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Mich deucht, die Musik müsse vornehmlich das Herz rühren, und dahin bringt es ein Klavierspieler nie durch bloßes Poltern, Trommeln und Harpeggieren.
Phil. Em. Bach.
Es ist meine Überzeugung, daß der der Glücklichste ist, der seine Kompositionen selbst ausführen kann.
Fr. Chopin.
Griegs Klavierspiel war in rein technischer Hinsicht keineswegs hervorragend; breites Pathos und virtuoser Schwung fehlten seinem Vortrage ganz, schwierige Passagen kamen meist verwischt heraus, und ein schwerfälliger Daumenuntersatz verdarb oft die Wirkung der wichtigsten Stellen. Aber Meister Grieg hatte doch wieder einen Vorzug, der den Virtuosen fehlt: den typischen Komponistenanschlag. Das gleichsam hingehauchte, überaus weiche und doch satte pianissimo, dessen er fähig war, gelingt nur denen, die viel für sich in stillen Stunden phantasieren. Wer gehört hat, wie Max Reger seine Lieder begleitete, kann sich ein Bild davon machen, wie Grieg am Klavier zuweilen vor sich hin träumte. Daneben gelang ihm (gleich Reger) auch ein markiges, ja stahlhartes fortissimo, das aber immer »klaviermäßig« blieb, niemals in wüsten Lärm ausartete. Ganz wundervoll war Griegs poetische Auffassung der lyrischen Teile seiner Kompositionen, einzigartig auch eine Fülle von Klangschattierungen, wie man sie nur bei äußerst feinnervigen Pianisten (Ansorge, Sauer u. a.) zu hören bekommt. Dabei kamen oft Nebenstimmen zum Vorschein, die man bisher nicht beachtet hatte. In rhythmischer Hinsicht war sein Vortrag sehr wechselnd; Melodien dehnte er oft mit großer Freiheit, ja Willkür; pikante Rhythmen dagegen akzentuierte er stets mit mathematischer Genauigkeit. Alles in allem: ein vortrefflicher Kammermusikspieler, aber ein sehr mittelmäßiger Konzertpianist.
Über die Eigenschaften Griegs als Orchesterleiter läßt sich schwer ein Urteil fällen, da wir Nichtnorweger ihn immer nur seine eigenen Werke haben interpretieren hören und diese an das Können eines Dirigenten nur sehr bescheidene Anforderungen stellen. Außerdem ist ja Grieg mit guten Orchestern nur als Gastspieldirigent in Berührung gekommen; er hat also garkeine ausreichende Gelegenheit gehabt, seine künstlerischen Fähigkeiten als Dirigent zu erproben. Da er sich in Christiania und Bergen genug Erfahrung erworben hatte, um seinen Willen mühelos durchzusetzen, da es ihm ferner an suggestiver Kraft und fortreißender Leidenschaft nicht fehlte, so klangen seine Schöpfungen unter seiner eigenen Leitung, als ob sie während des Vortrages erst entstünden. Die Wirkung war daher viel stärker, wenn er selbst am Pulte stand, als wenn er anderen Dirigenten den Taktstock überließ. Grieg wußte das. Er scheute deshalb auch die körperlichen Anstrengungen nicht, die ihm seine zahlreichen Konzertreisen auferlegten. Besonders oft war er in London, Birmingham und anderen englischen Städten. Aber auch nach Deutschland, zumal nach Leipzig, München, Wien und Berlin kam er mehrmals. Daneben besuchte er Amsterdam, Brüssel, Paris, Kopenhagen, Stockholm, Prag, Warschau und andere Städte. Seine letzten Konzerte gab er in Berlin und Kiel. In Amerika ist er nur deshalb niemals gewesen, weil er die Seekrankheit fürchtete. »Ich kann sie einen Tag lang ertragen,« schrieb er, »aber nicht eine ganze Woche hindurch.« Auch wenn er von seiner Vaterstadt nach Christiania fuhr, benutzte er stets Wagen und Eisenbahn (trotzdem die Verbindung miserabel war); selbst kurze Seereisen vermied er, wo er nur konnte.
