweimal wiederholt sich dieser Vorgang, dem ein langes, dumpfes Stöhnen mit kurzem, schwerem Atem folgt. Schließlich hört man nur noch ein leises Ächzen aus mühsam arbeitender Brust. Vor die Reprise wird nochmals das Hauptthema in Vergrößerung gestellt; sie endet mit dem Aufschrei, der das Thema in seiner Dur-Form unterbrach. Auch mit der Selbsterlösung ist es also nichts. »Trage dein Leid, trage es bis zu Ende, es bleibt dir nichts erspart, alle Erlösung ist Illusion.« So schließt der erste Satz düster und hoffnungslos.
Die Romanze, die den zweiten Satz ausfüllt, ist das Herrlichste, was Grieg auf dem Gebiete der Instrumentallyrik geschaffen hat. Schon äußerlich zeigt sich ihre Größe: der ohne Unterbrechung in steter innerer Steigerung frei ausströmende Gesang umfaßt bei seiner ersten Wiedergabe durch das Klavier 46 Takte. Nichts von der Kurzatmigkeit der Griegschen Lyrik ist hier zu merken; all die kleinen Mittelchen, die sonst der Verlängerung dienen, fehlen völlig; keine Flickstelle zeigt sich dem Auge des kritischen Beobachters. Hier ist eine unteilbare Einheit, aus der man nicht eine Note herausnehmen kann, ohne das Ganze zu zerstören. Dieser über die Maßen schöne Gesang (der sehr frei vorgetragen werden muß) spricht von dem tiefsten Sehnen, das eines Menschen Brust zu fassen vermag. »Eine Erfüllung meiner Sehnsucht«, sagt der Meister, »kann mir das Leben nicht bringen; aber mir gab ein Gott zu sagen, was ich leide; und so bin ich inmitten aller Erdenqual doch ein glücklicher Mensch.« Wundervoll fließen in den Harmonien Glück und Wehmut ineinander. Es bleibt nur zu bedauern, daß das Klavier (dieses so reiche und doch so armselige Instrument) keine akzentlosen Tonverbindungen, kein An- und Abschwellen der Töne kennt. Nebenbei sei hier erwähnt, daß man in Spanien aus den Werken Griegs eine Zarzuela (Spieloper) zusammengestellt hat (»La sonata de Grieg«), in der auch die Romanze erscheint. Wer sie zum erstenmal im Orchester gehört hat, wo nun die Tonflut langsam steigt und fällt, wo die Harmonien unmerklich ineinander übergehen und die leise klagenden Vorhalte sich sanft auflösen, der wird aufs tiefste bedauern, daß die Romanze auf dem Klavier nicht so klingen kann, wie sie Grieg innerlich gehört haben mag, als er sie komponierte. Nachdem das Klavier die Romanze vorgetragen hat, wird sie von der Violine mit gesteigertem Ausdruck wiederholt. Dann weicht die Vision, und die Wirklichkeit mischt sich in die Träume des Tondichters: Aus der Ferne dringen Klänge eines schwermütig-leidenschaftlichen Volkstanzes herüber. Nur langsam findet sich der Komponist in die Anfangsstimmung zurück, und kaum hörbar beginnt die Melodie in höchster Lage von neuem zu erklingen, einen halben Ton zu tief, bis dann die Erinnerung wieder ersteht und ein ergreifender Aufschwung im strahlenden E-dur erfolgt; in lichter Höhe verlieren sich die Schlußharmonien.
