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Ich betrachte die Musik nicht nur als eine Kunst, das Ohr zu ergötzen, sondern als eins der größten Mittel, das Herz zu bewegen und Empfindungen zu erregen.
Chr. W. Gluck.
Die instrumentale Musik ist des Menschen intimster Freund, mehr sogar als Eltern, Geschwister, Freunde usw., bei Leid besonders ist diese Eigenschaft erkennbar. Von allen Instrumenten aber ist es besonders das Klavier, welches diesem am meisten entspricht, daher ich den Klavierunterricht als eine Wohltat für den Menschen betrachte und ihn sogar zwangsmäßig (denn dessen Anfänge sind ganz unerträglicher Natur) in das Erziehungsprogramm aufnehmen möchte.
A. Rubinstein.
I.
Wenn wir alle Klavierwerke Griegs, mit Ausnahme seines A-moll-Konzertes, aber mit Einschluß seiner Ballade und seiner E-moll-Sonate zur Hausmusik rechnen, so konstatieren wir damit eigentlich nur eine Tatsache. Denn die wenigen Kompositionen des Meisters, denen man kurze Zeit im Konzertsaal begegnete, sind schon längst wieder aus ihm verschwunden. Nicht allein deshalb, weil sie dem Virtuosen keine hinreichend dankbaren Aufgaben bieten und zur Ausnützung manueller Fähigkeiten allzu wenig Gelegenheit geben, sondern mehr noch aus einem tieferen Grunde: In großen Räumen kommen ihre intimen Reize nicht zur Geltung; die feinen Züge, an denen sie so reich sind, verlieren sich, dafür aber tritt ihr Mangel an Plastik und organischer Entwicklung um so schärfer hervor. Auch ein rein äußerlicher Grund spielt dabei mit: Der Träumer Grieg endet seine Klavierstücke gern mit einem verhauchenden pianissimo, groß angelegte Steigerungen mit einem glanzvollen Finale sind nicht seine Sache; daher beginnt auch der Hörer zu träumen, und der vom ausübenden Künstler begehrte Applaus bleibt aus. Selbst wo einmal ein kräftiger Schluß die Zuhörer zu lautem Beifall aufmuntern könnte, ist die äußere Wirkung nicht sehr stark, weil man nur wiederhört, was man bereits am Anfang, und dann in der Mitte meist noch einmal, vernommen hat.
Schon die vier Stücke op. 1 zeigen trotz kräftiger Akzente im Verlauf der Musik dieses für die äußere Wirkung so nachteilige Hindämmern am Ende. Daß sie gleich dem zweiten Klavierwerke (op. 3) noch ziemlich unselbständig sind, ist leicht begreiflich. Schumann und Mendelssohn, auch Chopin und Gade haben fleißig mitgeholfen, aber doch immerhin Raum genug für ganz individuelle Äußerungen des jungen Komponisten gelassen. Hier und da lugt schon der spätere Grieg hervor, seine Vorliebe für vollklingende Akkorde, für Feinheiten der Stimmführung ist unverkennbar, und nirgends verspürt man die Unsicherheit des Anfängers; aber die üppig wuchernde Chromatik und Enharmonik vermag nicht darüber zu täuschen, daß der junge Komponist mehr paraphrasiert als erfindet und gestaltet. Am charakteristischsten ist seine Behandlung der Dissonanz; man findet sie nicht nur als gelegentliche Würze, als mehr oder minder zufällige Erscheinung im Stimmengewebe, sondern weit öfter als selbständiges Ausdrucksmittel von stärkster Wirkung. So erscheint z. B. am Schluß von op. 1 die verminderte Oktave (dis – d) in einem schmerzvollen Aufschrei; und auch das Schwebende, Zitternde der kleinen Sekunde ist schon erkannt und mit Bewußtsein bei zarten Übergängen verwertet. Der Anfang von op. 1 No. 2 kann als eine Vorahnung der in dem Liede »Ich liebe Dich« (op. 5) zum Ausdruck gekommenen Stimmung gelten. In diesem tief empfundenen Phantasiestück zeigt sich Griegs Eigenart schon recht stark.
Norwegischer sind seine Klavierstücke op. 3, die er seinem Gönner Benjamin Feddersen gewidmet hat. Das erste dieser »Poetischen Tonbilder« verrät noch sehr den Einfluß Gades, ist aber dankbar und anmutig; nur paßt der unwirsche Schluß nicht recht zum Ganzen. In Nr. 2 hören wir zum ersten Mal nordische Klänge, verbunden mit einem schönen, ruhig ausströmenden Gesangsthema. Hier findet sich auch schon das für Grieg so charakteristische Nebeneinander von Freude und Schmerz, das später in ständigem Wechsel von Moll und Dur, kleiner und großer Terz, zum Ausdruck kommt. Ganz norwegisch ist dann das fünfte Stück, in dem auch der schon erwähnte charakteristische Sprung vom Leitton zur Quinte hervortritt. Eine echte Volksmelodie ertönt, dazu brummen die berühmten Griegschen Bassquinten, und schließlich klingt dann die Hardanger Bauernfidel mit hinein. Kennt man Grieg noch nicht, so wirkt der Übergang des Themas von der Dur- zur Moll-Form sehr stimmungsvoll; hat man aber schon viele seiner späteren Werke gehört, so erwartet man stets nach vier oder acht Takten den Wechsel des Tongeschlechts, und was anfangs als charakteristische Eigenart empfunden wurde, verliert bald, als Manier erkannt, seinen Reiz.
Die Humoresken op. 6 haben alle einen tanzartigen Charakter; sie erquicken durch ihre Frische wie durch ihre sprudelnde Heiterkeit und sind wohl aus der überschäumenden Freude heraus geboren, die Grieg nach Befreiung von allen akademischen Banden im Bewußtsein seines Eigenwertes empfand. Kleine humorvolle Züge zeigen sich erst bei näherer Betrachtung; so erklingt z. B. in Nr. 1 eine fidele Geigenmusik auf der Dominante, während die Begleitung seelenruhig den Quartsextakkord der Tonika dazu spielt; im Mittelsatz des zweiten Stückes beginnt die Melodie lustig zu hüpfen und kommt dann ins Kugeln, bis ein paar energische Oktaven ihr Halt gebieten (worauf eine kleine Hascherei beginnt), und in Nr. 3 erfolgt nach sorglosem Hineinschlendern in eine »falsche« Tonart mit einem plötzlichen Sprung die Rückkehr zur »richtigen«. Solche kleinen Scherze sind so lustig und so ganz ohne Gewaltsamkeiten gemacht, daß man schnell von der Heiterkeit mit angesteckt wird. Beim Vortrag von No. 3 wäre zu beachten, daß die Takte 17-24 etwa doppelt so schnell wie das Vorangegangene zu spielen sind. Zwischen den Noten steht hier »con fuoco«; wir müssen uns daran gewöhnen, daß Ausdrucksbezeichnungen bei Grieg in der Regel zugleich Tempobezeichnungen bedeuten. Es entspricht der deutschen Art, das einmal gewählte Tempo während eines Musikstückes streng beizubehalten (auch wenn der Komponist mehrmals einen Tempowechsel vorschreibt). Davor kann man gerade bei Grieg nicht genug warnen; selbst seine kleinsten Stücke erfordern (mit wenigen Ausnahmen) einen frei rhapsodischen Vortrag, und oft wird man sich dabei auf sein Gefühl verlassen müssen, weil es an genauen Bezeichnungen fehlt. Für den Norweger Grieg war eben vieles selbstverständlich, was uns Deutschen durchaus nicht im Blute liegt. Die einzelnen Töne, aus denen ein Musikstück sich zusammensetzt, bestehen in der Idee des Komponisten natürlich nicht immer aus Vierteln, Achteln, Sechzehnteln usw., sondern werden in seiner Phantasie oft eine tausendfach abgestufte Geltungsdauer haben. Da es jedoch unmöglich ist, all diese Abstufungen in der Notenschrift zu unterscheiden, so begnügt man sich mit etwa einem Dutzend Typen. Und nur vermöge seines künstlerischen Empfindens kann der ausübende Künstler aus den ungefähren Zeitwerten der Notenschrift die wahre Geltungsdauer jeder einzelnen Note erkennen. (Zu erlernen ist das nicht.) Am Schluß der letzten Humoreske hat Grieg, offenbar absichtlich, eine der schon erwähnten eigenartigen Skalen in aufsteigender Tonfolge erklingen lassen; als harmonisches Fundament ist hier die Unterdominante zu denken, der Grieg die Mollterz gibt, während er in der Skala die Durterz beibehält. Solche Kühnheiten liebt er sehr; auf dem Papier wirken sie zuweilen etwas wunderlich, beim Anhören aber schwindet das anfängliche Befremden.
Die E-moll-Sonate op. 7 trägt im Gegensatz zu den bisherigen Werken heroische Züge. Sehr kernig und kraftvoll ist der erste, ein wenig an Mendelssohn erinnernde Satz. Wie in der F-dur-Symphonie von Brahms, so folgt auch hier in raschem Wechsel ein Thema auf das andere, aber man hat doch nicht den Eindruck der Buntscheckigkeit, weil die Grundstimmung vollkommen gewahrt wird und das Ganze sehr schnell am Hörer vorüberzieht. Im Durchführungsteil des ersten Satzes erscheint das Thema ganz unmotiviert in Dur (Takt 82-85) und kehrt dann sofort wieder zu seiner Mollform zurück; diese Dur-Stelle wirkt überaus störend, ja, man hat in dem ganzen Zusammenhange das Empfinden, falsch zu spielen. Wenn es erlaubt wäre, den Irrtum eines Komponisten ebenso zu berichtigen wie den eines Schriftstellers, so müßte man hier unbedingt die Mollform mit ein paar kräftigen Auslösungszeichen wiederherstellen. Der zweite Teil des Hauptthemas wird dann rhythmisch verändert zu einer zweistimmigen Episode verarbeitet, und die veränderte Form bleibt auch nach Beendigung des Durchführungsteiles bestehen. Hier zeigen sich also Anfänge einer Themen-Entwicklung, wie sie zum ersten Male Vincent d'Indy in seinem symphonischen Werke »Istar« konsequent durchgeführt hat. Wenn ein Thema am Ende eines Satzes in derselben Form wie zu Anfang erscheint, so besagt dies doch wohl, daß die Einwirkungen von Harmonik, Rhythmik und Kontrapunktik, die es im Verlauf eines Tonstückes erlitten hat, spurlos an ihm vorübergegangen sind. An Stelle einer solchen mehr spielerischen Verarbeitung eine Entwicklung zu setzen und das Thema erst am Schluß in seiner definitiven Gestalt erscheinen zu lassen – dieses fruchtbare Prinzip würde vielleicht der fast in Vergessenheit geratenen Sonatenform neues Leben einflößen. Es ist daher schade, daß Grieg über die ersten Schritte auf dem neuen Wege nicht hinausgekommen ist. Der zweite Satz beginnt mit einer hübschen Melodie, aber kaum ist sie verklungen, so folgt ein Schumannsches Intermezzo, an das sich weitere Intermezzi anschließen, und das Ganze zerbröckelt wie ein schlecht gekittetes Mosaikbild. Um eine äußere Steigerung zu bringen, wird die schlichte Anfangsmelodie bei ihrem zweiten Erscheinen bombastisch aufgeputzt, mit Meeresrauschen und Sturmgebraus umgeben, bis sich dann Schumann wieder zum Worte meldet; den Schluß bilden ein paar schöne, weiche Harmonien. Dieser Satz ist als Ganzes eine arge Mißgeburt. Es folgt eine Art Menuett, im ersten Teil stolz und energisch, im Trio von pastoralem Charakter; fast aphoristisch in der Form, aber doch recht wirkungsvoll. Der letzte Satz leidet im Gegensatz zu dem vorangegangenen unter allzu großer Länge. Charakteristisch ist wie im ersten Satze der Versuch, eine wirkliche Entwicklung zu bringen. Nachdem die anfängliche Erregung vorüber ist, hören wir leise, fromme Klänge, die eine sanfte Melodie tragen. Diese Melodie kehrt dann mit heroischem Charakter wieder und erscheint auch in der strahlenden Schlußapotheose. Grieg verrät uns nicht, wer der Gottesstreiter ist, den er verherrlichen wollte; vielleicht dachte er wie Ibsen im Peer Gynt gar nicht an einen bestimmten Helden, sondern an eine Personifikation des norwegischen Volkes.
