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Die Musik ist nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt; die Musik Palestrinas würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum – was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören?
Nietzsche.
Ich wüßte kein edleres Ziel, was sich einer vorstecken könnte, als das, dem Vaterlande und der eigenen Sprache Musik zu geben.
Mendelssohn.
So wenig Schillers Jungfrau von Orleans einem gebildeten Deutschen als ein antinationales Drama erscheinen wird, weil der Dichter hier eine französische Heldin verherrlicht hat, ebenso wenig kann man Wagners Meistersinger des Stoffgebiets halber, dem die Handlung entnommen ist, als ein spezifisch deutsches Werk bezeichnen. Denn das Stoffliche ist im Kunstwerk stets von untergeordneter Bedeutung. Wäre dem nicht so, dann müßte man z. B. Bizets Carmen, d'Alberts Tiefland und Hugo Wolfs Corregidor als »spanische« Opern gelten lassen, und hiergegen würde jeder urteilsfähige Spanier energisch protestieren. Wer je in Madrid, Sevilla oder Barcelona einer Carmen-Aufführung beigewohnt hat, wird immer wieder derselben Meinung begegnet sein: »muy bonito, pero muy francés« (»sehr hübsch, aber sehr französisch«), und dieses Urteil bezieht sich mindestens ebenso sehr auf die Handlung wie auf die Musik.
Wenn also Schillers Jungfrau von Orleans und Wagners Meistersinger dem Deutschen und mehr noch dem Ausländer tatsächlich spezifisch deutsch erscheinen, so beruht dies nur darauf, daß ihre Schöpfer eben Deutsche waren, deutsche Erziehung genossen hatten und mit ihrer ganzen Persönlichkeit fest im deutschen Boden wurzelten. Kein Wunder, daß infolgedessen deutscher Geist aus ihren Schöpfungen spricht.
Sieht man von tendenziösen Werken ab, die ja, streng genommen, außerhalb der Kunst stehen, so kann man von »nationaler« Kunst immer nur insofern sprechen, als jedes echte Kunstwerk bodenständig ist und nicht allein den Stempel der Persönlichkeit trägt, die es schuf, sondern ebensosehr den Charakter des Volkes und Landes (mit seiner ganzen Kultur), dem es entstammt. Ob der Inhalt eines Werkes »national« sei oder nicht, ist für die künstlerische Beurteilung nebensächlich; inwieweit seine Art, sein Geist nationale Besonderheiten wiederspiegelt, wird dafür um so sorgfältiger zu prüfen sein. Bemerkbar ist die nationale Eigenart mehr oder weniger in jedem Kunstwerk. Selbst der Weltbürger Goethe war immer und überall zunächst goethisch, dann deutsch. Und sein Weltbürgertum ist im Grunde nicht anders gewesen als das aller großen Künstler. Weil es sich nämlich in der Kunst letzten Endes immer nur um das Allgemein-Menschliche handelt, wird das Wesentliche eines jeden echten Kunstwerks in aller Welt ohne weiteres verstanden, kann es für Kunstschöpfungen keine Landesgrenzen und keine nationalen Beschränkungen geben. Darüber war sich Goethe klarer als etwa Wagner, und deshalb gilt er als Weltbürger, Wagner dagegen als Nationalist. (Was im Grunde garnichts besagt.)
Hieraus ergibt sich nun eine sehr einfache, trotzdem aber bis heute nicht genügend beachtete Tatsache: Wenngleich die Kunst sich »an Alle« wendet und kein Vaterland hat, der Künstler hat eins: Vergißt er dies, so werden seine Werke weder in der Heimat festen Fuß fassen noch eine Weltgeltung erlangen. Gewiß ist jede echte, tiefe Kunst von übernationaler Bedeutung; aber ein Künstler, der bewußt internationale Kunst zu schaffen sucht, entwurzelt sein Schaffen und wird deshalb weder Blumen noch Früchte auf den internationalen Markt bringen können, sondern nur trockenes, verdorrtes Holz.
