Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Umgang bereichert den Verstand, doch Einsamkeit ist die Schule des Genies.
Gibbon.
Ist der Künstler denn nicht immer unter Menschen ein Fremdling? Was er auch treibe, wohin er gehe, er fühlt sich überall als Verbannter. Ihm ist, als hätte er einen reineren Himmel, eine wärmere Sonne, bessere Wesen gekannt.
Liszt.
Als Grieg Christiania verlassen und die Komposition des Peer Gynt begonnen hatte, sah er trotz den bisherigen Erfolgen mit trüben Blicken in die Zukunft. Die großen Städte des Nordens, vor allem die Hauptstadt selbst, waren ihm zuwider geworden. In einem Brief an einen Freund spricht er sich verbittert über das »Cliquenwesen« aus, über den »Geist von Vorurteilen, Halbheit, Schlappheit, Egoismus, von Haß, Neid, ja Vertiertheit und niedrigem Sklavensinn«, der jedes redliche Streben und nützliche Wirken so unendlich erschwere. Aber das wars nicht allein: Er fühlte, daß seine Kräfte immer mehr abnahmen; Husten und Atemnot quälten ihn oft, besonders des Nachts; seine Nerven waren überreizt; große körperliche Anstrengungen hielt er nicht mehr aus; fast täglich mußte er einige Stunden still liegen, um überhaupt arbeiten zu können –, und dabei stand er im »blühenden Mannesalter«. Endlich bedrückten ihn auch finanzielle Sorgen; was er einnahm, wurde immer restlos verbraucht, Ersparnisse hatte er bisher nicht machen können. Wovon sollte er mit seiner Frau leben, wenn er für längere Zeit arbeitsunfähig würde?
Da war es denn ein großes Glück, daß das norwegische Storthing (der Reichstag) ihm und seinem Freunde Svendsen 1874 ein jährliches Komponistengehalt von sechzehnhundert Kronen aussetzte. Wir sind jetzt an so vielstellige Zahlen gewöhnt, daß uns dieser Betrag lächerlich gering erscheint. Aber man konnte in Norwegen damals mit hundertfünfzig Kronen pro Monat (hundertsiebzig bis hundertachtzig Goldmark) sehr gut auskommen. Grieg hatte also wirkliche Not nicht mehr zu fürchten. Lediglich des Erwerbs halber brauchte er nun nicht länger zu arbeiten, vielmehr konnte er sich in Zukunft mit einer gewissen Sorglosigkeit seinem Schaffen widmen. So zog er sich denn in die Einsamkeit zurück. Doch nicht in eine Einöde; denn zu mönchisch-asketischem Dasein spürte er keine Neigung. Er wählte sich einen der schönsten Winkel am Hardangerfjord zum Aufenthalt: das kleine Lofthus, und verbrachte hier während einer Reihe von Jahren die Sommerzeit. Im Winter zog er in der Regel nach Bergen, oder er unternahm Reisen ins Ausland.
Hier in Lofthus besuchte ihn einmal sein alter Freund Ole Bull, dessen Gattin die folgende hübsche Schilderung des Ortes entworfen hat: »Er hätte unmöglich einen entzückenderen Platz finden können, so wunderbar verschmilzt sich hier Schönheit und Erhabenheit der Natur. Das nur einen einzigen Raum enthaltende kleine Häuschen, das der Tondichter sich hatte bauen lassen, um in völliger Einsamkeit arbeiten zu können, befand sich auf halber Höhe des Felsens, nicht weit vom Fjord. In dem darüber liegenden Felde umgaben blühende Apfelbäume ein altes Bauernhaus, in dem sich die Gäste versammelten.« (Grieg feierte gerade seinen Geburtstag.) »Ein herrlicher Wasserfall stürzte von den nahen überhängenden Felswänden herab, während das gegenüberliegende gebirgige Ufer des breiten Fjords, oben mit dichten Fichtenwäldern bedeckt, unten mit fedrigen Birken übersät, Kette hinter Kette erhabener Gipfel und Zinnen erblicken ließ, gekrönt durch den großartigen Folgefond mit seinem ewigen Schnee. Ein unübertrefflich schöner Tag, so vollkommen schön, wie nur Freundschaft, Musik und die herrliche Umgebung ihn zu schaffen vermochten.