Der letzte Satz steht wie der erste in c-moll. Inmitten einer wildwogenden Triolenbewegung setzt das hämmernde Thema mit seinen heftigen Akzenten ein. (Es erinnert ein wenig an das Seitenthema im ersten Satze von Schuberts C-dur-Symphonie.) Arbeit! Arbeit! Rastlose Tätigkeit! Nur so kann man über die Not des Lebens hinwegkommen! Visionen wie im zweiten Teil sind nicht für den Alltag, und mit Träumen läßt sich ein Leben nicht ausfüllen. Aber, – kann man arbeiten mit kranker Brust? Eine tief erschütternde Klage in As-dur beginnt, die Melodie versinkt in As-moll und stockt. Wieder ertönt die gleiche Klage; dann hören wir nur noch eine flehentliche Bitte. Und nun stockt der Atem. Nur ein schwacher Ton noch. Dann nochmals die flehende Bitte. Wieder stockt der Atem. Versagt. – Befreit atmet man auf, wenn endlich die ruhelose Triolenbewegung wieder einsetzt. Sobald dann die Klage zum zweitenmal beginnt, wird sie von Harfenklängen umrauscht, und schließlich geht es mit dem hämmernden Thema der Arbeit chromatisch aufwärts bis zu einem reinen, leuchtenden C-dur. So endet das herrliche Werk mit kräftiger, mannhafter Lebensbejahung.
Die Violoncellosonate ist in der Grundstimmung des ersten Satzes der letzten Violinsonate verwandt, erreicht sie aber nicht an Ausdruckskraft. Das Hauptthema des ersten Teiles hat sogar einen Stich ins Banale, während das schön harmonisierte Seitenthema edle Linien zeigt und sehr wirkungsvoll ausgesponnen ist. In der Kadenz des ersten Satzes finden sich zum ersten Mal Anklänge an das Klavierkonzert; am Schlusse treten sie dann noch deutlicher hervor. Der zweite Satz beginnt mit einem schönen Gesangsthema, das Grieg in etwas veränderter Form auch für den »Huldigungsmarsch« aus »Sigurd Jorsalfar« (op. 56) verwandt hat; hier in der Sonate wirken die Wiederholungen der Melodienoten etwas störend. Das zweite Thema dieses Satzes ist ziemlich unbedeutend, wird aber sehr effektvoll herausgeputzt. Der dritte Satz beginnt mit einem Solo, das an die Einleitung zu Solvejgs Lied erinnert. Daran schließt sich wie im Klavierkonzert ein sehr fröhlicher Tanz in lebhaftem Tempo. Das Seitenthema ist aus der Tanzmelodie entwickelt und klingt recht einschmeichelnd. Im Durchführungsteil findet sich eine rhythmisch sehr belebte Zwiesprache zwischen den beiden Instrumenten, die mit einer prächtigen Cellomelodie endet. Eine sehr wirkungsvolle Coda bringt dann das Werk zu einem glänzenden Abschluß. Man muß ihm nachrühmen, daß es schwungvoll und sehr dankbar ist, auch stolz und sicher eigene Wege geht. Bei der Cellostimme fällt angenehm auf, daß eine gleichmäßige Ausnutzung des ganzen Tonumfangs erfolgt, während sonst die meisten Tonsetzer den Cellisten fast ausschließlich auf der A-Saite spielen lassen. An Vornehmheit steht die Violoncellosonate hinter der letzten Violinsonate weit zurück, ihre Wirkungen sind alle etwas grob und derb; sehr ideenreich ist sie auch nicht, aber sie klingt ganz vortrefflich, ist geschickt aufgebaut und wird daher beim Publikum ihres Erfolges stets sicher sein.
Der oft gebrauchte Satz: die Musik ist eine Poesie in Tönen, ist ebenso wenig wahr, als es der entgegengesetzte sein würde: die Poesie ist eine Musik in Worten. Der Unterschied dieser beiden Künste liegt nicht nur in ihren Mitteln; er liegt in den ersten Gründen ihres Wesens.
Grillparzer.
Die Musik ist das Ideal selbst, die bloßgelegte Seele aller Künste; eine Quelle hohen und reinen Genusses, die doch vielen völlig verschlossen ist, alle ermüdend, wenn sie ein bescheidenes Maß der Dauer überschreitet.