Seine größte Tat als Konzertgeber vollbrachte er 1898 durch Veranstaltung des ersten norwegischen Musikfestes in Bergen. Um seinen Landsleuten mustergültige Aufführungen zu bieten, ließ er das Concertgebouw-Orchester aus Amsterdam mit seinem Dirigenten Willem Mengelberg kommen, – was natürlich die einheimischen Chauvinisten ärgerte. Alle irgendwie bedeutenden norwegischen Komponisten kamen bei dem Musikfest zu Gehör, und der Erfolg war in jeder Hinsicht glänzend. Sechs große Konzerte wurden gegeben, und kein Platz in dem dreitausend Personen fassenden Saale blieb leer. Die Bergenser hatten etwas Ähnliches nie erlebt und feierten die anwesenden Komponisten wie die auswärtigen Künstler in der überschwenglichsten Weise. Zum Glück regnete es auch mal acht Tage lang nicht in Bergen, man konnte also gemeinsame Ausflüge machen, und alles war in frohester Feststimmung. Grieg selbst scheute keine Anstrengung, kein Opfer, und wurde, wo er sich zeigte, stürmisch umjubelt. Über seine Eindrücke spricht er sich begeistert in einem Briefe an seinen Verleger aus: »Das Fest war in jeder Beziehung ideal! Alles klappte! Ich habe nie bessere Aufführungen gehört, das Gewandhaus nicht ausgenommen. Alles ist voll Jubel und alle geben mir recht. Jetzt sagen die Leute in Bergen und Christiania: Wir müssen ein besseres Orchester haben! Das ist für mich der beste Triumph. Gestern bekam ich ein Telegramm von König Oscar, der mich beglückwünscht. Wieviel Champagner getrunken wurde, weiß ich nicht, jedenfalls aber gibt es vorläufig keinen Champagner mehr in dieser Stadt. Ich habe alles gewonnen. Das Fest war von den Göttern gesegnet! Denn so gesund wie jetzt habe ich mich lange nicht gefühlt. Ich bin aber froh, daß die Holländer fort sind. Denn mehr als acht Tage jeden Tag Festlichkeiten und fortwährend allen diesen Künstlern den Hof machen zu müssen, das konnte unmöglich fortgesetzt werden. Das Wetter war und ist herrlich! Ich bin zehn Jahre jünger geworden, Svendsen ebenfalls. Alle norwegischen Künstler sind glücklich; denn sie haben alle gefallen.«
Fünf Jahre danach feierte Grieg seinen sechzigsten Geburtstag. Auch dieses Fest bildet einen Lichtpunkt in seinem Leben. Außer zahlreichen Geschenken erhielt er etwa fünfhundert Briefe und Telegramme; das Orchester des Nationaltheaters von Christiania veranstaltete ihm zu Ehren in Bergen ein Konzert, und mit den Orchestermitgliedern sowie zahlreichen Kunstfreunden unternahm der noch rüstige Meister dann am nächsten Tag einen Ausflug. Ganz besonders freute ihn die Anwesenheit Björnsons, dessen beide Reden schon früher erwähnt worden sind. »Wahrhaftig, es war ein in meinem Leben einzig dastehendes Fest«, schreibt Grieg an Schjelderup. »Ich fühle mich von der tiefsten Dankbarkeit durchdrungen, denn ich ahnte nicht, daß ich so viele Freunde hatte.« In einem anderen Briefe heißt es: »Ich war frisch und munter und konnte dirigieren, Reden halten und sonst alles mögliche … Ich muß nicht vergessen, Ihnen zu erzählen, daß sich der ›Norwegische Brautzug‹ (für Orchester) wieder kolossal machte und wiederholt wurde. Ja, es war herrlich!«