« Einmal versuchte Grieg auch die Winterzeit in Lofthus zuzubringen. Er wohnte wie immer in einem Bauernhaus und benutzte sein Hüttchen, in dem sich ein prachtvoller Erard-Flügel befand, nur zum Arbeiten. Als dann die Winterstürme begannen, schleppten ihm die Bauern mit Bohlen und Seilen sein Häuschen den Abhang hinunter bis nahe ans Wasser, wo es wärmer und weniger windig war. Jeden Morgen wanderte Grieg nun nach seinem Musikhäuschen, das bald als einziger dunkler Punkt aus der verschneiten Landschaft herausragte. Abends spielte er mit den Bauern Karten. Im nächsten Sommer sollte das Häuschen wieder bergauf geschleppt werden, denn unten am Fjord wurde es dem Tondichter nunmehr ungemütlich: Neugierige Touristen beobachteten ihn vom Wasser aus und suchten ihn beim Klavierspielen zu belauschen. Da fanden sich dann etliche fünfzig kräftige Burschen ein, die das schwierige Werk bald glücklich vollbracht hatten. In kurzer Zeit stand (wie William Peters in Century Magazine 1907 erzählt) auch der Flügel an seiner Stelle, Tür und Fenster wurden geöffnet, und Grieg spielte einen Tanz, zu dem sich draußen im Freien die Paare drehten. Nach einer Weile wurde die Musik langsamer, und schwermütige Klänge mischten sich in den allgemeinen Frohsinn. Die Bauern hielten im Tanzen inne, setzten sich oder standen im Kreise herum, und ein jeder träumte den Traum seiner Sehnsucht. Als die Musik drinnen beendet war, stützten die einen nachdenklich den Kopf auf die Hände, während die andern, stumm aneinandergelehnt, mit leuchtenden Augen über das Wasser zu den blauen Bergen aufschauten. (Hans Dahl hätte dieses Bild malen können.) Etwa fünf Jahre dauerte das Idyll, dann aber fand Grieg, daß er wohl genug unter Bauern, Tieren und Steinen musiziert habe. »Ich suchte Ruhe, Klarheit und Selbstvertiefung«, schreibt er an Schjelderup, »und fand dies alles im herrlichen Hardanger. Aber endlich kam es mir vor, als ob die Berge mir nichts mehr zu erzählen hätten. Ich wurde dumm, wenn ich sie anschaute, und fand, daß es höchste Zeit war zu verschwinden.«
In Bergen schrieb er die bekannte Ballade op. 24 und eine Reihe von Liedern, in Lofthus das Streichquartett op. 27, die Männerchöre op. 30 und den Gesang »Der Einsame« (für Baritonsolo, Streichorchester und zwei Hörner). Auch einige spätere Werke sind hier begonnen worden, so z. B. die Dritte Violinsonate op. 45 und die Vinje-Lieder.
1876 besuchte Grieg die Bayreuther Festspiele. Hans Richter verweigerte ihm die Erlaubnis, den Proben im Zuschauerraum beizuwohnen, er kam aber doch einige Male. Zur letzten Probe des Ringes wurde er mit anderen unter der Bedingung zugelassen, daß keinerlei Lärm oder sonstige Störung verursacht würde. Als dann der König von Bayern erschien, erhoben sich alle, um ihn zu sehen, wobei natürlich etliches Geräusch entstand. Wagner war darüber so erbost, daß er die Störenfriede mit den heftigsten Worten auszankte. Die während der Festspieltage gewonnenen Eindrücke faßte Grieg in einer Reihe von Artikeln für die Zeitung »Bergensposten« zusammen; es war seine erste literarische Arbeit.
1879 gab er eine Reihe von Konzerten in Christiania und Kopenhagen, und ein Jahr später übernahm er in seiner Vaterstadt die Leitung der Musikgesellschaft » Harmonie«. Chor und Orchester waren so miserabel, daß Grieg sich genötigt sah, mit den Mitgliedern, vor allem mit den Bläsern, die Stimmen einzeln zu studieren. Er ging dabei so weit in seiner Selbstverleugnung, daß er die Leute in ihrer Wohnung aufsuchte und sich dann stundenlang mit ihnen abquälte. Ein paar leidlich gute Aufführungen sollen auf diese Weise zustandegekommen sein; Grieg selbst erwähnt Schuberts C-dur-Symphonie und ein Oratorium von Händel. Nach zwei Jahren hielt ers aber nicht mehr aus. Wie in Christiania, so verleidete ihm auch hier das Gebaren eines Teiles der Mitwirkenden wie des Publikums seine Tätigkeit, die er gewiß mit größter Uneigennützigkeit und seltener künstlerischer Begeisterung begonnen hatte. »Ich watete förmlich in Dummheiten, anonymen Schweinereien und was alles dazu gehört«, schreibt er voller Empörung.