Mit dem nächsten Klavierwerk beginnt die Serie der »Lyrischen Stücke« (op. 12, 38, 43, 47, 54, 57, 62, 65, 68 u. 71). Sie gibt einen vortrefflichen Überblick über Griegs Schaffen, und ihre Vereinigung in einem einzigen Bande war deshalb eine gute Idee des Verlegers. Grieg selbst hat die 66 Stücke – die keineswegs allesamt »lyrisch« sind – als eine Einheit betrachtet und daher für die letzte Komposition das gleiche Thema gewählt wie für die erste. Eine kleine Arietta bildet den Anfang; sie hat einen höchst originellen Schluß, nämlich überhaupt keinen. Wir hören eine Spieldose, die immer wieder dasselbe spielt, bis die Uhr abgelaufen ist; immer langsamer erklingt die Musik, und schließlich steht das Werk still. »Mitten drin«, leider. Aus der Arietta ist im letzten Stück (»Nachklänge«) ein Walzer geworden. Und wieder steht das Spielwerk still, während man gern noch weiter zuhören würde. Hatte Grieg an »Webers letzten Gedanken« gedacht, der ja auch ein Walzer war? Mit leiser Selbstironie scheint er sagen zu wollen: Meine Musik hatte eigentlich immer nur ein Thema, das ich unendlich oft variiert habe, ich würde gern noch ein paar neue Variationen schreiben, so heiter, wie mein Leben traurig war, aber nun steht das Uhrwerk still … Die Melodie beginnt gerade wieder von vorn; es wäre so schön, ihr noch ein Weilchen zu lauschen …
Noch weitere fünf Walzer finden sich in der Sammlung. Der Anfang von op. 12 Nr. 2 wirkt sehr originell, weil die Melodie aus A-dur genommen erscheint, während die Begleitung in A-moll steht. Bedenklicher ist der Anfang des Walzers aus op. 47; hier beginnt die Begleitung mit der Moll-Dominante von E-moll und steigt zur Tonika hinab, während die Melodie sich streng an die aufwärtsführende melodische E-moll-Skala hält. Wir haben infolgedessen cis und c zu gleicher Zeit, was geradezu »hanebüchen« klingt. Die Worte, die Strauß während einer Probe der »Salome« zu den verblüfften Musikern gesagt haben soll, passen auch hier: »Nur Mut; wenns falsch klingt, ist es richtig.« Von Takt 43 an übernimmt der Baß die Melodie in der abwärtsführenden Moll-Skala, während die Begleitung den Dur-Dominantakkord verwendet, was zu einem (auch sehr schönen) Zusammenprall zwischen ais und a führt. Grieg hat in diesem Walzer sein erweitertes Schema (a – b – a – b – a) verwandt, er scheint also große Freude an dem Stück gehabt zu haben. Ganz entzückend ist der Walzer aus op. 57 (»Sie tanzt«), während die Valse mélancolique (op. 68) mit ihrem dauernden Verharren auf denselben Tönen und der Verwendung immer gleicher Vorhalte wirklich recht trübselig wirkt. Von den ermüdenden notengetreuen Wiederholungen sollte man mindestens die Hälfte weglassen.
Auch fünf norwegische Tänze sind unter den »Lyrischen Stücken«. Die beiden Springtänze (op. 38 u. 47) gehören zu den frischesten Kompositionen, sie erfreuen sich auch allgemeiner Beliebtheit. Weit eintöniger wirken die beiden »Halling«-Tänze (op. 38 u. 47); sie sind eigentlich für die altnorwegische Geige (Fele) erdacht, die gleich der Viola d'amore unter den vier Saiten noch vier weitere, leise mitklingende hat. Klaviermäßiger ist ein dritter »Halling«-Tanz aus op. 71, eines der technisch schwierigsten Stücke der Sammlung. Man wird hier an die Schilderung Björnsons in seiner Erzählung »Arne« erinnert: Der Bauernbursch Nils beginnt mit kreuzweise untergeschlagenen Beinen nach Russenart zu tanzen, schnellt dann empor, überschlägt sich in der Luft und stößt dabei mit den Hacken so heftig an die Zimmerdecke, daß der Kalk umherspritzt. Das Stück ist von so prächtiger Rhythmik und so unbändiger Lebenslust, daß es sich auch als Orchesterstück ganz famos machen müßte.
Vier kleine Stücke handeln von Fabelwesen: der »Elfentanz« (op. 12), die »Sylphide« (op. 62), der lustige »Kobold« (op. 71), dessen freches Fratzenschneiden (b in e-dur) sehr ergötzlich ist, und der allbekannte, höchst originelle »Trolltög« op. 54, den die deutsche Ausgabe sehr farblos »Zug der Zwerge« getauft hat.
Aus den Volksweisen und -szenen verdient der Bauernmarsch op. 54 besondere Hervorhebung. In seiner lärmenden Lustigkeit bildet er ein gelungenes Gegenstück zu dem »Halling«-Tanz op. 71. Auch er zieht, wie der »Norwegische Brautzug« (op. 19) und der »Trolltög« am Hörer vorüber, was Gelegenheit zu Steigerungen vom leisesten pp bis zum stärksten ff bietet. Das »Lied des Bauern« op. 65 zeigt eine ähnliche, fast religiöse Stimmung wie der schlichte, innige Gesang »In der Heimat« (op. 43); beide sind vierstimmig gesetzt und offenbar für Streichquartett gedacht. Unter den anderen Heimatstücken findet sich ein sehr fröhliches (»Heimwärts« op. 62, mit kühnen harmonischen Rückungen in Takt 29/30 und Takt 33/34) und ein sehr melancholisches (»Heimweh« op. 57). Das zweite Stück ist von einer so tiefen Innerlichkeit und einer solchen Kraft des Ausdrucks, sowohl in der melodischen Monotonie des Anfangs wie in der folgenden kanonischen Durchführung des Themas, daß es die größte Bewunderung verdient. Seine Harmonik zeigt die ganze Eigenart Griegs, besonders auch seine Vorliebe für Septimen, und die Abstufung der Dissonanzen ist von einer so großen Feinfühligkeit, daß wirklich alle Grade und Arten seelischen Schmerzes anklingen. Im Mittelsatz, der sehr schnell und sehr leise gespielt werden muß, ziehen dann Bilder aus der Heimat an dem geistigen Auge des Komponisten vorüber; hier können wir natürlich nicht ganz nachempfinden, was er empfunden haben mag; auch wird uns die dreimalige Wiederholung zu viel, eine zum mindesten könnte fehlen. Fremdartig, und doch wieder ganz natürlich, klingt hier der Leitton zur Quinte. Heimweh spricht auch aus dem »Einsamen Wanderer« (op. 43), einem gleichfalls sehr tief empfundenen Stück; nur wirkt es etwas eintönig mit seinen immer wiederholten schmerzlichen Ausrufen, die allzu viele Cäsuren in der kurzatmigen Melodik bewirken.
Wer eine Auswahl aus den »Lyrischen Stücken« treffen möchte, der sollte die ernsten, die melancholischen wählen; sie gehören ohne Ausnahme zum Besten, was Grieg überhaupt geschrieben hat. Hervorgehoben seien noch die »Entschwundenen Tage« (op. 57) und ihr Gegenstück »Aus jungen Tagen« (op. 65), beide mit wirkungsvollen Steigerungen und einem fröhlichen Mittelteil; ferner »Melancholie« (op. 47) und »Schwermut« (op. 65). Dieses letzte, voll von herbem Trotz und heftigster Verzweiflung, ist vielleicht das härteste Stück Griegs. Zu den schönsten und künstlerisch wertvollsten Kompositionen zählen außerdem »Geheimnis« (op. 57), »Traumgesicht« (op. 62) und »Zu deinen Füßen« (op. 68); drei Liebesgedichte von zauberischer Klangschönheit und zart-innigem Ausdruck. »Publikumslampen« (ein Ausdruck Griegs) sind die beiden reizenden »Wiegenlieder« in op. 38 und 68, die feinsinnige, echt nordische »Erotik« aus op. 43, »Großmutters Menuett« aus op. 68, das ziemlich schwache »Wächterlied« aus op. 12, das mit »Dank« betitelte, wirklich dankbare Stück und die überaus graziöse »Französische Serenade« aus op. 62, endlich der höchst wirkungsvolle »Hochzeitstag auf Troldhaugen« op. 65.
Eine Sonderstellung nehmen die Naturbilder ein, von denen der »Schmetterling« op. 43 wohl das beliebteste ist. Das »Vöglein« aus dem gleichen opus muß ein sehr merkwürdiges Tierchen sein, denn es trillert bald in den höchsten Tönen, bald tief unten im Baß. Der »Sommerabend« op. 71 zählt wohl nicht zu den gelungensten Stücken Griegs, und den etwas tristanischen »Abend im Hochgebirge« werden nur wenige nachempfinden können. Wundervoll und überall seines Erfolges sicher ist dagegen »An den Frühling« op. 43, ein Stück, das leider fast immer viel zu langsam vorgetragen wird. Dieser aus Schmerz und Sehnsucht hervorgegangene Frühling zählt durchaus nicht zu den Allerweltsstücken, wie manche glauben, man muß die feinsinnige Komposition nur zu spielen verstehen. Wer aus seinem Gefühl heraus nicht von selbst das Richtige trifft, der merke sich eine kleine Regel: Wo zwei gleiche Melodienoten rechts und links vom Taktstrich stehen, da ist immer die linke zu betonen und außerdem ein wenig zu dehnen; so hat Grieg selbst die Melodie gespielt. Ganz unerträglich ist es, die Viertel metronomisch herunterzuhämmern und durch streng taktmäßiges Betonen aus diesem überschwenglichen Tonstück einen Walzer zu machen. Noch ein zweites herrliches Naturgedicht gibt es in der Sammlung: »Waldesstille« op. 71. Hier muß die oberste Stimme möglichst zart gesungen werden, während die beiden andern Stimmen leise flüsternd dahinschweben; Dilettanten, die mit allen Fingern nur gleich stark spielen können, sollten sich an diese duftige Klangpoesie nicht heranwagen. Bei den Schlußharmonien verdient die Einschiebung eines F-dur-Klanges zwischen zwei H-dur-Akkorde besondere Beachtung. Wie seltsam ist es doch, daß einer sich als ein hervorragender Tondichter schon dadurch erweisen kann, daß er einen einfachen F-dur-Dreiklang aufzeichnet. Es kommt bloß darauf an, wo er ihn hinstellt!
So verschieden an Stimmung, Ausdruck und künstlerischem Wert die einzelnen Stücke auch sein mögen, für die Sammlung als Ganzes werden die warmherzigen Worte Geltung behalten, die ihnen Hermann Kretzschmar zum Geleit gab: »Größer als der Norweger und Patriot, der die charakteristischen und geliebten Motive seiner Volksmusik erkennt und herausgreift, ist der Mensch und der Meister, der sie in neue Harmonien fügt, der sie souverän spielend in höhere Geistesregionen trägt, der mit ihnen nach seinem Willen schaltet und waltet. Auch ohne heimatliche Beiklänge beschäftigen die »Lyrischen Stücke« durch ihren Reichtum an feinen und eigenen Wendungen, durch ihren Gehalt an Stimmung und Anschauung die Phantasie des Spielers und Hörers äußerst nachhaltig. Zum Teil gehören sie bereits zum Gemeingut der musikalischen Welt, die Zukunft wird die ganze Sammlung in den bleibenden Kronschatz der Tonkunst einstellen und sich an ihnen vom poetischen Beruf auch des technischen Zeitalters überzeugen.«
An die »Lyrischen Stücke« schließen sich die »Stimmungen« op. 73 sowie drei nachgelassene Klavierkompositionen an. Das erste Stück der Stimmungen – »Resignation« – bietet kaum Neues; nimmt man den Leitton zur Quinte weg, so wird der kurze, mit Tristanklängen endende Gesang sogar ziemlich alltäglich. Immerhin ein merkwürdiges Stück; man findet keinen Grund, es zu lieben oder zu loben; und doch bleibt etwas im Ohr haften, das einem plötzlich wieder einfällt, wenn man an ganz andere Dinge denkt. Es folgt ein hübsches, aber unbedeutendes Scherzo-Impromptu. Nr. 3 »Nächtlicher Ritter« könnte mit seinem phantastischen Spuk als eine Ballade bezeichnet werden, wenn Grieg hier nicht wieder an seinem dreiteiligen Schema festhielte. Der mittlere Teil, mit gelungenen Quartsextakkord-Effekten und sehr übelklingenden übermäßigen Oktaven, ist in der Erfindung ziemlich schwach. Ein hübsches kurzes Stück im Volkston (Nr. 4) wird von einer knifflichen Chopin-Studie (Nr. 5) abgelöst, die nicht recht in das Heft paßt. Es folgt ein »Ständchen der Studenten«, das trotz seines Humors nur als ein schwächliches Salonstückchen gelten kann. Die letzte Komposition, eine zum Teil kanonisch verarbeitete melancholische »Gebirgsweise«, ist die beste dieses Werkes. – Auch die drei nachgelassenen Stücke enthalten nichts Bedeutendes. Nr. 1 »Im wirbelnden Tanz« ist ziemlich dürftig in der thematischen Erfindung, aber virtuos zurechtgemacht. Nr. 2 »Gnomenzug« steht trotz größeren Aufwandes von Klangmitteln hinter dem »Trolltög« aus op. 54 zurück, wird aber mit seiner effektvollen Steigerung vielleicht eine starke äußere Wirkung haben. Der Schluß mit seinen Quinten und Oktaven zeigt, daß Grieg auch manche kleinen Mittelchen von Puccini und Debussy kannte. Nr. 3 »Sturmwolken« ist vom Herausgeber der drei Stücke, Julius Röntgen, nach Skizzen Griegs geschickt ergänzt worden. Irgendwelche Bedeutung hat die sehr langatmige Klangstudie nicht.