Auch in seinen letzten Lebensjahren ist Grieg noch oft als Dirigent, Pianist und Liederbegleiter aufgetreten. Jedes Konzert bedeutete für ihn nicht nur eine außerordentliche Anstrengung, sondern zugleich eine seelische Qual. Vor Beginn war er stets so aufgeregt, daß er kaum ein Wort hervorbringen konnte. Er ging dann ruhelos im Künstlerzimmer umher und seine Blicke streiften bald den einen, bald den andern der Anwesenden mit einem rührenden Ausdrucke hilfloser Angst. Er fühlte sich nie des Erfolges sicher; darum war seine Freude auch immer so groß, wenn ihm dann das Publikum zujubelte. Manchmal sagte er leise für sich: »Nein, ein ganzes Konzert! Es ist zu viel, zu viel. Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!«
Die deutsche Reichshauptstadt liebte Grieg nicht sonderlich, weil seine Werke hier zum Teil keine günstige Aufnahme bei der Kritik gefunden hatten. Der etwas geringschätzige Ton, den sich gerade einige der unbedeutendsten Zeitungskritiker leisteten, war ihm so sehr auf die Nerven gegangen, daß er lange Zeit jede Einladung zum Konzertieren in Berlin ablehnte. Erst 1907 ließ er sich bewegen, ein Konzert in der Berliner Philharmonie zu geben. Als Mitwirkende hatte er die Wagnersängerin Ellen Gulbranson, die bekannte Schauspielerin Rosa Bertens (»Bergliot«) und den jungen Halfdan Cleve (Klavierkonzert) gewonnen. Die Kritik war auf Griegs ausdrücklichen Wunsch nicht eingeladen worden, aber doch erschienen. Am 12. April fand das Konzert statt; zwei Tage später wurde es wiederholt. Beide Male ausverkaufter Saal und enorme Begeisterung der Zuhörer. Es waren die letzten Erfolge, die Grieg als Dirigent und Klavierbegleiter errang. Für das kommende Jahr trug er sich mit großen Plänen: Bis nach Bukarest und Sofia wollte er reisen, wenn es seine Gesundheit erlaubte. Er hatte schon früher Anträge aus Balkanstädten erhalten, aber seine Honorarforderung (zweitausend Fr. pro Konzert und freies Hotel für zwei Personen) war ihm bisher nicht bewilligt worden. Madame Charles Cahier, deren Liedervortrag ihn entzückte, sollte bei den Balkankonzerten im Jahre 1908 mitwirken. (Seine Frau sang schon seit längerer Zeit nur noch in privaten Kreisen.) Aber es kam nicht mehr dazu …
Die allerschlimmste Krankheit ist das Leben, und heilen kann sie nur der Tod.
Heine.
Nun wirst du ruhn für immer,
Mein müdes Herz. Es schwand der letzte Wahn,
Der ewig schien. Er schwand. Ich fühl' es tief:
Die Hoffnung nicht allein
Auf holde Täuschung, auch der Wunsch entschlief.
So ruh' für immer. Lange
Genug hast du geklopft. Nichts hier verdient
Dein reges Schlagen, keines Seufzers ist
Die Erde wert.
Leopardi.