In der Nähe von Bergen baute er sich dann 1885 sein Wahnfried: die Villa Troldhaugen. (Zu deutsch: Trollhügel. Ein Trold oder Troll ist ein Kobold, ein halb tierisches, halb menschliches Wesen. Der Name wird aber auch auf Bettler und Landstreicher angewandt. Daher: sich trollen = sich aus dem Staube machen.)
Von Kompositionen sind aus der letzten Bergener Zeit zu erwähnen: die Cellosonate op. 36 und die Holberg-Suite op. 40, die 1884 zur Einweihung eines Denkmals für den bei uns leider unbekannten Lustspieldichter geschrieben wurde.
Ein paar Jahre vorher war Griegs ältester Freund, Ole Bull, gestorben. An seinem Grabe sprachen Björnson und Grieg (der bei der Totenfeier die Orgel gespielt hatte) einige schlichte, phrasenlose Worte. Auf dem Heimweg tauschten sie Erinnerungen an den verlorenen Freund aus. »Ein großer Kämpfer war er«, sagte Björnson. Und Grieg entgegnete leise: »Jetzt hat ers gut; sie habens ihm nicht leicht gemacht.« Da schaute ihn der große Dichter grimmig von der Seite an und packte ihn rauh an den Schultern: »Zwing' sie! Du! Und versteck' dich nicht vor ihnen!« Dann nach einer Weile: »Suchen werden sie dich nicht.« Grieg lächelte still in sich hinein und sagte nur: »Doch, Alter!«
Der Mensch kann immer sehr viel für sein inneres Glück tun, und was er äußeren Verhältnissen sonst abbetteln müßte, sich selbst geben. Es kommt nur auf die Kraft des Entschlusses und einige Gewöhnung zur Selbstüberwindung an.
W. v. Humboldt.
Es gibt für jeden eine Stunde, wo er die Scherben seines Lebens sammelt, um sich daraus ein neues zusammenzuleimen.
H. Sudermann.
Am Nordaas-See, der mit seinen sanft ansteigenden Ufern und einigen verstreuten Inseln in der Mitte an den Lago Maggiore zwischen Pallanza und Stresa erinnert, hat Grieg hoch über dem Wasser, inmitten ausgedehnter Waldungen, seine kleine, freundliche Villa erbaut. Vor dem Eingang eine hohe, später verbreiterte Veranda, an beiden Seiten buntes Gerank. Zu ebener Erde ein geräumiges Geschoß mit riesigen Fenstern, unter dem Spitzdach noch ein paar Räume, darüber hinausragend ein kurzer, dicker Aussichtsturm. Der größte und schönste Raum des Hauses ist natürlich das Musikzimmer: Vor dem Flügel eine breite Bank, in einer Ecke ein einfacher eiserner Ofen, rings verstreut ein paar bequeme Sessel, zwischen den Fenstern Griegs Büste (sich selbst im eigenen Heim auszustellen, sollte verpönt sein), an den Wänden ein paar Bilder, die Noten zum Teil neben dem Instrument auf dem Fußboden, sonst kaum etwas Bemerkenswertes. Alles in allem: eine kleinbürgerliche Wohnung, ganz behaglich, doch nicht übertrieben geschmackvoll. Unten, dicht am See, von der Villa ziemlich weit entfernt, noch ein kleines Hüttchen, anscheinend eine Badekabine, in Wirklichkeit aber der Arbeitsraum des Komponisten. (Der beim Schaffen weder gestört noch gehört werden wollte.)