II.
Das umfangreichste und vielleicht auch bedeutendste Originalwerk Griegs für Klavier zu zwei Händen ist seine Ballade op. 24. Die norwegische Melodie, die diesem Variationenwerk zugrunde liegt, wirkt sehr eindrucksvoll, wenngleich sie sich aus ganz kurzen, oft wiederholten melodischen Partikelchen zusammensetzt; ihrer düster-elegischen Grundstimmung entspricht Griegs Harmonisierung mit dem langsam in die Tiefe steigenden Baß und der fast zu reichen Chromatik. So groß nun auch die Kunst ist, mit der Grieg aus dem Thema alle nur erdenklichen Wirkungen herausholt, und so eindringlich auch jede Variation für sich allein zum Hörer spricht, – der erste Teil mit seinen zehn Variationen ermüdet, stumpft das Empfinden allmählich ab, denn alle zehn Veränderungen bleiben starr in der Tonart des Themas. Nach jeder Pause, die eine andere Klangsphäre erwarten läßt, immer wieder das düstere g-moll. An diesem vielleicht kleinen Fehler im Aufbau, dem so leicht hätte abgeholfen werden können, scheitert die Wirkung des ganzen Teiles. Plötzlich, mit der elften Variation, wechselt die Tonart, sie wechselt sogar mehrmals schnell hintereinander, und nach gewaltig emporstürmendem Anlauf erscheint das Thema mit Lisztscher Majestät und Lisztschem Pomp in strahlendem G-dur. Dann aber geht's wieder nach g-moll, und mit stetig steigender Macht bricht ein rasender Sturm los, tobt sich orkanartig unter Entfaltung aller Kraftmittel aus und bricht dann plötzlich mit gellendem Aufschrei ab, worauf das Thema wie zu Anfang einsetzt und das Ganze mit stiller Resignation schließt. Man hat in diesem Werk eine Reihe norwegischer Landschaftsbilder erblicken wollen; andere meinen, Grieg habe hier die Schicksale eines norwegischen Helden geschildert. Vielleicht ist die Ballade aber doch nur ein Stück Autobiographie des Meisters, eine Vision seines Lebens, seiner Zukunft. Das Vorwiegen düsterer Stimmungen am Anfang, das nach kurzen Lichtblicken immer erneute Zurückfallen in schwermütige Grübeleien, der Lebenshunger ohne rechte Lebensfreude, der nach und nach immer schmerzlicher, immer wilder hervorbricht, – das alles paßt so recht zu Griegs Stimmung während der Jahre in Kopenhagen und Christiania; ebenso dann das Abbrechen der Triumphstimmung und die Rückkehr zu trotzigem, fieberheißem Kampf, den kein Sieg beenden kann, sondern nur stilles Entsagen. Grieg konnte vielleicht gar nicht anders schaffen als autobiographisch; direkt oder indirekt spricht er immer nur von sich, seinen Freuden und Leiden. Hatte er in späteren Jahren keine neuen großen Erlebnisse, so wiederholte er sich, sagte längst Gesagtes noch einmal, noch zehnmal, nur in etwas anderer Einkleidung. Künstler wie er können sich nicht objektivieren; aus all ihren Gestalten, aus all ihren Werken schaut immer nur, immer wieder das eigene Gesicht. Das ist ihre Größe und ihre Schwäche zugleich. Die Intensität des Ausdrucks, die maßlos heftige Leidenschaft in seiner Ballade hätte Grieg sicherlich nicht für irgendeinen sagenhaften oder geschichtlichen Helden aufgebracht. Bezeichnend ist auch, daß er das Werk niemandem widmete. Er schrieb es nur für sich, nur zu seiner eigenen, inneren Befreiung, und daher war er auch, als er es schließlich seinem Verleger brachte, so unsicher, daß er eine Ablehnung befürchtete. In seinem späteren Leben hat er oft bekundet, wie sehr ihm die Ballade ans Herz gewachsen war, aber es fiel ihm nie ein, Propaganda für dieses Werk zu machen. Seinem künstlerischen Schamgefühl widerstrebte es, sich hüllenlos öffentlich auszustellen und für die Offenbarung seiner tiefsten seelischen Leiden vom Publikum beklatschen zu lassen. – Es ist geradezu unsinnig, hinter jedem großen Tonwerk etwas Stoffliches zu suchen, etwas, das in den Tönen selbst nicht enthalten ist, so hier in der Ballade die äußeren Kämpfe irgendeiner mythischen Gestalt oder gar eine Serie von Landschaftsbildern. Wem die Erkenntnis nicht genügt, daß das Werk von den inneren Kämpfen Griegs spricht, der lese die Teile seiner Lebensgeschichte noch einmal, die von der Zeit seines Aufstiegs handeln; er wird dann genug Anknüpfungspunkte finden und mit seiner Phantasie nicht ins Uferlose geraten. An Griegs Krankheit ist natürlich ebenso zu denken wie an den Tod Nordraaks, Kjerulfs und seines Kindes, wenn man sich in die Stimmung des Werkes versenken und seine leidenschaftlichen Klagen verstehen will.
Der Ballade folgen die vier Albumblätter op. 28. Das erste stammt noch aus der Zeit des Verkehrs mit Gade, ist fein, liebenswürdig, graziös und überhaupt ein rechtes Damenstück; das zweite und dritte hat auch einige galante Züge, zeigt aber sonst alle Eigenarten des Griegschen Stils. Das vierte kann man zu den besten lyrischen Stücken zählen. Der erste (und dritte) Teil offenbart Sehnsucht und Liebesverlangen eines Einsamen, der Mittelsatz wird durch einen in der Ferne erklingenden Volkstanz gebildet. Sehr charakteristisch ist hier der seltene Dominant-Nonenakkord mit kleiner Terz verwandt.
Geringere Bedeutung haben die beiden Improvisationen über nordische Volksweisen op. 29. Die Melodie der ersten Improvisation ist einem nicht in deutscher Ausgabe erschienenen Werke Griegs entnommen: Sechs norwegische Fjeldmelodien für Klavier. (Verlag von Wilhelm Hansen, Kopenhagen.) Dieses nicht mit einer Opuszahl geschmückte Heftchen empfiehlt sich nicht nur durch hübsche Melodien, sondern ebenso durch deren leichte Spielbarkeit. Nr. 6 heißt »Bub und Mädel in der Sennhütte« und ist recht anmutig. Kennt man dieses Original, so mutet die virtuose Aufmachung in der ersten Improvisation recht merkwürdig an. Die zweite Komposition beginnt mit einer Salonmelodie, an die sich ohne äußeren oder inneren Zusammenhang ein schneller Tanz anschließt, worauf die Salonmelodie sich noch einmal hören läßt. Grieg hat die beiden Stücke als Beitrag zum Fonds für ein Holberg-Denkmal in Bergen geschrieben und gestiftet; es handelt sich also um eine Gelegenheitsarbeit.
Die Suite »Aus Holbergs Zeit« op. 40 ist, wie wir aus einem Briefe Griegs an seinen Verleger erfahren haben (S. 80), ursprünglich für Orchester geschrieben worden. Man kennt sie aber nur in ihrer vom Komponisten herrührenden Fassung für Klavier. Ludwig Holberg (1684-1754) wird nicht mit Unrecht der »Molière des Nordens« genannt; seine Komödien sind nicht nur sehr lustig, es fehlt ihnen auch an wirkungsvoller Satire nicht, und eine »Moral« ist ebenfalls stets bei der Geschichte. Grieg hat nicht wie Gade in seiner Suite für Streichorchester »Holbergiana« ein Bild des Dichters zu geben versucht, sondern ohne weitere Beziehungen zu Holberg Formen und Stil der Rokoko-Zeit mit seiner norwegischen Melodik und seiner persönlichen Harmonik zu verbinden gesucht. Man könnte einen solchen Versuch absurd nennen, aber was bei Grieg dabei herausgekommen ist, läßt theoretische Einwendungen nicht aufkommen. Der Künstler »darf« alles, was er »kann«, und die fünf Stücke der Holberg-Suite sind »gekonnt«, sind etwas Ganzes, ebenso anmutig in ihrer Mischung von Altem und Neuem, von Ernst und Scherz, wie bezaubernd in ihrem Wohlklang. Es ist hier wie bei den entzückenden Bearbeitungen alter Musik, die Leopold Godowsky unter dem Titel »Renaissance« herausgegeben hat: Alle unverbildeten Musikfreunde sind begeistert, aber die gestrengen Zunftmeister reden ärgerlich von »stilistischer Verirrung«.
An die Rokoko-Zeit erinnert auch der zweite norwegische Tanz aus op. 35. Er gehört zu den beliebtesten Stücken Griegs und verdient in der Tat den Beifall, den er gefunden hat. Im Gegensatz zu den drei anderen Tänzen dieses Werkes muß er mit metronomischer Exaktheit gespielt werden. Der erste Tanz hat etwas Herrisch-Trotziges, ja Düsteres; sehr schön ist der leise klagende Mittelsatz in D-dur mit seinem religiösen Unterton. Wir müssen uns schon auf den Ursprung des Tanzes besinnen, uns seine Verwendung bei den gottesdienstlichen Handlungen der alten Kulturvölker vergegenwärtigen, wenn wir Griegs nordische Tänze verstehen wollen, die trotz ihrer volkstümlichen Elemente, trotz ihrer Leidenschaftlichkeit und Ausgelassenheit fast immer eine feierliche Grundstimmung haben. Das ist ja das Schönste an ihnen, daß sie niemals das Triviale berühren, niemals dem seelenlosen Sinnenrausch dienen, sondern etwas Allumfassendes sein wollen, etwas Symbolisches. Dem Volk bedeutet der Tanz noch heute eine Weihe, eine Verklärung seiner Lebensfreude und Liebessehnsucht; darum tanzen ja auch die Landleute ihre langsamen Tänze mit so ernsten Mienen; der Zynismus der Städter ist ihnen völlig fremd. Im Tanz fühlen sie sich mit der Natur, mit dem All verbunden; er ist ihre Philosophie, sie haben keine andere. Griegs Volkstänze sind daher nicht nur durch ihre nationale Eigenart reizvoll, sondern ebenso sehr durch ihre unverfälschte Natürlichkeit und durch die fast religiöse Tiefe der Empfindung, die sich in ihnen offenbart. Die Seele des norwegischen Volkes spricht aus ihnen, und sie spricht eine allgemeinverständliche Sprache. Wenn wir den langsamen Mittelsatz des vierten Tanzes aus op. 35 hören, so können wir im Unklaren darüber sein, ob es sich um ungarische, spanische oder nordische Volksmusik handle: So verschieden die Volkstänze aller Länder bei lebhaftem Tempo sind, so ähnlich werden sie sich oft bei langsamem Zeitmaß. Nur die menschlichen Freuden divergieren (und jedes Volk hat seine besondere Art sich zu freuen, auch seine besonderen Dinge, an denen es hängt); in unserer Sehnsucht und unserem Leid dagegen sind wir uns alle gleich. Es gibt ein tausendfältiges Lachen; aber aus jeder wunden Brust ertönt der gleiche Schrei.