»Als ich ein Kind war,« schreibt Grieg 1897 an seinen Verleger, »konnte ich mir zu meinem Geburtstag mein Lieblingsgericht wählen. Man sollte sich auch seine Lieblingskrankheit wählen können. Aber so liebevoll ist Mutter Natur nicht.« Wäre es wirklich wünschenswert, daß die Natur dem Menschen die Wahl zwischen Krebs, Lues, Tuberkulose und ähnlichen meuchlerischen Krankheiten ließe? Selbst im rohen Mittelalter ist kein zur Folter Verdammter auf den zynischen Gedanken gekommen, die Richter darum zu bitten, daß er sich seine Lieblings-Marterwerkzeuge auswählen dürfe. Und ein zum Tode Verurteilter hat wohl immer nur den einen Wunsch, daß die Exekution möglichst schmerzlos sei und möglichst schnell vollzogen werde. So wünschte sich auch Grieg, als er über die Natur und den voraussichtlichen Verlauf seines Lungenleidens einigermaßen Bescheid wußte, nichts als eine baldige Erlösung. Ja, er hätte jede das Ende schnell herbeiführende Krankheit, mochte sie immerhin mit den schlimmsten Schmerzen verbunden sein, lieber auf sich genommen als dieses langsame, qualvolle Hinsterben, zu dem er (schuldlos) verurteilt war. Aber er dachte seine Gedanken nicht zu Ende, war überhaupt kein Philosoph und kam daher keineswegs zu einer Schopenhauerschen Verneinung des Willens zum Leben. (Nicht einmal theoretisch.) Andererseits war ihm auch eine stille Fügung in »Gottes unerforschlichen Ratschluß« nicht gegeben. Im Gegenteil, etwas in ihm bäumte sich auf gegen die Vorstellung, ein Allgütiger könne so furchtbare Krankheiten geschaffen haben, ein Allweiser streue sie wahllos, sinnlos unter Menschen und Tiere, und ein Allmächtiger tue nichts zu ihrer Vernichtung. Wieder dachte er seine Gedanken nicht zu Ende. Sondern schüttelte sie ab, heftig, leidenschaftlich. So beherrschte ihn denn schließlich sein natürlicher Instinkt, und schluchzend schrie es in ihm auf: Ich will leben, leben, leben um jeden Preis! – Atemnot begann sich einzustellen, Herzstörungen kamen hinzu, die Nervenkraft minderte sich mehr und mehr, alle Lebensfunktionen ließen nach, und doch rief eine innere Stimme immer wieder, immer von neuem: Ich will leben, leben um jeden Preis! – Nichts Furchtbareres läßt sich ausdenken als dieser zermarternde, aussichtslose Kampf, – Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte lang. Wohl gab es Lichtblicke, aber nach jedem Konzert, nach jedem frohen Fest, nach jeder vorübergehenden Besserung erfolgte ein Rückschlag, der den armen Kranken tagelang, wochenlang aufs Lager warf. Dann kamen ihm auch Gedanken an die ewigen Dinge, und in tiefer Bangigkeit fragte er sich: Was bin ich? Wo komme ich her? Was wird aus mir, wenn ich sterbe? –
Aber sobald er sich wieder kräftiger fühlte, wars vorbei mit dem Grübeln. Schnell hatte er das Notwendige beisammen, den breitkrempigen Schlapphut, das kurze Mäntelchen, die Gummischuhe und den großen grauen Regenschirm, der immer halb geöffnet war und ihm bis an die Brust reichte. So ausgerüstet, einerlei ob die Sonne schien, ob es regnete oder schneite, eilte er ins Freie, – weit, weit weg von den Menschen. Kam er dann wieder heim, so leuchteten ihm die Augen, besonders wenn er ein großes Bündel Blumen und Gräser mitbringen konnte, – so groß, daß seine kleine Figur fast dahinter verschwand. »O Königin, das Leben ist doch schön.«