Hier hat Grieg bis zu seinem Lebensende gewohnt. Wenngleich er fast in jedem Jahre ausgedehnte Konzertreisen unternahm, so kehrte er doch immer wieder nach seinem einsam gelegenen Troldhaugen zurück. Eine Schwester seiner Frau half bei den häuslichen Arbeiten und verwaltete das Haus, wenn das Ehepaar auf Reisen war. Grieg nannte sie scherzweise seine zweite Frau, war ihr aufrichtig zugetan und hat ihre Anwesenheit wohl nie störend empfunden. Gab es keine Besuche, so verging ein Tag wie der andere, eine Woche wie die andere, fast zu still und eintönig für die beiden Frauen. Doch Grieg fühlte sich wohl dabei; nur wenn es wochenlang regnete und die wärmende Sonne gar nicht kommen wollte, ward auch er mißmutig und lag halbe Tage lang in seinem Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen. Bedenkt man, daß er mehr als zwanzig lange Jahre hier gelebt hat, ohne materielle Sorgen, treu gepflegt von vier Frauenhänden, ungestört in seiner Abgeschlossenheit, so versteht man kaum, daß die künstlerische Ausbeute dieser Zeit so gering gewesen ist: Lieder und Klavierstücke, lauter kleine, kurze Sachen; kein einziges großes Werk. Es ist schwer zu glauben, daß nur die physischen Leiden des Meisters die Ursache dieser geringen Produktivität waren. Fehlte es nicht auch an Inspiration? Was Grieg zu sagen hatte, war gewiß schön und tief; aber es war nicht eben viel. Wohl kamen ihm glückliche Gedanken, herrliche Ideen, aber sie waren seltene Gäste. Eine faustische »Fülle der Gesichte« hat ihn nie bedrängt.
Wir dürfen nicht vergessen, daß es beim Schaffen nicht nur auf die besondere Eignung für eine Kunst ankommt, sondern ebensosehr auf die allgemein-menschliche Größe des Künstlers. Grieg war nun zwar ein liebenswerter Mensch und ein feinsinniger Musiker, aber durchaus kein überragender Geist. In seinen Briefen wird man vergebens nach neuen oder großen Gedanken suchen; selten handelt es sich in ihnen um tiefere Probleme, und wo er sie berührt, da hat er doch nur recht wenig zu sagen. Wenn er dann gar seine kleinen, bescheidenen Späßchen macht, so glaubt man einen braven, harmlosen Kleinstädter vor sich zu sehen, dem bei längerer Unterhaltung der Gesprächsstoff ziemlich schnell ausgeht, ohne daß deshalb das munter plätschernde Geschwätz ein Ende fände.
Man vergleiche z. B., was er 1905 seinem Verleger über das Nachlassen seiner Schaffenskraft schreibt: »Wenn der Pegasus nicht laufen will, ist er ärger als ein römischer asinus: Je mehr man ihn schlägt und haut, je hartnäckiger rührt er sich nicht vom Fleck. Und da ich vom Tierschutzverein Mitglied bin, war ich verpflichtet, das arme Tier einigermaßen zu schonen.« Schreibt so ein geistig bedeutender Mensch? Statt einer Erklärung, die irgendetwas Wesentliches aufhellt, die irgendwie in die Tiefe leuchtet, ein platter, fast kindischer Scherz in ziemlich ungeschickter Form. Gewiß ist ein Künstler durchaus nicht verpflichtet, immer und überall geistreich zu sein. Aber gerade im Alltagsleben zeigt er unbewußt seine Art. Und Schopenhauer hat ganz recht, wenn er sagt, ein großer Mann schneuze sich die Nase anders als ein Dummkopf. Hier handelt es sich nur darum: Wenn einer keine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, so wird er schwerlich außergewöhnliche Werke schaffen. Grieg selbst hat übrigens oft betont, man dürfe den Künstler und den Menschen nicht trennen. Vielleicht darf mans doch, darf z. B. den Künstler Wagner aufs tiefste bewundern und verehren, während man den Menschen Wagner keineswegs bewundernswert und verehrungswürdig findet. Nur: Daß ein unbedeutender Mensch ein überragender Künstler sein könne, ist schwer zu glauben. Irgendwie groß muß einer schon sein, wenn er Großes leisten will. Allerdings ist Größe kein Moralbegriff. Und darum wird ein großer Lump als Künstler immer noch Wertvolleres schaffen als ein kleiner, rechtschaffener Spießer; die Kunstgeschichte bietet höchst seltsame Beispiele hierfür.