Eine Sammlung von siebzehn Bauerntänzen, vom Kapellmeister Johan Halvorsen gesammelt und für die Geige aufgezeichnet, hat Grieg für Klavier bearbeitet und unter dem Titel »Slätter« (»Tänze«) als op. 72 herausgegeben. Diese Tänze sind sehr originell, aber von geringem musikalischen Gehalt, und da Griegs Harmonisierung weit mehr das Nationale als das Allgemein-Menschliche betont, so werden sie sich außerhalb Norwegens wohl nicht einbürgern. Zudem sind die Tänze recht schwer zu spielen, was ja auch einer weiteren Verbreitung nicht förderlich ist. Auf den Leitton zur Quinte hat Grieg bei der Wahl der Harmonien garkeine Rücksicht genommen, so daß bei manchen Tänzen (Nr. 4, 7, 13 u. 15) schrille Mißklänge entstehen, die auf dem Klavier fast unerträglich sind. (Im Orchester könnte man sie durch geschickte Instrumentation mildern.) Da die Melodien und die Harmonien zwei verschiedenen Tonsystemen angehören, konnte eine Einheit nicht erzielt werden. Mit einer sehr schmiegsamen Chromatik läßt sich ja alles harmonisieren, aber Grieg wollte diesmal die Diatonik vorwalten lassen; daher die unerfreulichen Klangresultate. Sehr interessant ist die Mischung von ¾- und 6/8-Takten, wenngleich ihr kein erkennbares Prinzip zugrunde liegt. In der spanischen »Guajíra« (das j ist wie ch in »Fach« zu sprechen) wechselt ganz regelmäßig ein ¾- mit einem 6/8-Takt, wodurch ein sehr eigenartiger Rhythmus entsteht. Grieg hat sich im 15. Tanz die Wirkung einer solchen rhythmischen Mischung leider dadurch verdorben, daß er auch die ¾-Takte im 6/8-Rhythmus begleiten läßt. Alle Volksmelodien tragen ihren Rhythmus und ihre Harmonien in sich; kann man diese nicht herausholen, so soll man die Melodien unbegleitet lassen, um nicht ihre ursprüngliche Wirkung zu zerstören. Im Vorwort zu den Bauerntänzen bemerkt Grieg, er habe die Melodien »auf ein künstlerisches Niveau erheben« wollen; einige sind an und für sich schon künstlerisch wertvoll, bei den andern ist dem Meister der Versuch merklich mißlungen.
Einen ganz anderen Eindruck machen die 25 Nordischen Tänze und Volksweisen op. 17 sowie die 19 Norwegischen Volksweisen op. 66. In beiden Werken handelt es sich um kleine Charakterstücke, die zum Teil kaum eine halbe Seite lang sind. Hier hat Grieg überall mit sicherem Gefühl und reifem Kunstverstand das Richtige getroffen; keine andere Sammlung von Bearbeitungen nordischer Melodien (die von Gade und Hartmann nicht ausgenommen) läßt sich auch nur annähernd mit den beiden des Meisters Grieg vergleichen. Es gibt kaum Schöneres von ihm als diese zwei Hefte. Gewiß hat Grieg die Melodien fertig übernommen; aber der Laie irrt, wenn er glaubt, die Erfindung von Harmonien, Rhythmen, kontrapunktierenden Stimmen und dergleichen erfordere weniger Begabung und sei daher weniger anerkennenswert als die Erschaffung neuer Melodien. Wer einen Komponisten nur nach seiner Leistung als Melodiker abschätzt, der wird den beiden Werken unmöglich gerecht werden können. Möge er sich wenigstens an ihnen freuen, denn es gibt nicht viel ähnliche Sammlungen musikalischer Edelsteine, die diesen beiden gleichwertig wären. Von der einfachsten Begleitung in Oktaven bis zur kompliziertesten Harmonisierung unter Verwendung von Gegenthemen hat Grieg hier alle Mittel erschöpft, und er hat sie mit so großer Kunst verwandt, daß Bewunderung, Überraschung und Genuß nicht aufhören. Mit wenigen Noten ist hier oft Tiefstes gesagt. (Es gibt Partituren von gewaltigem Umfang, die nur ein paar Nichtigkeiten enthalten.)
Den unter Benutzung von Volksmelodien geschaffenen Werken schließen sich die drei (Hartmann gewidmeten) Stücke »Aus dem Volksleben« op. 19 an. Das zweite, »Norwegischer Brautzug«, ist in der gesamten musikalischen Welt wohlbekannt. In Takt 43-45 dieser Komposition gibt es eine jener genialen Akkordverbindungen, wie man sie bei Grieg so oft findet. Sie sind nachgeahmt worden, aber mit wenig Glück. Denn Grieg arbeitet nicht nach bestimmten Prinzipien, wie z. B. Wagner. Ihm fällt das Neue, das Besondere immer nur an bestimmten Stellen ein, und wenn man es dann verpflanzen will, so zeigt sich die Unmöglichkeit, es aus seiner Umgebung herauszureißen. Wagners harmonische Besonderheiten dagegen passen überall hin und sind daher auch in fast allen modernen Werken (selbst von seinen Gegnern) benutzt worden. Die erwähnte Stelle bei Grieg kann man auf drei verschiedene Arten harmonisch analysieren, die alle drei gleich richtig und daher auch gleich unrichtig sind. Was aber der Analyse so ersichtlich widerstrebt, das läßt sich nicht bewußt schaffen, das kann einem nur »einfallen«. In der Melodiebildung ist es ganz ähnlich. Man kann genau nachweisen, wie Wagner seine Melodien gestaltet, wieviel Leitmotive er aus Dreiklängen und Dreiklangsverbindungen herausgeholt hat usw. Bei Grieg wird man vergeblich nach irgendeinem System suchen, ganz einfach deshalb, weil er keins hatte. Wenn dieser geniale Norweger nicht eine so unzulängliche Ausbildung gehabt oder wenigstens auf eigene Faust immer weiter studiert hätte, – was für Wunderwerke würden dann entstanden sein! Erstaunlich bleibt, was er alles konnte, ohne es je gelernt zu haben; wieviel von dem, was sich andere mühsam erarbeiten müssen, ihm in den Schoß fiel. Aber es gibt nun mal in jeder Kunst so vieles, was man im Schweiße seines Angesichts erlernen muß, wenn je ein großer Wurf gelingen soll. Wo Griegs Inspiration weniger spontan ist, wie z. B. beim ersten und dritten Stück seines op. 19, da kommt auch nichts von tieferer Bedeutung zustande, weil er dann immer nur seine drei oder vier Mittelchen zur Verfügung hat, mit deren Hilfe er den Faden fortspinnt. Plastisch gestalten, einen Satz kunstvoll aufbauen, das kann er nicht, weil ers weder gelernt noch geübt hat. So wird denn geflickt, geleimt, transponiert, wiederholt, nochmals und zum drittenmal wiederholt, – und nach der zweiten Seite verliert man die Lust, weiterzuspielen; man blättert und sucht, bis man etwas Neues findet, denn nur das Material interessiert, nicht der Aufbau, der sich fast immer gleich bleibt. Zuweilen möchte man fast verzweifeln, wenn man sieht, wie Grieg sich immer und immer wieder kopiert, wie er gar nicht auf den Gedanken kommt, einmal von seinem primitiven Formenschema abzuweichen. Daher sagt so mancher Musikfreund die volle Wahrheit, wenn er unumwunden erklärt: »Ich liebe Grieg sehr, aber ich kann nicht viel von ihm hintereinander hören.« Im mittleren Teil von op. 19 Nr. 1 erscheint das erste Thema als Baß des zweiten; offenbar hat Grieg das Seitenthema von vornherein für diesen Effekt zurechtgemacht, denn es ist rein akkordisch, paßt also eigentlich zu allem. So bequem darf man sich die thematische Arbeit schon nicht machen, wenn sie künstlerischen Wert haben soll. Das Hauptthema zeigt sich dann nochmals am Schlusse des dritten Stückes; dadurch erhält das ganze Werk einen gewissen Zusammenhang, der allerdings rein äußerlich bleibt. Die Vorzüge und Mängel der Griegschen Kompositionstechnik treten hier klarer als in seinen anderen Werken hervor. Sie unmittelbar nebeneinander zu sehen, ist recht lehrreich.
Von den Originalwerken für Klavier zu vier Händen hat Grieg die meisten auch zweihändig bearbeitet. Bei op. 14 (»Symphonische Stücke«) und op. 64 (»Symphonische Tänze«) schien ihm die Umarbeitung wohl nicht lohnend, vielleicht nicht einmal ratsam. Formale Schwächen zeigen sich um so deutlicher, je mehr das Gerippe eines Werkes sichtbar wird; nur die großen Mittel verdecken sie einigermaßen. Außer dem schon erwähnten op. 35 (»Norwegische Tänze«) hat auch op. 37 (»Walzer-Capricen«) in der zweihändigen wie in der vierhändigen Ausgabe weite Verbreitung gefunden. Die erste Walzer-Caprice ist mehr eine Caprice als ein Walzer; farbenreiche Harmonien verbinden sich hier mit einer auffallend matten Melodik. Wertvoller ist das zweite Stück, das auch den Tanzcharakter mehr wahrt. Der Komponist des Rosenkavalier-Walzers hat es offenbar eifrig studiert. Sehr originell wirkt das Trio, das ganz ohne Thematik nur traumhafte Erinnerungen an ein wohliges Wiegen im Walzertakt enthält.
Ohne Opuszahl erschienen ist der zum Andenken an Nordraak komponierte Trauermarsch. Der Hauptsatz steht dem ersten Teil des allbekannten Chopinschen Trauermarsches an ergreifender Wirkung wohl kaum nach. Die Oktav-Triolen, mit denen die None in die Dominantharmonie hineinfährt, sind in ihrer packenden Realistik überaus beredt, und auch sonst verdient die harmonische Gestaltung größte Bewunderung. Das Trio dagegen fällt etwas ab; es beginnt beinahe tanzartig im heitersten A-dur und bringt dann eine Umwandlung des Hauptthemas zu einem zarten Gesang. So peinlich banal wie das Trio in Chopins Trauermarsch ist es gottlob nicht, aber es wirkt dafür allzu vergnüglich.
Weiter wäre noch Griegs Bearbeitung von vier Sonaten Mozarts für zwei Klaviere zu erwähnen. In dem S. 102 erwähnten Aufsatz über Mozart verteidigt sich Grieg folgendermaßen gegen Vorwürfe, die ihm wegen dieser Arbeit gemacht worden sind: »Der Verfasser dieses Aufsatzes versuchte mit der Heranziehung eines zweiten Klaviers einigen Mozartschen Klaviersonaten eine unserem Tonempfinden entsprechende klangliche Wirkung zu verleihen und muß ausdrücklich bemerken, daß er voll schuldigen Respekts gegen den großen Meister keine einzige von Mozarts Noten veränderte. Ich glaube nicht, daß dies notwendig war, durchaus nicht. Doch vorausgesetzt, ein Mann folgt nicht dem Beispiel Gounods, der ein Bachsches Präludium zu einem modernen, sentimentalen und trivialen Schaustück verballhornte, das ich durchaus mißbillige, sondern sucht die stilistische Einheit zu wahren, so ist doch wahrhaftig kein Grund vorhanden, ein großes Entrüstungsgeschrei zu erheben, wenn er den Versuch einer Modernisierung wagt, als einer Tat, die aus Bewunderung für einen alten Meister entsprang.« Das ist alles ganz gut und schön; aber das zweite Klavier spricht eine so spezifisch nordische Sprache, daß man sein Hineinreden in Mozarts Text als recht störend empfindet; die beiden Klaviere halten nicht Zwiesprache, sondern reden aneinander vorbei, jedes außerdem in einem anderen Idiom. Im übrigen ragt Mozarts Musik so weit über seine Zeit empor, daß sie eine Modernisierung (die nach 25 Jahren ohnedies schon wieder unmodern sein würde) wirklich nicht braucht.