Zwangen ihn plötzliche Anfälle von Atemnot und Schwäche, bei Sonnenschein daheim zu bleiben, so wich er nicht vom Fenster und schaute mit traurig-sehnsüchtigen Augen ins Weite. In einem Brief an Matthison-Hansen heißt es: »Ich sitze hier mit der Aussicht auf den sich rötenden Abendhimmel in seiner ganzen Schönheit. Davon ist es nicht weit zu dem Gedanken an den Abend des Lebens, der nun für Dich und mich angebrochen ist. Möge er sich so gestalten können, daß wir etwas von einem solchen Abendhimmel haben, wenn auch nicht immer, so doch ab und zu einen Schein. Wie wunderlich, daß der Abend des Lebens für die aller-, allermeisten so traurig sein soll! Ich verstehe die Meinung der Natur in diesem Mysterium nicht. Das Christentum erklärt es auf seine Art, aber ich habe doch einen Argwohn, daß es die Menschen sind, die die Natur verpfuscht haben.« Sich eins fühlen mit der Natur, galt ihm stets als das Höchste. »Ich bin gewiß nicht dazu ausersehen, die Welträtsel zu lösen; auch nicht groß genug, um die Menschen beten zu lehren; ich will ihnen nur zeigen, wie schön die Natur und das Leben ist.« »Ich singe mit, auf meine Art, wenn die Vögel draußen singen; und weiß manchmal auch nicht recht, warum.« »Im Süden ist die Sonne oft lästig. Hier beglückt sie immer, weil es soviel regnet. Wenn es mir nicht so schlecht ginge, wäre meine Fröhlichkeit nicht von der Art, daß sie die Leute mitreißt.« »Bei schönem Wetter fange ich die Sonnenstrahlen ein und bewahre sie dann für die trüben Tage in mir auf.« Schöne, schlichte Worte. Wie gut ihm das Einfangen der Sonnenstrahlen gelang, zeigt ein Brief an seinen Verleger aus dem Jahre 1900: »In der letzten Zeit habe ich mir eine Gesundheitsphilosophie eingerichtet, infolge derer ich es wie Sie versuche, nicht mehr zu klagen. Wie zu einer wirklichen Musik nicht nur ein crescendo und fortissimo, sondern auch ein diminuendo gehört, so zeigt uns das Leben dieselben Nuancen. Wir sind mit dem crescendo und fortissimo zu Ende, das diminuendo wird jetzt gespielt. Und ein diminuendo kann sogar schön sein. Der Gedanke an das kommende pianissimo ist mir garnicht so unsympathisch, aber für das Unschöne bei dem diminuendo (das Leiden) habe ich den größten Respekt. Der gute Herzogenberg sagte einmal: ›Das Leben ist ein Diner. Ich bin beim Käse, der ganz vortrefflich schmeckt.‹ Das sagte er damals. Ob ihm jetzt in Wiesbaden, wo er vollständig gelähmt in einem Sessel herumgerollt wird, der Käse ebenso gut schmeckt, ist wohl eine große Frage. Er ist aber in der Tat ein Philosoph, und es wäre ihm nicht unähnlich, auch mit diesem Los zufrieden zu sein.«
Daß Grieg sich keine Illusionen über seinen Zustand machte, ist aus einem Briefe zu ersehen, den er nach seinem sechzigsten Geburtstag schrieb: »Ich fühle mich jeden Tag krank und deprimiert. Bald werde ich, leidend wie ich bin, eine Reise über die Gebirge nach dem Osten versuchen, um dort eine Kur durchzumachen. Wenn dies nichts nützt, werden wir uns vielleicht nie wiedersehen.« Wußte sich Grieg keinen Rat mehr, so zog er sich eine Zeitlang in ein Sanatorium zurück, um zu versuchen, »obs noch mal wieder wird.« Volksenkollen bei Christiania und Skodsborg bei Kopenhagen liebte er besonders. Seiner zähen Energie und den Bemühungen der Ärzte gelang es auch wiederholt, einer drohenden Katastrophe vorzubeugen. Recht charakteristisch ist ein Brief aus dem Jahre 1904: »Ich bin augenblicklich in einem Krankenhaus, um die Ruhe zu erlangen, die meine Nerven im höchsten Grad brauchen. Ich habe auf meiner schwedischen Reise ›über unsere Kraft‹ gelebt, und jetzt kommt die Reaktion. Ich hoffe aber, daß acht Tage mich hier so weit bringen werden, daß ich wieder unter Menschen verkehren darf. Jedenfalls muß ich nach der Stadt, um Brahms' Requiem zu hören, das (eigenartig genug) im Theater aufgeführt wird, da diese Stadt nicht einmal einen ordentlichen Konzertsaal besitzt.