Es spricht für Grieg, daß er die Grenzen seiner Begabung erkannt und sich ihrer nicht geschämt hat: »Künstler wie Bach und Beethoven haben auf den Höhen Kirchen und Tempel errichtet. Ich wollte, wie es Ibsen in einem seiner letzten Dramen ausdrückt, Wohnstätten für Menschen bauen, in denen sie sich heimisch und glücklich fühlen.« Das ist ein schönes und tiefes Wort; aber es drückt den Unterschied nicht zutreffend aus. Mindestens die Hälfte der Beethovenschen Symphonien ist Kirchen und Tempeln sehr viel weniger vergleichbar als Wohnstätten, in denen man sich glücklich und heimisch fühlt. Anderseits könnte man beim Anhören von »Aases Tod«, vom zweiten Satz des Griegschen Klavierkonzerts und von manchen anderen Kompositionen des Meisters wohl das Empfinden haben, in eine Kirche oder in einen Tempel einzutreten. Ein anderes Bild trifft den Unterschied vielleicht besser: Griegs Musik trägt uns wie die stillen Wasser eines kleinen, klaren Sees; wir sehen ihm fast bis auf den Grund und können seine Grenzen leicht überschauen. Beethovens und Bachs Musik trägt uns wie die Wogen eines Meeres; seine Tiefe ahnen wir nur, und seine Grenzen sehen wir nicht; sie scheinen fern am Horizont zu liegen, da, wo der Himmel sich mit den Wassern berührt.
Eine Fahrt auf dem See der Griegschen Musik kann zweifellos ebenso schön sein wie eine Fahrt auf dem Meer der Musik Bachs oder Beethovens, für viele wird sie sogar weit mehr Reize haben. Soll man darüber streiten? Natürlich ist ein See kleiner als ein Meer, natürlich ist Grieg kleiner als Beethoven, aber was für einen Wert haben solche (überflüssigen) Konstatierungen? Wenn deshalb ein Beethovenschwärmer auf einen Griegschwärmer mitleidig lächelnd herabsehen sollte, so könnte dieser ruhig sagen, daß ihm der Comer See lieber sei als der Atlantische Ozean, und daß jeder seine Hütte da bauen möge, wo es ihm am besten gefalle.
Die üble Manier, den einen Tondichter gegen den andern auszuspielen, ist unter den Fachleuten leider nicht minder verbreitet wie unter den Laien. So schreibt z. B. ein bekannter Grieg-Biograph, er gebe alle Lieder Hugo Wolfs für ein einziges Lied von Grieg; einem andern Musikkritiker gelten Schönbergs Klavierstücke op. 19 mehr als die sämtlichen »Lyrischen Stücke« des norwegischen Meisters. Solange es keine Musikbörse gibt, an der die Kurse einer jeden Komposition festgestellt werden (der absolute Wert ist niemals mit Sicherheit festzustellen), wollen wir uns doch lieber eines jeden echten Kunstwerks freuen, ohne das eine um des andern willen herabzusetzen. Von einem Astronomen erwartet man, daß er die Größe, Stellung und Bahn der Gestirne angeben könne; aber poetisch-phantastische Schilderungen der Sternenwelt nach der Art des guten Jules Verne wird man in einem astronomischen Werke nicht suchen, und wohl noch nie hat ein Sternenkundiger geschrieben, er gäbe sämtliche Fixsterne für den Planeten Uranus oder sämtliche Sternschnuppen für einen Mondkrater.
Wenn nun hier von den Grenzen der Begabung Griegs zu sprechen war, soweit der Lebensgang des Meisters Anhaltspunkte für eine allgemeine Umgrenzung bietet, so konnte lediglich das eine Ziel erstrebt werden, die Stellung dieses nordischen Sternes unter den anderen Gestirnen am Kunsthimmel möglichst sicher zu bestimmen und seine Größe annähernd abzuschätzen. Die Wertung ergibt sich immer ganz von selbst aus der Eingliederung, und nur um diese kann es sich bei aller Kritik handeln, nicht um die Abgabe von subjektiven Geschmacksurteilen oder um die Ausübung eines Richteramtes aus eigener Machtvollkommenheit.