Von den zahlreichen Bearbeitungen eigener Werke, die Grieg für Klavier geschrieben hat, soll da die Rede sein, wo die Originalfassungen erwähnt werden. Nur seine Klavierstücke nach eigenen Liedern op. 41 u. 52 (vier Hefte) verdienen eine besondere Würdigung. Es handelt sich hier um Neuschöpfungen, bei denen die Melodie aus den Liedern herübergenommen, der Liedertext aber unbeachtet geblieben ist. Denkt man an den Text, so wird man z. B. das Klavierstück »Die Prinzessin« als bombastische Verballhornung des gleichnamigen Liedes empfinden. Kennt man dagegen den Text nicht, oder läßt man ihn unberücksichtigt, so hat man ein geradezu prachtvolles, farbenglühendes Phantasiestück vor sich. Auch die übrigen elf Stücke sind, als absolute Klaviermusik betrachtet, ganz hervorragende Schöpfungen von stärkster Wirkung. Ihr Klaviersatz verrät etwas die Lisztsche Schule, aber mehr noch Griegs bewundernswerte harmonische Erfindungskraft. Da es sich zudem um geschlossene Melodien handelt, die ihren Eigenwert haben, so sind diese Stücke durchaus als absolute Musik verständlich und dürften auch nur als solche gewertet werden. Es wäre sehr bedauerlich, wenn das gegen Liederübertragungen allgemein bestehende Vorurteil der Verbreitung dieser klangschönen, stimmungsvollen Klavierstücke hinderlich sein sollte. Aber Vorurteile haben ja bekanntlich ein sehr zähes Leben. Es ist leichter, die Urteile der größten Denker auf allen Gebieten umzustoßen, als ein einziges kleines Vorurteil zu beseitigen. (Denn Glück und Zufriedenheit des Menschengeschlechts gründen sich nicht auf die Erkenntnisse ihrer hervorragendsten Geister, sondern auf den Schatz an positiven Vorurteilen, über den der »Normalmensch« verfügt.)
Jedes echte Gedicht trägt den musikalischen Keim, seine geheime Melodie in sich. Das Siegel zu lösen, den rechten Ton zu finden und künstlerisch zu verkörpern, ist nicht jedermanns Sache und kann nicht erlernt werden, sondern muß angeboren sein.
Robert Franz.
Mehr als die Schönheit selbst bezaubert die liebliche Stimme; Jene zieret den Leib; sie ist der Seele Gewalt.
Herder.
I.
Grieg hat als Liederkomponist ähnliche Erfahrungen gemacht wie Hugo Wolf: Die Mehrzahl seiner Gesänge ist den Musikfreunden völlig unbekannt geblieben, nur einige wenige hörte und hört man überall; sie haben, wie es so hübsch heißt, »eingeschlagen«, weil ein paar bekannte und beliebte Sängerinnen sie in ihre Programme aufnahmen. Die Wahl, die diese Damen trafen, spricht für eine weitgehende Rücksicht auf den Geschmack der Menge. Weniger für ein tiefes Kunstverständnis. So ist Grieg wie Lohengrin von seinem »Schwan« unzertrennlich geworden; unablässig muß er sich »Im Kahne« schaukeln, was ihm gewiß nicht sehr gefällt, denn er fürchtete schon das harmlose Schwanken eines kleinen Flußdampfers mehr als den Tod; und noch übler würde ihm vermutlich werden, wenn er mit anhören müßte, wie tausende von, ach, so unverstandenen Backfischen in seinem zarten, keuschen »Ich liebe dich« ihre inbrünstige Leidenschaft ausrasen. »Muß es sein?« (grave: g, e, as) »Es muß sein.« (a, c, g). Währenddem schlafen Dutzende seiner herrlichsten Gesänge ihren Dornröschenschlaf, und niemand findet sich, sie zu tönendem Leben zu erwecken.
Man kann wohl sagen, daß kein anderer moderner Liederkomponist in demselben Maße (und dabei ganz ohne Berechnung) dem Publikum entgegengekommen ist wie Grieg. Die Gedichte, die er vertont hat, sind fast alle leicht eingänglich, seine Melodien klingen wundervoll, ohne je sentimental oder vulgär zu werden, seine Harmonien erfreuen durch ihre Originalität und Klangschönheit, sein Klaviersatz ist klar, durchsichtig und sehr leicht spielbar. Was also fehlt seinen Liedern? Sie meiden alle Schwächen der modernen Gesangskompositionen, so den monotonen Sprechgesang, die überladene Begleitung und das leere Illustrationsgeklingel, geben keinen Vorzug der älteren Liedkompositionen preis; und zu der tiefen Innerlichkeit, zu der jeder Künstelei abholden Schlichtheit ihrer Tonsprache fügen sie dann noch die moderne harmonische Farbenpracht und die gesteigerte Intensität realistischer Ausdrucksformen. So ist es schwer begreiflich, warum die Gesänge Griegs nicht den gleichen Erfolg gehabt haben wie seine Klavierkompositionen. Die formalen Mängel, die diesen anhaften, treten bei den Liedern überhaupt nicht zutage, dafür aber zeigen sich in ihnen alle Vorzüge Griegs im hellsten Lichte. Wir stehen hier vor einer jener Unbegreiflichkeiten, an denen die Musikgeschichte so reich ist.
Vielleicht war ein äußerer Grund der Verbreitung hinderlich: op. 4, 5, 9, 15, 18, 21, 25, 26, 33 und 39 sind überhaupt nicht in Einzelausgaben erschienen, sondern in kunterbunter Reihenfolge auf fünf Albums verteilt, die zusammen 60 Lieder enthalten. Neuerdings ist dann noch ein anderes Album hinzugekommen, das ebenfalls 60 Lieder umfaßt, aber nicht nur die früheren, sondern ebenso die späteren Werke berücksichtigt. In Einzelausgaben sind außer einigen besonders »zugkräftigen« Liedern nur zu haben: op. 2, 10, 44, 48, 49, 58, 59, 60, 67, 69, 70 und der Nachlaß. Sich in diesem Wirrwarr von Ausgaben zurechtzufinden, ist weder für das Publikum noch für den Musikalienhändler leicht.
Der Erfolg von neuen Liedern hängt nun gewöhnlich davon ab, daß berühmte Sängerinnen sie in ihren Konzerten vortragen; diejenigen Gesänge, die »einschlagen«, werden dann von den minder berühmten Kolleginnen in ihre Programme aufgenommen, überall in den kleinen Städten gesungen, – und das Publikum kauft, was ihm im Konzert besonders gefallen hat. »Haben Sie: ›Ich möchte jubeln‹ von Grieg?« Der Verkäufer blättert flüchtig in den Albums, schaut auch kopfschüttelnd in den Katalog der Edition Peters und erklärt dann: »Bedaure sehr. Das müßte ich in Leipzig bestellen.« Nun soll Name und Adresse angegeben, auf die unsichere Lieferung acht oder vierzehn Tage gewartet werden. Da verzichtet man lieber. »Es gibt ja so viel andere hübsche Lieder.« Findet der Verkäufer zufällig das gesuchte Lied in einem Album, so muß der »Interessent« elf Lieder aus verschiedenen Werken, die er gar nicht haben will, mit in den Kauf nehmen … Es ist gewiß traurig, ja beinahe grotesk, daß der Erfolg eines Liederkomponisten von derlei Dingen abhängt; aber was nützt es, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen? Wer da glaubt, das Schicksal eines Liedes werde lediglich durch seinen künstlerischen Wert bestimmt, der weiß wenig davon, wie Erfolge zustande kommen, und warum sie so oft ausbleiben.
Grieg hat außer 124 Gedichten in der dänisch-norwegischen Sprache auch 20 deutsche Texte komponiert. (Insgesamt also 144 Lieder.) Diese deutschen Gesänge würde man gern in einem Heft vereinigt sehen. Die anderen sollten nach den Dichtern gruppiert werden, denn man kann dem Publikum nicht zumuten, sich z. B. die Andersen-, Björnson- und Ibsenlieder aus einer Reihe von Bänden zusammenzusuchen. Nach den Opuszahlen die Einteilung vorzunehmen, ist nicht empfehlenswert; denn Grieg hat sie ganz willkürlich gewählt, ja er hat sogar für die deutschen Ausgaben zuweilen andere Opuszahlen verwandt als für die dänischen. Solvejgs Lied (spr.: ßohlweig) erscheint in op. 23, 52 und 55, mehrere Lieder tragen überhaupt keine Opuszahlen, Gesänge aus früherer und späterer Zeit sind in einem opus vereint, gleichzeitig komponierte Lieder auseinandergerissen, kurz, es herrscht ein arges Durcheinander.
Die ersten Lieder, die Grieg komponierte (nach Texten von Winther), sind als op. 10 erschienen; mehr als ein historisches Interesse können diese schwachen Kompositionsversuche nicht beanspruchen. Im Gegensatz zu ihnen zeigen die vier Lieder op. 2 bereits ein meisterliches Können. Dieses Werk enthält je zwei Lieder von Heine und Chamisso. Wir beginnen »teils dieserhalb, teils außerdem« mit ihm die Übersicht über die deutschen Lieder Griegs.
Die schönsten der acht Heine-Lieder finden sich in op. 2 und 4. Wohl zeigt sich hier noch der Einfluß Schuberts. Aber Hugo Riemann hat trotzdem vielleicht nicht unrecht, wenn er sagt, daß sich in einigen der ersten Liederhefte Griegs eine an Schuberts größte Momente gemahnende Gewalt der Tonsprache offenbare. Das Lied »Ich stand in dunkeln Träumen« beginnt mit einer leisen Erinnerung an Tannhäuserakkorde, und die Mitte füllt ein Schubertsches Tremolo aus; dann aber bei den Worten »Auch meine Tränen flossen mir von den Wangen herab« spricht Grieg in herrlichen Klängen ganz seine eigene Sprache. Dieses schöne und tiefe Lied, das trotz Verwendung von fremdem neben eigenem Material so einheitlich in seiner Wirkung ist, zeigt, wieviel mehr es auf die innere Kraft des Komponisten ankommt als darauf, daß jede Wendung neu und eigenartig sei. Ein Gegenstück zu dieser Jugendkomposition bildet das einzige nach einem Text von Geibel geschaffene Lied »Dereinst, Gedanke mein«, op. 48 Nr. 2, das mit seinen erdenfernen Tönen zu den ergreifendsten Liedern Griegs zählt. »In kühler Erden da schläfst du gut, dort ohne Lieb und ohne Pein wirst ruhig sein«: Wie sich bei diesen Worten alle Qual allmählich löst und mit einem Quartsextakkord von Dis-dur tiefster Frieden verbreitet, das ist so weihevoll wie weniges aus dem gesamten deutschen Liederschatz. »Das alte Lied« (op. 4 Nr. 5) erinnert an das »Wächterlied« aus op. 12; auch hier ist erstaunlich, mit wie geringen Mitteln Grieg tiefe Wirkungen zu erzielen versteht, mit welcher Sicherheit er die Grundstimmung eines Liedes trifft. Ein grimmig-trotziger Humor spricht aus dem Gesang »Eingehüllt in graue Wolken«; die scharf akzentuierten Viertelschläge in der Einleitung sind echter Grieg. Die geringste Bedeutung unter den Heine-Liedern hat wohl das zuletzt komponierte »Der Fichtenbaum« (op. 59 Nr. 2).
Unter den vier Chamisso-Liedern ist nichts Hervorragendes; immerhin wird »Die Müllerin« (op. 2 Nr. 1), vielleicht auch der »Morgenthau« (op. 4 Nr. 2) gern gesungen werden. In op. 4 Nr. 1 interessieren die Schlußtakte (wie in dem Heineschen op. 4 Nr. 6 die Anfangstakte) durch ihre Ausdruckskraft. Von Uhland gibt es ein konventionelles »Jägerlied« (op. 4 Nr. 4) und das hübsche, scherzhafte Liedchen »Lauf der Welt« (op. 48 Nr. 3), das spaßigerweise recht merklich an den »Trolltög« (op. 54) erinnert. Von Böttger (1815-1870), dem Leipziger Philologen und Übersetzer Byrons, hat Grieg ein »Osterlied« vertont, das ohne Opuszahl erschienen ist; von Schulz ein (im Nachlaß gefundenes) Jägerlied, das in seinem wirkungsvollen Aufbau und seiner echt Griegschen Harmonik ungleich höher steht als das nach einem Text von Uhland komponierte. Zu den wertvolleren Liedern gehört auch »Die verschwiegene Nachtigall« mit einem Text von Walther von der Vogelweide (op. 48 Nr. 4); als Musikstück ist das Liedchen in seiner altertümelnden Art wunderhübsch, nur merkt man an der Deklamation, daß es kein Deutscher geschaffen hat. Auch ein Lied von Goethe findet sich unter den deutschen Gesängen: »Zur Rosenzeit« op. 48 Nr. 5. Hier fehlt das bewußt Nordische ganz, und man sieht, daß Grieg auch ohne seine heimatlichen Klänge recht gut auskommen konnte. Die sanft-elegische, schmerzlich-schmachtende Melodie mit ihrer an Schumann erinnernden Struktur schmiegt sich dem Text vortrefflich an; in der Mitte wird die Stimmung allerdings fast zu gramvoll und verzweifelt (bei den zitternden Dissonanzen es – e und as – a), aber das Ganze kann doch als vorzüglich gelungen gelten. Vielleicht das schönste deutsche Lied und sicher das wirkungsvollste ist »Ein Traum« von Bodenstedt op. 48 Nr. 6; wie Grieg hier mit demselben Motiv vom zartesten Traum bis zum jubelnden Erleben der Wirklichkeit gelangt, das läßt sich gar nicht beschreiben; es ist mit den dazwischengestreuten Vogelrufen so einzigartig und so packend, daß man sich wundert, dem Lied nicht öfter in den Konzertsälen zu begegnen. Wer die Klavierstücke Griegs kennt, der vergleiche das »Traumgesicht« op. 62 mit dem Anfang dieses Gesanges. Das ganze op. 48 ist Fräulein Norgren (der späteren Frau Ellen Gulbranson) gewidmet.