« Hier sehen wir, wie rege Griegs Teilnahme an allen künstlerischen Ereignissen in seinem Lande war. Aber es blieb nicht so. Denn mit fortschreitender Krankheit nahm auch seine geistige Spannkraft immer mehr ab: »Früher ging das Briefschreiben wie das Schaffen schnell und leicht. Ich bewegte mich wie der Fisch im Wasser. Körperliche Leiden und der Druck der Jahre hat das alles geändert. Schwerfällig und langsam fließt das Blut, und in demselben Tempo bewegt sich leider auch der Geist … Wie gern hätte ich meiner geistigen Entwicklung bis in der letzten Zeit einen Ausdruck in Tönen geben mögen! Körperliche Leiden waren unübersteigbare Hindernisse. Und jetzt ist das Ende bald da. Doch, ich bin versöhnt. Unser Bauerdichter Vinje sagt in seinem wundervollen Gedicht ›Der (Letzter) Frühling‹: ›Mehr bekam ich, als ich verdient, Und alles muß enden!‹« (Briefe an einen Schweizer.) Voller Klagen ist ein anderer Brief aus derselben Zeit (1906): »Ich Armer, der, wenn ich nicht Proben beiwohne, mit Orchesterstimmen arbeite oder meine elenden Finger übe, um nach Versprechen in der Kammermusik mitwirken zu können, ganz einfach nur dazu tauglich bin, flach ausgestreckt dazuliegen und mich auszuruhen. So war es voriges Mal in London vor neun Jahren. Ich vertrug nichts mehr als meine Arbeit, ging zu niemand und empfing keinen Menschen. Und jetzt ist es zehnmal schlimmer. Es ist der größte Leichtsinn, daß ich auf das eingehe, was man von mir verlangt, und passen Sie auf, es wird sich rächen. Aber der Mensch eilt seinem Schicksal entgegen. Wenn ich mich selbst ehrlich frage, weiß ich wahrhaftig nicht, warum ich es tue. Vom finanziellen Standpunkt aus kann ich es entbehren, und das öffentliche Auftreten ist das Schrecklichste, was ich weiß. Meine Nerven, mein ganzes Ich leidet Qualen unbeschreiblicher Art, aber ein gewisses, ich weiß nicht was, zieht mich unwiderstehlich an. Einer schönen Orchester-Aufführung meiner Werke und einem sympathischen Publikum bin ich nicht imstande zu widerstehen. Das ist es, glaube ich, was mich betört.«
Ein Jahr später fühlte er, daß es mit den Konzertreisen nun wohl für immer vorbei sei, und schrieb an seinen Verleger: »Aus der ganzen Welt wimmelt es jetzt von Einladungen zum Dirigieren! Ironie des Schicksals!« Erstickungsanfälle stellten sich ein, die Schlaflosigkeit wurde immer quälender, und der Kräfteverfall war jetzt unaufhaltsam geworden. Aber noch am Grabe pflanzt ja der Mensch die Hoffnung auf. Und Grieg glaubte, daß nur ein Klimawechsel nötig sei, um ihm wieder aufzuhelfen. Da es in Troldhaugen so kalt und feucht war, faßte er den Entschluß, sich anderswo ein Häuschen zu bauen oder zu kaufen, vielleicht in der Umgebung von Christiania. Dorthin wollte er nun über Bergen reisen. Auch ein paar Konzerte konnten bei der Gelegenheit wohl gegeben werden. Als er dann in seiner Vaterstadt ankam, verschlimmerte sich sein Befinden so sehr, daß der Arzt seine Überführung vom Hotel ins Spital veranlaßte. Von dort aus schreibt der Todkranke am 28. August noch einmal dem Schweizer Bekannten (der Brief ist besonders durch Griegs Mitteilungen über seine religiösen Anschauungen wichtig): »Ich war und bin immer noch krank, die letzten Tage sogar so leidend an Schlaflosigkeit und Atemnot, daß ich hierher ziehen mußte. Deshalb haben auch Feder und Tinte ruhen müssen. Viel hätte ich Ihnen zu schreiben und zu danken für Ihre