F. Th. Vischer.
Wie die Handlungen mancher Menschen durch einen Leitspruch beeinflußt werden, so steht Griegs Schaffen unter dem Einfluß eines Leitmotivs, das sich immer und immer wieder in seinen Werken findet. Es umfaßt nur drei Töne:
Oktave, Septime, Quinte,
denen oft andere nachfolgen, manchmal auch andere vorhergehen, ohne daß es dadurch unkenntlich würde. Zuweilen findet sich auch die Nebenform: Sexte, Septime, Quinte, oder es wird die Quinte zum Ausgangspunkt genommen, wodurch sich die Folge: Quinte, Quarte, Sekunde ergibt. (Der schon früher mehrfach erwähnte Leitton zur Quinte entsteht, wenn die Grundform des Motivs mit genau denselben Intervallen von der Quinte aus nachgebildet wird.) Dieses außerordentlich charakteristische Leitmotiv ist Grieg so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er ihm auch da verfällt, wo er etwas ganz anderes bringen will. Man denke nur an »Aases Tod«; hier trägt die rhythmische Gliederung dazu bei, daß man die drei ersten Melodienoten fis, h, cis, wie auch jede weitere Gruppe von drei Noten als eine Umkehrung des allgegenwärtigen Motivs empfindet, – das außerdem im zweiten bis vierten Akkord sichtbar in Originalform enthalten ist (h, ais, fis: Oktave, Septime, Quinte). In keiner seiner Sonaten hat Grieg sein Leitmotiv vergessen, und in seinem Streichquartett wie in seinem Klavierkonzert steht es sogar klar und deutlich am Anfang.
Die Einleitung des g-moll-Quartetts op. 27 beginnt mit den Noten g, f, d, also mit der Grundform des Motivs, das hier gleichsam als Titel wirkt. Das Hauptthema bringt dann mit einem kleinen Anlauf die Nebenform: es, f, d (Sexte, Septime, Quinte). Man wird hier an Beethovens c-moll-Symphonie erinnert, deren erstes Hauptthema auch durch Ausspinnen eines kurzen Motivs entsteht. Die Entwicklung ist bei Grieg sehr leidenschaftlich und bringt eine gewaltige Steigerung. Dann setzt das Seitenthema ein, dem wieder das gleiche Motiv zugrunde liegt, und zwar diesmal in der Durform (b, a, f in B-dur). Ganz außerordentlich interessant sind von jetzt ab die rhythmischen Veränderungen, die Grieg mit seinem Motiv vornimmt; zuerst, um es zu einem Gesangsthema auszugestalten; dann, um eine heftige Unterbrechung durch Viola und Violoncello herbeizuführen; schließlich, um ein heiteres Sätzchen anzufügen. Immer neue Formen gewinnt das Motiv dann weiter in der Durchführung und später in der Coda. Dieser erste Satz ist kunterbunte Mosaik; aber da wir in allen Verwandlungen immer wieder das gleiche hören, so kommt merkwürdigerweise doch ein ziemlich einheitlicher Eindruck zustande.
Der zweite Satz besteht wie in der dritten Geigensonate aus einer Romanze, die mit einem sanften, träumerischen Thema beginnt. Sobald die Melodie verklungen ist, erfaßt ein jäher Sturm die Instrumente, und ein schneller Lauf führt die erste Violine wieder zu dem kleinen Leitmotiv. Blitzartig taucht es in den durcheinander schwirrenden Stimmen bald hier, bald da auf, und die erste staccato gespielte, stark betonte Note durchschneidet dabei jedesmal heftig das Tongewirr, bis sich dann der Sturm legt und die Romanze wieder beginnen kann. Zweimal wird sie noch durch vorübergehendes Unwetter mit grellem Blitz unterbrochen, dann verklingt still und sanft der anmutige Gesang.