II.
Die nordischen Lieder Griegs sind in ihrer Gesamtheit etwas so Außerordentliches, weil es im ganzen Bereich menschlicher Empfindungen und Stimmungen wohl nichts gibt, was hier nicht zum Ausdruck käme. Zumal in den elegischen Gesängen findet sich eine solche Fülle von Abstufungen, daß man immer von neuem den inneren Reichtum und das große Können dieses feinsinnigen Lyrikers bewundert. Selbst für dramatische und heroische Gesänge findet er die rechten Töne; daneben gelingen ihm in gleicher Weise zarte wie derbe Humoresken, romantische Naturpoesien, volkstümliche Weisen, vaterländische und religiöse Hymnen, Wiegenlieder und was es sonst noch an Gattungen gibt. Die Übersetzungen der Gedichte sind leider nur zum Teil brauchbar, trotzdem sich im Lauf der Zeit mehrere Dolmetscher an denselben Texten versucht haben. Rein sprachlich am besten erscheinen die Übertragungen von Hans Schmidt, aber auch bei ihnen kommt es vor, daß die melodischen Akzente und Dehnungen auf Nebensilben ruhen, wodurch oft die ganze Wirkung zerstört wird. Statt des beigegebenen englischen Textes hätte man in den Albums viel lieber den dänisch-norwegischen Urtext; ihn zu verstehen ist gar nicht so schwer, weil die meisten Worte ähnlich wie im Deutschen klingen. Immer wieder muß betont werden, daß nur ein guter Musiker fremde Liedertexte brauchbar übersetzen kann; denn die Hauptsache ist nicht das Sprachliche, sondern die Anpassung an die gegebene Melodie; wo die mißglückt, wo man alle Augenblicke auf unmögliche Betonungen und dergleichen stößt, da nützt keine dichterische Eleganz etwas. Viel leichter sind kleine sprachliche Unkorrektheiten zu ertragen, wenn nur Text und Melodie gut zusammengehen.
Mit fünfzehn Gesängen steht Andersen an der Spitze der von Grieg vertonten Dichter. Das reizende Liedchen »Zwei braune Augen« (op. 5 Nr. 1) macht den Anfang. Auch die andern drei Gedichte dieses Werkes stammen von Andersen; Nr. 2 »Des Dichters Herz« und Nr. 3 »Ich liebe dich« sind rein musikalisch von gleichem Wert; dichterisch steht jedoch Nr. 2 ungleich höher. Grieg hat beide Lieder gleich lieb gehabt und sie ganz ausgezeichnet für Klavier übertragen (op. 52 Nr. 3 und op. 41 Nr. 3). In op. 15 finden sich zwei weitere Andersensche Lieder, darunter eine schöne Schwester von op. 5 Nr. 3: »Liebe«, – leider nicht gut übersetzt, so daß die stimmungsvolle Klavierübertragung in op. 52 Nr. 5 vorzuziehen ist. Es schließen sich sechs Lieder aus op. 18 an, alle sehr hübsch, aber keines sehr bedeutend; am dankbarsten vielleicht »Waldwanderung« (Nr. 1) und »Die Poesie« (Nr. 5). In Nr. 3 »Des Dichters letztes Lied« haben wir eine Ergänzung zu op. 5 Nr. 2. Sehr eigenartig mit dem Tritonus in der Melodie und zugleich sehr anmutig ist Nr. 2 »Wenn einst sie lag an meiner Brust«; in der feinsinnigen Klavierbearbeitung (op. 41 Nr. 4) lautet der Titel: »Sie ist so weiß«. Weitere drei Andersen-Lieder fanden sich im Nachlaß: »Der Soldat«, »Tränen« und »Mein kleiner Vogel«. Das letzte Lied (aus dem Jahre 1865) ist strophisch und wirkt bei der dreimaligen Wiederholung etwas eintönig. Es gibt nun seltsamer Weise noch eine zweite Fassung (»Mein Vöglein«, Verlag von Julius Hainauer in Breslau); hier ist die zweite Strophe anders als die erste und dritte gestaltet, so daß die Musik nun mehr Abwechslung bietet. Diese zweite Fassung verdient also den Vorzug.
Von John Paulsen hat Grieg vierzehn Gedichte komponiert. Die ersten vier Lieder sind in op. 26 zu finden und zeigen eine innere Verwandtschaft mit den Andersen-Gesängen. Am populärsten ist von ihnen Nr. 4 (»Mit einer Primula veris«), der man die Originaltonart Ges-dur nicht nehmen sollte; stärkere Eigenart offenbart jedoch Nr. 5 (»Herbststimmung«), ein sehr melancholisches Lied, das mit seiner eckigen Melodieführung und seiner zugespitzten Chromatik nicht auf den ersten Blick für sich einnimmt. Im mittleren Teil und in der Schlußkadenz verrät sich das Bestreben, vom Herkömmlichen um jeden Preis abzuweichen. Das ziemlich schwache op. 58 enthält neben viel Wagnerischem einen echt nordischen, überaus schwärmerischem Hymnus »An das Vaterland«. Op. 59 beginnt mit einer zweiten »Herbststimmung«, die noch schwermütiger als die erste ist, und schließt mit dem gleichfalls sehr elegischen Gesang »Nun ruhest du«, bei dem die charakteristische Terzenbewegung zwischen Melodie und Baß Beachtung verdient. Dazwischen finden sich neben einem belanglosen Liedchen »Abschied« zwei sehr schöne Gesänge »An sie«. Der erste »Du bist der Lenz« offenbart die ganze Gemütstiefe Griegs; stärkste Empfindung erfüllt auch den zweiten »Warum schimmert dein Auge«, dessen seltsame, teils eigene, teils tristanische Harmonik mit der Dominante von A-moll beginnt und schließt, sonst aber außerhalb jeder Tonart steht.
Stärker als in den Paulsen-Gesängen ist das skandinavische Element in den dreizehn Liedern mit Texten des Dichters Holger Drachmann (1846-1908) betont. Den Zyklus »Aus Fjeld und Fjord« op. 44 kennt man in Deutschland kaum, und wenn wir das fünfte, innig-süße Liedchen »Ragna« ausnehmen, so schadet das auch nicht viel. Von Fjeld und Fjord schwärmt der Dichter zwar im Prolog und Epilog (beide von Grieg frei rezitiert, hier mit Anlehnung an italienische Floskeln, dort unter Benutzung von Wagnerklängen), sonst aber hat er von der Natur nicht viel gesehen, weil ihn vier Mädchengestalten, Johanne, Ragnhild, Ingeborg und Ragna, so fesselten, daß er den Blick nicht von ihnen wenden konnte. Eigentlich ist er gleich seinem Begleiter Grieg in alle vier zugleich verliebt, aber die kleine Fischerin Ragnhild hat es ihm doch ganz besonders angetan; daneben zeigt er auch Sinn für die rundlichen Reize Ingeborgs, die den beiden Wanderern den Trank der Labe kredenzte und das Brot buk: »Es wölbt sich deine Brust, o Maid, wie reiner Gletscherschnee, doch schaut den still verborgnen Glanz kein fremdes Auge je; sie träumt wohl hinterm Blaugarnhemd, der Welt und ihrem Treiben fremd, bis einst erwacht sie ganz sich gibt dem Burschen, der sie liebt.« Was du jetzt denkst, lieber Leser, und auch du, teure Leserin, stimmt nicht. Immerhin versichert der Dichter im Epilog unter wörtlicher Benutzung einer klassischen Sentenz aus Bayern: »Auf der Alm, da gibt's ka' Sünd.« (Dös glaabst! Duliö!) – Ernsthafter und wertvoller sind die »Sechs Gedichte« op. 49. Zwar klingt im ersten Liede noch die Erinnerung an die Freuden der Alm, nein, des Fjelds und Fjords, lebhaft nach (»Komm, du Braune, daß hochzeitlich bei dir im Grünen ich wohne; wir achten der klatschenden Zungen Stich nur eine Bohne.« »Zeige den Arm, Magisterlein; zum Busen umspannen ist der zu klein«); aber gleich nach dieser fabelhaft feinsinnigen Poesie kommt ein wirklich entzückendes Liedchen »Wieg, o Welle«, in dem auch die rezitativischen Stellen von zauberischer Anmut sind. Nr. 3 »Gegrüßt seid, ihr Damen« stammt von den Meistersingern her; da spricht Pogner allerdings zu Vertretern des häßlichen Geschlechts. Diesem nicht aufregenden Gesang folgt wieder ein sehr sinniges Lied (»Nun der Abend licht und lang«), dem das schönste der Sammlung angegliedert ist: »Weihnachtsschnee«. Hier verbindet sich das Volkstümliche mit dem Religiösen zu ganz schlichten und doch so ergreifenden Klängen, die Anfang und Ende bilden, während der sehr ausgedehnte mittlere Teil von schmerzensreichen Klagen in harten Griegschen Dissonanzen erfüllt ist. Auch das letzte Lied »Frühlingsregen« gehört zu den Perlen Griegscher Lyrik; in diesem gemütstiefen Gesange hat der Meister mit sorgsam gewählten Dissonanzen duftige Klänge von herrlichstem Wohllaut geschaffen und jene ihm eigene Stimmung hervorgezaubert, in der zarte Glücksempfindung und stille Wehmut zu einer höheren Einheit verschmelzen. Über den »Schlichten Sang« aus dem Nachlaß ist nicht viel zu sagen: ein hübsches, harmloses Liedchen, dessen Anklänge an das Finale der C-moll-Sonate (op. 45) nicht weiter stören.