letzten Briefe. Meine Kräfte verbieten es aber … Das Bojersche Buch (›Die Macht der Treue‹) hat auch hier Aufsehen erregt. Ich habe es, zu meiner Schande muß ich es gestehen, nicht gelesen und kann mich deshalb nicht darüber aussprechen … Um mich über meine Auffassung der religiösen Fragen aussprechen zu können, dazu gehört eine bessere Gesundheit, als die meinige vorderhand (NB.) ist. Und doch, – es bedarf nicht vieler Worte: Ich wurde während eines Besuches in England im Jahre 1888 von den unitarischen Ansichten (Glaube an Gott allein; der Glaube an einen dreifaltigen Gott und an einen dem Vater gleichen Sohn ausgeschlossen) ergriffen und bin in den seitdem verflossenen neunzehn Jahren bei diesem Resultat stehen geblieben. Alles, was man mir später vorgeschwärmt hat, machte mir keinen Eindruck mehr. Die reine Wissenschaft? Als Mittel zum Zweck ausgezeichnet, als Zweck aber – wenigstens für mich – durchaus unbefriedigend. Den Gottesbegriff muß ich aufrecht halten, obgleich derselbe mit dem Begriffe des Gebets nur zu oft in Kollision gerät. Aber ich fange schon an zu detaillieren. Und es ist leider schon meine Pflicht zu schließen …«
Wenige Tage später, am 4. September 1907, morgens gegen ½4 Uhr, entschlief er sanft und schmerzlos. –
Über den Eindruck, den Griegs Tod in Bergen machte, haben die norwegischen und deutschen Zeitungen in der üblichen Weise berichtet; ihre Schilderungen sind dann in die Fachzeitschriften wie in die Bücher übergegangen. Wir lesen da z. B., daß die Kaufleute ihre Geschäfte vergaßen, die Dienstmädchen ihre fröhlichen Plaudereien einstellten und die Arbeiter ihre Tätigkeit unterbrachen; auch soll eine junge Dame, die ein Notenheft unter dem Arm trug, plötzlich erblaßt sein. (Schjelderup: Edvard Grieg, S. 74.) Niemand hätte sich über diese törichten Phantasien und die mit ihnen zumeist verbundenen bombastisch-phrasenreichen Nachrufe mehr geärgert als der schlichte und ehrliche Grieg selber. Er hatte gelegentlich den Wunsch geäußert, es möchte bei seinem Leichenbegängnisse sein Trauermarsch auf Nordraaks Tod gespielt werden, außerdem vielleicht noch das Vinje-Lied »Letzter Frühling« in seiner Bearbeitung für Streichorchester. So geschah es denn auch. Hätte dann noch einer seiner Freunde ein paar einfache, herzliche Worte gesprochen, so wäre die Trauerfeier ganz in seinem Sinne gewesen. Statt dessen gab es ein großes festliches Gepränge mit Fahnen, Dekorationen, Aufzügen und was sonst noch dazu gehört. Der Staat »übernahm« die Leichenfeierlichkeiten, bei denen Vertreter des Königs von Norwegen und des Deutschen Kaisers, der norwegischen Regierung, des Storthings und sonstige offizielle Persönlichkeiten zugegen waren. Außer einem Geistlichen, einem mit Grieg befreundeten Arzt und anderen Personen, hielt (natürlich) auch der Vertreter des Deutschen Kaisers, ein Legationsrat, bei der Gelegenheit eine höchst überflüssige Rede. So wurde denn Grieg zwar mit höchsten, allerhöchsten Ehren bestattet, – aber doch so ganz anders, als er es gewünscht hätte. Dies veranlaßte einen unbekannten jungen Norweger, an die Zeitschrift »März« (I, 19) den folgenden Brief zu senden: »Der Sommer ist jetzt vorbei; kalt und ohne Sonne, wie er war, ertrank er im Regen. Und Grieg ist auch nicht mehr, … es wurde ihm zu eng in dem kleinen Körper, und er ging weg. Und die Leute erzählten am nächsten Morgen: ›Edvard Grieg ist diese Nacht im Krankenhaus gestorben.