Es folgt ein Intermezzo, nicht weich und träumerisch in der Art Schumanns, sondern derb und trotzig mit straffer Rhythmik und kleinen, heiteren Episoden. Sein Thema ist wieder aus dem bekannten Leitmotiv gebildet, das hier mit der Oktave und daran anschließend mit der Quinte beginnt, wodurch sich eine Gelegenheit zur Verwendung von cis in g-moll (Leitton zur Quinte) ergibt. Neue melodische Gebilde, meist von winziger Größe, stellen sich ein, und ein synkopierter Rhythmus bildet das Band, das all die vielen verschiedenen Motivchen zusammenhält. Hübsch und lustig, aber allzu kurz, ist das Trio, das sich wieder aus lauter kleinen Teilchen zusammensetzt; Anklänge an Wagners Walkürenritt wirken hier sehr wunderlich.
Das Finale beginnt wie der erste Satz mit einer langsamen Einleitung, und wieder hören wir das Leitmotiv (diesmal von der Quinte und Quarte aus). Sobald es nacheinander alle Stimmen durchlaufen hat, setzt ein wilder Saltarello ein, also ein italienischer Springtanz, der hier in norwegischer Nationaltracht vorgeführt wird. Auch in ihm spukt das Leitmotiv allenthalben herum, bis es schließlich von der ersten Violine fortissimo in Oktaven gebracht und dann von allen vier Instrumenten unisono als Ausrufungszeichen an den Schluß gesetzt wird.
Dieses Quartett bildet ein Unikum in der musikalischen Literatur, da das gesamte thematische Material aus einem einzigen kleinen Motiv heraus entwickelt ist. So verschiedenartig die Themen klingen: überall läßt sich das gleiche Motiv als gemeinsame Wurzel nachweisen. Grieg hat dadurch eine einzigartige Geschlossenheit des Ganzen erreichen wollen; um ihretwillen ist er auch von der Grundtonart g-moll (und der zugehörigen Paralleltonart B-dur) in keinem Satz abgewichen. Der Gefahr der Eintönigkeit suchte er wiederum dadurch zu entgehen, daß er jedem der vier Sätze einen ganz anderen Stimmungscharakter gab und ein ganz anderes rhythmisches Schema zugrunde legte. Außerdem sollte auch die überaus sorgfältige motivische Kleinarbeit für die nötige Abwechslung sorgen. Das alles ist gewiß sehr originell, aber wenn Grieg den Zweck verfolgte, größte Einheitlichkeit mit größter Vielgestaltigkeit zu verbinden, so hätte er sich sagen müssen, daß dieser Zweck unerreichbar ist. Entgegengesetztes läßt sich nicht zu gleicher Zeit verwirklichen; man kann nur die innere Einheit bei äußerer Vielgestaltigkeit wahren, oder eine äußerliche Einheit trotz innerer Verschiedenheiten erzielen. Das erste wird man in der Regel von einem Kunstwerk erwarten, das zweite hat Grieg erreicht. Die vier Sätze seines Quartetts gleichen vier einheitlich gekleideten Kindern, die nicht zu einer Familie gehören; man ist entweder darüber verwundert, daß sie den gleichen Anzug tragen, oder darüber, daß sie nicht Geschwister sind.
Das will nun freilich nicht viel besagen, denn Grieg hätte ja sein Werk auch als ein »Suite« bezeichnen können, oder besser noch als »Vier Stimmungsbilder aus dem Hardanger für Streichquartett«. Bedenklicher ist, daß Grieg die vier Sätze für Streichinstrumente geschrieben hat, ohne den strengen Kammermusikstil, ja, ohne überhaupt einen Stil zu wahren. Streckenweise scheint seine Musik am Klavier erfunden und erst hinterher instrumentiert zu sein; sie ist daher auch nicht polyphon, sondern homophon, und klingt etwas trocken, abgerissen. (Weil das Pedal fehlt.) An anderen Stellen läßt Grieg ein Instrument singen und die andern nur begleiten, oder er sucht orchestrale Wirkungen zu erreichen. So wechseln mehrere Stilgattungen miteinander ab, und das Ganze gleicht ein wenig dem Hardanger Universalgericht, das alle möglichen schönen Sachen in einer Schüssel vereint. Manchem wirds gut munden; aber nach jedermanns Geschmack ist eine solche musikalische Kost sicherlich nicht. Immerhin hat das Quartett große Vorzüge; es klingt frisch und natürlich, läßt anmutige Bilder aus Fjeld und Fjord vor unserem geistigen Auge erstehen, denen sich heitere Szenen aus dem Volksleben anschließen, und zeigt dasselbe leidenschaftliche Empfinden wie die Sonaten.