Leicht zu merken durch die Opuszahl 33 sind die zwölf Vinje-Lieder, denen sich ein dreizehntes aus dem Nachlaß (»Auf Hamars Ruinen«) zugesellt. Sie bedeuten den Gipfel der Liedkunst Griegs. So viel schöne Gesänge der nordische Meister auch sonst noch geschaffen hat, nirgends offenbart sich seine Eigenart stärker und reifer, seine Menschlichkeit reiner und tiefer, sein Norwegertum urwüchsiger und mannhafter als in diesen prächtigen Liedern, die er nach Dichtungen des einfachen Bauersmannes Vinje in etwa acht Tagen niederschrieb. Zu bedauern bleibt nur, daß er sich bei längeren Gedichten fast nie entschließen kann sie durchzukomponieren; sein starres Festhalten an der strophischen Form macht es ihm gleich bei dem ersten Lied unmöglich, der dichterischen Entwicklung zu folgen. Wenn drei verschiedene Strophen dasselbe musikalische Gewand erhalten, so paßt die Musik zu keiner einzelnen so genau, wie es die künstlerische Wahrheit erfordert. In früheren Zeiten hat man darüber hinweggesehen, aber das moderne Publikum ist in dieser Hinsicht mit Recht sehr empfindlich geworden. Auch das zweite Lied, der berühmte »Letzte Frühling«, leidet ein wenig unter der strophischen Form; die Musik ist hier allerdings von solchem Wohllaut und solcher Empfindungstiefe, daß man gern zweimal das Gleiche hört und kaum empfindet, wie sich der Dichter in seinem Gedankenfluge mehr und mehr vom Komponisten entfernt. Im dritten Liede führt die strophische Form dann allerdings zu einem unerträglichen Zwiespalt zwischen Text und Musik; denn die schrillen Dissonanzen (Zusammenklang des Vorhalts und seines Auflösungstones fisis-gis und his-cis), die so vortrefflich zur ersten und zweiten Strophe passen, sind vollkommen sinnlos bei den Worten »Begrüßt von jubelnder Vögel Chor«. Als Musik »an sich« ist auch dieses Lied herrlich; aber die dritte Strophe kann man einfach nicht singen. In dem folgenden Lied »Die Beere« (frühere Übersetzung: »Die Heidelbeere«) vermutet nach der Überschrift gewiß niemand einen patriotischen Gesang: Die Beere gibt einem dürstenden Jüngling ihr Blut und sagt ihm, wenn er sein Volk in Not sehe, so solle auch er nicht zögern, sein Blut zu opfern. Der großartige Aufschwung der wildklagenden Musik am Schlusse des Liedes über dem Orgelpunkt a offenbart so recht die Kraft und Innigkeit der Liebe Griegs zu seinem Lande und seinem Volke. Wie sehr ist doch uns armen Deutschen in all unserer äußeren und inneren Not dieser im tiefsten Innern wurzelnde, beinahe unpolitische Patriotismus abhanden gekommen, der sich hier kund tut. Wir sollten von den großen Künstlern aller Völker lernen, daß nur der einer allumfassenden Menschheitsliebe fähig ist, dem seine Heimat und sein Volk ans Herz gewachsen sind. Grieg hat in seinem Leben und in seinen Werken den Weg von der Vaterlandsliebe zur Menschheitsliebe gefunden (nicht jenen andern Weg vom Chauvinismus zum Internationalismus, auf dem man das deutsche Volk hin und her zerrt). Als er einmal von einem Engländer interpelliert wurde, soll er gesagt haben: »Mein Troldhaugen, mein Norwegen und die Welt dahinter bilden konzentrische Kreise; ich bin kein Sportsmann und habe keine Lust, auf der Peripherie eines dieser Kreise sinnlos herumzurasen; als Künstler setze ich mich in die Mitte von allen dreien, und da steht zufällig mein Flügel.« Wenn dieser Ausspruch nicht authentisch sein sollte, so ist er jedenfalls sehr gut erfunden. Von seinem »Mittelpunkt« aus hat der Meister mit seinen Künstleraugen in der Tat eine ganze Welt gesehen. Sein op. 33 zeigt, wie weit sein Blick reichte. In Nr. 5 »Am Strome« wird die Demut verherrlicht, die Dankbarkeit nicht für Freuden allein, auch für Leiden und Tod. Man beachte, wie charakteristisch Grieg am Schlusse des Liedes wieder den Terzensprung von der Septime zur Quinte verwendet. In Nr. 6 »Was ich sah« ist von einer Vision des Glücks die Rede, das nie greifbare Wirklichkeit werden kann. Die Musik mit ihren tanzartigen Rhythmen zeigt, daß der Dichter hier tiefer schaute als der Komponist; immerhin klingt sie sehr schön. Nr. 7 »Die alte Mutter« umschließt eine Welt für sich; man darf an die schlichten, warmherzigen Worte nicht denken, wenn man die Klavierbearbeitung (op. 52 Nr. 6) spielt, denn aus der volkstümlichen Musik des Liedes wird hier etwas ganz anderes: eine leidenschaftliche Klage um den Verlust der Mutter, von dem der Liedertext nicht spricht. Nr. 8 »Das Höchste« preist die allumfassende, nimmer ruhende Liebe mit einfachen, fast zu einfachen Klängen. Nr. 9 »Auf der Reise zur Heimat« schließt sich den Heimatgesängen in den »Lyrischen Stücken« an; unnötig zu sagen, daß dieses Lied von Herzen gekommen ist und zu Herzen geht. Nr. 10 »Verrat« schildert mit düsteren Farben den bitteren Schmerz über die Treulosigkeit eines Freundes; wieder fällt die herbe Dissonanz auf, die durch Zusammenklang von Vorhalt und Auflösungston (gis-a) entsteht. Nr. 11 »Glaube« ist ein höchst seltsames Lied, das sich gegen die christliche Kirchenlehre wendet. Daß Grieg die Ironie des Textes nicht erkannt habe, kann man nicht annehmen; seine Musik klingt aber so sanft und fromm, daß der Hörer, wenn er die Worte nicht versteht, unfehlbar in eine andächtige Stimmung gerät. Liest er dann hinterher die Verse, so wird er sicher kein sehr schlaues Gesicht machen. Hatte Grieg das beabsichtigt? Ein großer Kirchenfreund war er ja gewiß nicht (Kirchensinn und Religiosität sind bekanntlich zweierlei), aber schlechte Scherze pflegte er sonst nicht zu machen. »Merkwürdiger Fall.« – Nr. 12 »Mein Ziel« bildet einen sehr wirksamen Schluß des Werkes. »Vorwärts mutig den Blick gerichtet, fest und sicher das Ziel gesichtet, stolz verachtet die krummen Stege, vorwärts stets auf geradem Wege.« Das war Griegs Art; und darum ist ihm auch dieses Lied so prächtig gelungen. Den grandiosen Schluß stört etwas die hier unberechtigte Dissonanz zwischen Vorhalt und Auflösungston (fis-g, h-c), die man geradezu als die Vinje-Dissonanz bezeichnen könnte, und die übermäßige Betonung eines nebensächlichen Wortes. (»Dem Ziel entgegen, entgegen.«)
Den Vinje-Liedern wird mancher die zehn Benzon-Gesänge (op. 69 und 70) noch vorziehen. Op. 69 enthält drei heitere Lieder: »Es schaukelt ein Kahn im Fjorde«, »An meinen Sohn« und »Schneck! Schneck!« In dem letzten ist ein bißchen viel »Waldweben«, sonst aber zeichnet es sich gleich den beiden andern durch Frische der Erfindung, prächtigen Klaviersatz und fröhlichste Stimmung aus. Am wertvollsten ist von den dreien wohl das erste, gefällig und zum Vortrag geeignet sind sie alle drei. Auch die »Träume« zeigen bei aller Zartheit einen erquickenden Frohsinn in ihren wohligen Harmonien und sanft wiegenden Rhythmen. Mitten unter diesen von heiteren Klängen erfüllten Liedern steht ein ernster, schwermütiger Gesang: »Am Grabe der Mutter«; für den, der ernsten Liedern mehr als heiteren zuneigt, vielleicht die schönste und tiefste Offenbarung des großen Menschen und Künstlers Edvard Grieg. In der Form eine einzigartige Verschmelzung von Trauermarsch (mit dumpfen Totenglocken) und Wiegenlied. Der erschütternden Klage wird das Niederdrückende, Hoffnungslose, Zermarternde ein wenig durch die den Wiegenliedern eigenen Wiederholungen von Melodienoten genommen. Welch lebenswahrer und zugleich rührender Zug liegt darin, daß hier der gereifte Mensch (Mann oder Frau) sein Mütterchen in den Schlaf wiegt, es wie ein Kind zur ewigen Ruhe geleitet. Bis zur Mitte des Lebens ist wohl jeder für seine Mutter ein Kind, dann kehrt sich das Verhältnis ganz leise, ganz unmerklich um. Wo die natürlichen Beziehungen zwischen Mutter und Sohn oder Tochter bestehen, da wird der Verlust nie ganz verwunden; das zeigt sich auch in den ergreifenden Klängen Griegs bei dem bis ins Mark dringenden Aufstöhnen: »Solcher Schmerz ist täglich neu.« Immer stiller wird danach die Klage, langsam gleiten die Melodie und die Harmonien (wie ein leises Sichausweinen) abwärts, und eine friedvolle Dur-Harmonie schließt das Ganze. – Die Gesänge in op. 70 stehen nicht auf gleicher Höhe. Viel gesungen wird der erste, »Eros«, der einen kräftigen, leidenschaftlichen Ton anschlägt, aber nicht sehr stark in der Erfindung ist. Es folgt der düstere, hoffnungslos ringende Gesang »Ich lebe ein Leben in Sehnsucht«. Das nächste Lied, »Lichte Nacht«, zeigt nach einem sehr weichen, fast weichlichen Anfang ein merkliches Hinneigen zu Brahms, dem sich Grieg sonst keineswegs verwandt fühlte. Das vorletzte Liedchen, »Sieh dich vor«, klingt recht hübsch und apart, ohne tiefere Wirkungen hervorzurufen. Aber dann kommt eine prächtige Schlußnummer, »Dichterweise«, in der den Philistern ganz gehörig die Wahrheit gesagt wird. Auch Grieg teilt hier und da ein paar kräftige Schläge aus, begnügt sich aber in der Regel damit, die Dichterworte mit lustigem Geklingel zu umgeben.
III.
Die elf Björnson-Lieder gehören fast sämtlich einer früheren Schaffensperiode Griegs an. Sehr bekannt ist der Gesang »Die Prinzessin« (ohne Opuszahl). Seine halb nordische, halb exotische Musik wirkt sehr zart und stimmungsvoll, doch ist der Text leider recht schlecht übersetzt. »Schweig stille, o Kleiner, du fesselst mir, ach!« Pause. Dann geht es weiter: »All meine Gedanken«. Die Schalmei-Melodie, von der die Liedstrophen umrahmt werden, offenbart ihren Gefühlsreichtum erst durch die zweifache Harmonisierung in der Klavierbearbeitung (op. 41, Nr. 5). Es empfiehlt sich, beim Konzertvortrag die Schlußtakte aus dieser Bearbeitung zu übernehmen, weil sonst ein erkennbarer Abschluß fehlt und die Zuhörer erfahrungsgemäß glauben, es folge noch eine weitere Strophe. – Ein Liederheft, das nur Gedichte Björnsons enthält (op. 21), ist voll von Frühlingsstimmungen. Mit Vogelgezwitscher beginnt das dritte Lied »Dem Lenz soll mein Lied erklingen«, und die Singstimme fügt zunächst nur einen melodischen Nachsatz hinzu. (Richard Strauß hat das in seinem Liede »Morgen« nachgemacht.) Dann aber beginnt eine schöne Steigerung, durch eine echt nordische Episode unterbrochen, und mit herrlichem Aufschwung endet das sehnsuchtsvolle Lied. Es gehört zu den wenigen, die durchkomponiert sind. Nr. 1 »Erstes Begegnen« vereint den Frühling der Natur mit dem Frühling der Herzen; auch dieses melodisch wie harmonisch reizvolle Liedchen ist durchkomponiert. In den Klavierstücken begegnen wir den beiden Gesängen nochmals (op. 41 Nr. 6 und op. 52 Nr. 2). An einen heiteren, sonnigen Frühlingstag erinnert das überaus frische, volksliedartige »Guten Morgen« (Nr. 2); und im letzten Liede (Nr. 4) geht es dann mit geschwellten Segeln auf schwankendem Boot ins volle Leben hinein, die Brust von Frühlingshoffnungen erfüllt. Dieser feurige Gesang zeigt den kampfesfrohen Tondichter der Christianiaer Zeit und verrät in der trefflichen Deklamation den guten Einfluß Wagners. Von den späteren Björnson-Liedern erfreut sich op. 39 Nr. 1 »Vom Monte Pincio« einer unbegründeten Beliebtheit. Dieser mosaikartig zusammengesetzte Gesang wurde 1870 in Rom geschrieben; sein künstlerischer Wert ist trotz schöner Einzelheiten deshalb so gering, weil ihm jede Einheit fehlt, und weil er in der Mitte eine ziemlich üble Liedertafelei enthält. Op. 39 Nr. 2 »Verborgene Liebe« erscheint wie eine Vorahnung von Solvejgs Lied; wieder einmal muß auf den charakteristischen Sprung von der Septime zur Quinte hingewiesen werden. Im Nachlaß fanden sich noch zwei weitere Gesänge: »Seufzer«, eine Bagatelle im Volkston, und »Das blonde Mädchen«, ein sehr hübsches eindrucksvolles Lied, das auch noch aus den Jahren in Christiania stammt. Außerdem wäre hier der in Text und Musik gleich schöne Gesang »Ich liebte« zu erwähnen; er ist das einzige Stück aus dem unvollendeten Oratorium »Der Friede« (vgl. S. 67), ganz liedmäßig gesetzt, und von tiefster Empfindung erfüllt.