‹ Als ich um die Mittagszeit vom Büro wegging, ärgerte ich mich, ich zählte bloß drei Flaggen (eine auf der Börse, eine auf Hotel Norge und eine bei Bergens Tidende), die halbmast, traurig im Regen herumschlugen. Wo waren alle die andern? Hatten die Leute wirklich kein Verständnis von dem, was wir Grieg verdankten? Ihre Köpfe waren zu voll von Hering- und Stockfisch-Preisen. Na, die machten die Sache wieder gut; sie legten Grieg auf ein Paradebett, und Tausende von Neugierigen gingen hinein und guckten auf ihn. Das fand ich ganz unnötig, dieses Paradebett; hätte man nicht lieber seinen Körper in Ruhe lassen können? Der Körper war ja doch klein und schief und keine Sehenswürdigkeit. Er hatte im Leben seine Pflichten genug getan. Von einem Monarchen kann man es ja verlangen, daß er zur Besichtigung für die große Menge ausgelegt wird, damit sie sehen können, daß er auch bloß ein Mensch war wie die andern; das ist ja ein Teil seiner Pflichten. Aber für die großen Geister ist es doch eine Beleidigung, tot ausgestellt zu werden. Ich sah diese Menge Leute die Treppe auf und herunter strömen und bedauerte bloß, daß nicht da vor der Treppe ein Orchester ›Trolltög‹ von Grieg spielte. Dies hat ja wenig zu sagen, was die Leute tun, – die Hauptsache ist: Grieg hat gelebt, und er hat uns etwas gegeben, das noch hundert Jahre leben und den Herzen Freude machen wird, herrliche Musik, und herrliche Musik ist Sonnenschein. Jetzt geht wieder alles auf alte Weise in Bergen, es regnet, und die Blumenhändler haben wieder Blumen zu verkaufen. Das einzige Neue ist, daß die Straßenjungen, die die Melodien der Lustigen Witwe immer gepfiffen haben, jetzt Chopins Trauermarsch pfeifen, den lernten sie auf dem langen Wege zum Friedhof; und zu diesen traurigen Tönen fallen nun die Blätter herunter und zieht der Herbst ein.«
Schön und würdig war eine Trauerveranstaltung im Theater von Christiania, bei der Björnsons Sohn die Gedächtnisrede hielt. Aufgeführt wurde der erste Teil von Ibsens Peer Gynt. Den Zuhörern schien es, als habe der verstorbene Meister in der ergreifenden Musik zu Aases Tod sein eigenes Sterben geschildert, und sie hatten vielleicht recht. Als der damals noch junge Grieg diese Komposition schrieb, dachte er wohl ebensosehr an sein eigenes Leiden wie an Mutter Aase, und unbewußt hat er sich wohl dabei gesagt: So möchte ich sterben … So werde ich einst sterben …
Da Grieg keine Kinder hinterließ, hatte er seine Vaterstadt zu seiner dereinstigen Erbin bestimmt. Sein Vermögen (etwa 300+000 Mark) sollte dem Musikleben Bergens zugute kommen. Seine Noten, Briefe und Bücher werden in der dortigen Stadtbibliothek aufbewahrt.
Die letzte Ruhestätte fand Edvard Grieg in einer nur vom Wasser aus zugänglichen Felsengrotte unterhalb der Villa Troldhaugen. Eine schmucklose, lediglich mit dem Namenszuge Griegs versehene Platte schließt die Öffnung, in der sich die Aschenurne befindet. Tiefes Schweigen umgibt den einsamen Ort, und selten nur tönt der Lockruf eines Vogels durch die Lüfte herüber. Unten aber singen die Wasser dem toten Sänger einen eintönig-schwermütigen Grabgesang.
Das Ungewöhnliche hat stets des Volkes Phantasie erregt. Warum entblößt der Fischer stumm und scheu das Haupt, sobald sein Nachen sich dem stillen Winkel naht? Umschwebt der Geist des Toten die geweihte Stätte? Mancher sah ihn schon am Ufer wandeln, wenn die Nebel aufwärts wallten. Alt und jung, sie wissen, daß er abends immer wiederkehrt. Und während unter seinen Füßen ewig gleich die dunkelblauen Fluten rauschen, ruht er auf der runden grauen Ufermauer, wunschlos lauschend, stumm, vom Schauen trunken, traumversunken …