Entstanden ist das Werk 1877/78 in Lofthus. Grieg hat es dem Geiger Robert Heckmann gewidmet, der es mit seinem Quartettgenossen 1878 in Köln zum ersten Mal erfolgreich aufführte. Im Anfang des Jahres 1879 wurde es dann in Leipzig gespielt und hier von der Presse so ungünstig beurteilt, daß jahrelang keine weiteren Aufführungen erfolgten. Später hat es sich doch noch allmählich in Deutschland eingebürgert, ist aber bei uns nie so beliebt geworden wie im Auslande.
Das früher erwähnte Konservatoriumsquartett (vgl. S. 30 f. u. 34) ist leider verschollen. Grieg hatte die Partitur einem Leipziger Studiengenossen übergeben, um dafür eine von diesem hergestellte Abschrift des Schumannschen Klavierkonzertes zu erhalten. Vielleicht existiert sie noch und kommt gelegentlich wieder ans Tageslicht.
Im Nachlaß fanden sich die beiden ersten Sätze eines Quartetts in F-dur; Julius Röntgen hat sie durchgesehen und dann veröffentlicht. Nach Form und Inhalt sind sie dem G-moll-Quartett ganz unähnlich, dagegen zeigen sie eine gewisse Verwandtschaft mit den beiden ersten Violinsonaten. Der erste Satz erinnert mit der Anmut und idyllischen Harmlosigkeit seiner Themen lebhaft an den ersten Teil der Kopenhagener Sonate; er erinnert aber auch noch an manche anderen Werke, die nicht von Grieg herrühren, sondern von Mendelssohn, Schumann, Wagner, Brahms und Mascagni. Auch der Schluß des Adagios aus Griegs Klavierkonzert klingt mit herein. Wertvoller ist der zweite Satz, ein phantastischer Springtanz, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ersten Teil der Tanzsonate hat. In seinem Trio begegnen wir einem lieben Bekannten: dem Albumblatt op. 28 Nr. 4. Rhythmisch bietet der fein gearbeitete Satz manches Neue, und in seiner Mischung von Freude und Schmerz ist er ganz norwegisch.
Weiter enthielt der Nachlaß noch ein Andante für Klavier, Violine und Violoncello aus dem Jahre 1878 sowie Skizzen zu einem Klavierquintett in B-dur. (Auch ein zweites Klavierkonzert, in h-moll, hatte Grieg begonnen.) Daß das Quintett nicht ausgeführt worden ist, wird man lebhaft bedauern. Zwar klingt der Anfang etwas konventionell, aber dann folgt ein wundervolles Gesangsthema, das zunächst vom Cello gespielt und danach von der ersten Violine aufgenommen wird, während das Klavier die religiöse Grundstimmung mit vollen Harmonien wiedergibt.
Ohne Klavier konnte Grieg schlecht auskommen, denn das Wesen der Kontrapunktik ist ihm zeitlebens fremd geblieben, und gerade seine Kammermusikwerke zeigen, wie sehr seine Erfindung im Harmonischen wurzelt. So war es wohl mehr künstlerischer Ehrgeiz als innerer Drang, was ihn veranlaßte, Musik für Streichinstrumente zu schreiben. Und darum wird seinem vollendeten wie seinem unvollendeten Quartett schwerlich ein ewiges Leben beschieden sein. Dagegen ist zu hoffen, daß seine Sonaten keinem Wechsel des Kunstgeschmacks zum Opfer fallen und selbst dann noch im Herzen vieler Musikfreunde fortleben werden, wenn sie längst aus den Konzertsälen verschwunden sind.