Ibsens Name findet sich zum ersten Mal in op. 15. Die Verse von Nr. 1, »Margaretens Wiegenlied«, erinnern an den Kindergesang aus Hänsel und Gretel: »Abends will ich schlafen gehen«. Auch hier steigen die Englein auf einer schönen breiten Treppe vom Himmel hernieder (wozu haben sie Flügel?), um den Schlummer des Kindes zu bewachen, und die Musik klingt genau so fromm und innig wie bei Humperdinck. In den Klavierstücken findet sich das Liedchen unter dem Titel »Klein Haakon« (op. 41 Nr. 2). Die beiden nächsten Lieder stammen aus Peer Gynt; über sie wird später zu sprechen sein. Dann kommen nur noch die fünf Lieder op. 25. Den »Schwan« hat Hans Schmidt jetzt in lesbares und sangbares Deutsch übertragen; die frühere Übersetzung, die groß gedruckt darübersteht, ist so über die Maßen schauderhaft, daß der starke Erfolg des Liedes mit diesem Text sehr für die Musik Griegs spricht. Sie klingt nicht alltäglich und zeigt, wie reiflich Grieg über sie nachgedacht hat; eingefallen ist ihm allerdings sehr wenig. Wertvoller erscheint die Musik zum »Spielmannslied«; auch hier liegt der Schwerpunkt freilich im Harmonischen; die Melodie am Anfang und Ende hat Grieg aus dem ersten Satze seines Streichquartetts übernommen, und im mittleren Abschnitt wird nur rezitiert. Wagners Einfluß verrät sich in der Aneinanderreihung von terzverwandten Klängen. Mit guter Wirkung hat Grieg im letzten Teil außer seinen geliebten Septimen- und Nonen- auch die seltenen Undezimen-Akkorde verwandt, so daß also zuweilen die ganze Tonleiter mit Ausnahme eines einzigen Tons zusammenklingt. Der kurze Gesang »Geschieden« ist gleichfalls in melodischer Hinsicht wenig bemerkenswert, dafür aber zeigt sich hier Griegs Charakterisierungskunst im hellsten Licht; besonders die leeren Oktaven am Anfang jeder zweiten Verszeile wirken mit ihrer schneidenden Schärfe sehr stark. Die Melodik kommt dann im »Stammbuchsreim« zu ihrem Recht, einem trotz seiner Kürze bedeutungsvollen Gesange, dessen Lyrismen man in dem Goethe-Lied op. 48 Nr. 5 wiederfindet. Sehr melodisch ist der ermüdend lange und allzu gleichförmige Gesang »Mit einer Wasserlilie«, der anmutig klingt, aber Griegs Eigenart nur schwach wiederspiegelt.
Gehen schon bei den Ibsen-Liedern die Meinungen auseinander, so ist es nicht zu verwundern, daß der Zyklus »Das Kind der Berge« op. 67 mit Texten von Arne Garborg eine sehr verschiedene Beurteilung gefunden hat. Um den Gedichten gerecht zu werden, muß man die Erzählung (»Haugtussa«) kennen, der sie entnommen sind. Ohne Zusammenhang in einer nicht sehr poesievollen deutschen Übersetzung nebeneinandergestellt, können sie nicht wirken. Kommt noch hinzu, daß die Musik in diesem Werke auf harmonischen Farbenreichtum verzichtet, um den Gedichten nicht ihre Einfachheit und Volkstümlichkeit zu nehmen. Um so liebevoller ist dafür allerdings die Melodik behandelt, die sich den norwegischen Ausdrucksformen eng anschließt. Hierdurch erklärt es sich, daß die Lieder in Dänemark und Norwegen sehr beliebt sind, während das deutsche Publikum sich nicht recht für sie erwärmen kann. Das hübsche Lied »In den Heidelbeeren« (nicht zu verwechseln mit der »Heidelbeere« aus op. 33) sollte stets im Originaltext oder in der englischen Übersetzung vorgetragen werden; denn im Deutschen kann man unmöglich singen »Ihre Kühe, da heißt es rasten« oder »Iiich (forte) muß zum Stalle nun gehn«; das klingt im Norwegischen urwüchsig und im Englischen beinahe so amüsant wie ein Niggersong, im Deutschen aber gar zu vulgär. Durch Lili Lehmann ist der sehr lustige »Zickeltanz« bekannt geworden, der zur Gattung der »Zugabe-Lieder« gehört. Die übrigen Gesänge enthalten viel intime Schönheiten, an denen ein Musikerherz sich erfreut; man sollte sie also nicht unbeachtet liegen lassen, bloß weil sie im Konzertsaal keinen Erfolg gehabt haben. Manche anderen Gesänge Griegs, die beim ersten Anhören sehr gefallen, verlieren ihren Reiz, wenn man sie oft hört. Bei den Garborg-Liedern »Lockung«, »Stelldichein«, »Liebe« und »Am Bergbach« ist es jedoch umgekehrt: sie gewinnen um so mehr, je eifriger man sich mit ihnen beschäftigt. Ein hier verwendeter melodischer Anfang, den wir z. B. auch aus dem Liede »Sind wir vereint (c, f, g, a) zur guten Stunde« und aus mehreren Liedern von Brahms kennen, scheint Gemeingut aller Komponisten zu sein; wenigstens begegnet er uns in Dur wie in Moll bei allen Kulturvölkern immer und immer wieder. Am Schlusse des letzten Garborg-Liedes finden sich seltsamerweise dieselben Harmonien, die das Klavierstück »An den Frühling« (op. 43) so reizvoll beenden. (Ihre technische Erklärung ist ganz einfach: Unterdominantklang mit hinzugefügter kleiner Septime, Erniedrigung der Terz, um einen Halbtonschritt zur Tonikaquinte zu gewinnen, tonischer Dreiklang; also ein plagaler Schluß.)
Wenig bekannt in Deutschland sind auch die sieben (bei Forberg in Leipzig erschienenen) Kinderlieder op. 61. Die ersten sechs bieten eine ganz reizende, sehr leicht spielbare und singbare Musik. In Nr. 1 dürfen wir Deutsche das uns störende cis (Leitton zur Quinte) in ein c umwandeln; selbst den Norwegern wird das cis hier »fehl am Ort« erscheinen. Nr. 2 und 3 bereiten reinsten Genuß; in Nr. 4 und 5 aber ärgert man sich über den läppischen Text. In dem einen Liede wird ein Pferd liebevoll angesungen, in dem andern Jesus Christus herbeigerufen, damit er die Flundern zum Angelhaken locken solle. Sehr schön ist dann wieder Nr. 6 (»Im Fjeld«). Nr. 7 (»Psalm für das Vaterland«) paßt zwar gar nicht in die Sammlung, klingt aber sehr frisch und mannhaft.
Keinen großen literarischen Wert haben ferner die vier Gedichte von Andreas Munch (1811-1884), deren Vertonung als op. 9 erschienen ist. Das erste wie das dritte Lied hinterläßt keine nachhaltigen Eindrücke; wunderschön und tief ergreifend ist aber das zweite, ein »Wiegenlied«, das ein Witwer seinem Kinde singt. Grieg hat es auch für Klavier allein bearbeitet (op. 41 Nr. 1). Erwähnung verdient ferner das durchkomponierte Gedicht »Ausfahrt«, das Grieg kurz vor seiner ersten Romreise (1865) schrieb. Seine Ausdruckskraft ist so stark, daß die Schwächen des Textes und einige Lohengrinanklänge kaum stören.
Zu den glücklichsten Eingebungen Griegs gehören die fünf Lieder zu den Texten von Vilhelm Krag (geb. 1871). Das beliebteste von ihnen, »Im Kahne«, ist zugleich das unbedeutendste. Von den übrigen vier sind zwei sehr ergreifend (»Die Mutter singt« und »Ein Vogel schrie«), zwei von sonniger Heiterkeit erfüllt (»Margaretlein« und »Zur Johannisnacht«). Welchem man den Vorzug geben soll, ist schwer zu sagen; sie erscheinen alle gleich liebenswert.
Von C. Richardt hat Grieg zwei Gedichte vertont. Der »Mutterschmerz« ist als Klavierstück (op. 52 Nr. 1) so wundervoll, daß man den schwachen Text gern vermißt. Auch bei dem Liede (op. 15 Nr. 4) muß auf sehr gebundenes Spiel geachtet werden; die Seufzer in Takt 3, 4, 7, 8, 20 und 21 können nur dann gut zum Ausdruck kommen, wenn die erste punktierte Viertelnote stark betont und die zweite ganz innig und ganz leise darangebunden wird. Das zweite Gedicht »Herbststurm« (op. 18 Nr. 4) hat Grieg nach der Art von Wagners Fliegendem Holländer sehr geschickt und wirkungsvoll in Musik gesetzt, doch tritt seine Eigenart hier nur wenig hervor.
»Die junge Birke« (op. 18 Nr. 6), mit Worten von J. Moe, schwankt zwischen H-dur und Es-dur hin und her; wie man von einer Birke das Streben nach oben und die christliche Demut lernen könne, bleibt Geheimnis des Dichters. »Die Odalisken« (ohne Opuszahl) lauschen dem Nachtigallenschlag in einem Haremsgarten am Bosporus, aber der Komponist hat an Stelle der Nachtigallen nur Klänge aus Wagners Venusberg vernommen. Der Dichter dieses Gesanges ist der Geschichtsforscher Carl Bruun, der sich durch die Herausgabe von Holbergs Briefen ein Verdienst erworben hat. Kristofer Jansons Lied »Unter Rosen« (op. 39 Nr. 4) ist so belanglos wie Griegs Musik dazu. O. P. Monrads Gesang »An der Bahre einer jungen Frau« (op. 39 Nr. 5) zeigt dagegen wieder die Tiefe der Empfindung, die aus allen ernsten Liedern Griegs spricht. Besonders ausdrucksvoll hat der Komponist hier den Anfang und Schluß durch eine Baßmelodie gestaltet, aber auch die Sequenzen in der Mitte wirken ergreifend und feierlich. Aus dem Nachlaß ist noch ein »Weihnachts-Wiegenlied« von Adolf Langsted zu erwähnen, das Grieg im Jahre 1900 komponiert hat. Seine Wirkung hängt ganz und gar von der Vortragskunst der Sängerin ab; über einige durch die Übersetzung verschuldete Betonungen an unrichtiger Stelle wird sie unmerklich hinweggleiten müssen. Noch wichtiger wäre, daß sie die letzte Silbe jeder Verszeile ein wenig dehnt, damit die Melodie nicht leierig klingt. Das Liedchen ist harmonisch so wunderschön und auch melodisch so einschmeichelnd, daß sich die allersorgsamste Ausfeilung des Vortrags lohnt. Am besten wäre es, den Originaltext zu singen, selbst auf die Gefahr hin unverständlich zu bleiben. Das würde nicht viel schaden …
Man kann sogar ruhig einmal die paradoxe Behauptung aussprechen, daß es Lieder gibt, bei denen die Worte geradezu stören; genau wie es Instrumentalwerke gibt, bei denen man Worte hinzufügen möchte. (Liszt hat das zuweilen in seinen Partituren getan.) Das Weihnachts-Wiegenliedchen von Grieg ist so einheitlich in Melodie, Harmonie und Stimmung, so vollkommen aus der Musik heraus verständlich, daß man die banalen Worte, die so ungeschickt in die Noten hineingesetzt sind, wahrhaftig nicht braucht. Muß denn überhaupt alles Gesungene immer einen verstandesmäßigen Sinn haben? (Frederick Delius läßt in einigen seiner Werke nur Naturlaute singen.) Man vergesse nicht, daß selbst dem großen Brahms ein paar Mal eine schöne Liedmelodie eingefallen ist, zu der er dann hinterher erst einen Text suchte. Das Publikum hört so ein Lied im Konzertsaal, versteht keine Silbe und ist trotzdem ehrlich begeistert. Wäre unsere deutsche Sprache wenigstens der italienischen oder spanischen ähnlich! Aber unsere gehäuften Zisch- und Pfeiflaute zerreißen die herrlichsten Melodien oft so unbarmherzig, daß sie ganz entstellt und entseelt erscheinen. Wer Griegs Lyrik in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit, in ihrem vollen Reichtum an Gefühlswerten erkennen will, der singe zuweilen eine Melodie ohne Worte vor sich hin und betone dabei so, wie sein Gefühl es ihm eingibt, wie die Melodie es will: Er wird dann die überraschendsten und beglückendsten Entdeckungen machen. (Vgl. hierzu S. 198.) Vielleicht steckt doch etwas Wahres in dem Satze, daß der Sinn der Musik erst da anfängt, wo die Worte ihren Sinn verlieren. Wenn Oscar Bie deshalb die Oper als eine »unmögliche« Kunstgattung bezeichnet, so müßte er eigentlich auch über Lieder sehr pessimistisch urteilen. Sicher ist, daß Richard Wagner sich im Grabe umdrehen würde, wenn er wüßte, wieviele Musiker und Musikfreunde, ja, wie viele seiner begeistertsten Anhänger sich die Meistersinger stets mit geschlossenen Augen, und ohne auf die Worte zu achten, anhören.
Es gab eine Zeit, wo man nur der Vokalmusik Existenzberechtigung zuerkannte und alle reine Instrumentalmusik als eine »Entartung« verwarf; noch vor fünfzig Jahren erklärte Eduard Grell, das Emporkommen der Instrumentalmusik bedeute einen Verfall (!) der Tonkunst. In der Zukunft wird umgekehrt vielleicht die Instrumentalmusik eine Zeit lang als einzig berechtigte Musikgattung angesehen werden. Trotz Ben Akiba ist doch noch nicht alles dagewesen.