Shakespeares Dramen haben für alle Welt die gleiche Bedeutung; immerhin hat sie Shakespeare als Engländer für Engländer geschrieben. Hätte er internationale Kunst schaffen wollen, so wäre keines seiner Meisterwerke entstanden, zum mindesten keins so geworden, wie es ist. Selbst wenn Shakespeare nicht der Verfasser der Shakespeareschen Dramen sein sollte, so könnte man es sich nicht einmal vorstellen, daß ein Nichtengländer, ein Internationalist, sie geschrieben habe.
Wenngleich also jede echte Kunst bodenständig ist, so hat sie doch andererseits das natürliche und notwendige Bestreben, vom Boden wegzukommen, sich frei zu entfalten. Ihre Wurzeln müssen irgendwo fest verankert ruhen, aber ihre Krone strebt zum Himmel empor, und der ist »international«. (So ungemütlich es auch manchem Franzosen und Engländer erscheinen mag, dereinst im Himmel mit Deutschen zusammenzutreffen.)
Alle nationalen Ideale sind direkt oder indirekt auf Sondervorteile für eine bestimmte Menschengruppe gerichtet und suchen dieser ohne Rücksicht auf die anderen Menschengruppen zu dienen. Die künstlerischen Ideale dagegen gehen aus den seelischen Bedürfnissen der gesamten Menschheit hervor und dienen den gemeinsamen Interessen aller ohne jeden Unterschied. Folglich muß das Schaffen des echten Künstlers doch eine internationale, oder wenigstens übernationale Richtung aufweisen? Eine internationale Richtung gewiß nicht, wohl aber eine übernationale Bedeutung, und die erhält es ganz von selbst, ohne Zutun des Künstlers, wenn die allgemein-menschlichen Werte in den Vordergrund treten.
Ein gutes Beispiel hierfür bildet Edvard Grieg. Seine Musik hat eine bewußt nationale Richtung. Norwegische Musik wollte er machen, norwegische Natur besingen, norwegische Dichtungen durch seine Vertonung verschönen, norwegische Sagen und Heldengestalten verherrlichen, Norwegens Ruhm in aller Welt verkünden. Gewiß. Aber wie kam es denn, daß man nicht in aller Welt die Achseln zuckte über dieses seltsame Beginnen? Warum sagte man sich nicht einfach: Mag er doch; was geht das alles uns Nichtnorweger an? Die Antwort ist sehr leicht zu geben: Weil in einem großen Künstler das Persönliche wie das Nationale unbewußt stets zum Allgemeingültigen wird. Auch der größte Künstler kann immer nur seine Freuden, seine Leiden, seine besonderen Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen zum Ausdruck bringen; aber sie finden in ihm, wenn er zu den Berufenen gehört, ganz von selbst einen so überpersönlichen Ausdruck, daß die anderen ihre Freuden, ihre Leiden, ihre besonderen Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen in den seinen wiederfinden. Spielt ein Deutscher Griegs »Waldesstille«, so denkt er an seinen deutschen Wald, singt eine Spanierin Griegs Liebeslieder, so denkt sie an ihre Liebe, spielt ein Engländer Griegs »Vaterländisches Lied«, so wird sein Nationalstolz wach, und selbst die tanzfrohe Jugend aller Länder denkt beim »Springtanz« oder »Halling'« an ihre Tänze, die entweder »so ähnlich« oder »so ganz anders« sind, die aber die gleichen Empfindungen in ihnen auslösen. Da ist es nun freilich schade, daß so mancher Schriftsteller im Schweiße seines Angesichts eine Unzahl Reisebücher studiert hat, um seinen Lesern dann das schöne Norwegen zu schildern, das er nie mit eigenen Augen sah. Sein Zweck war: die Leser sollten Griegs Musik durch diese Schilderungen besser »verstehen« lernen. Und sie hatten doch alles schon vorher verstanden, so gut, wie sie es besser garnicht verstehen konnten. Wir wollen bescheidentlich ein ganz kleines Beispiel betrachten: Muß man einen norwegischen Bach beschreiben, damit man Griegs Klavierstück »Bächlein« verstehe? In der Musik sieht so ein norwegischer Bach nicht anders aus als ein französischer, spanischer oder russischer; weil man nicht einen bestimmten Bach musikalisch malen, sondern nur eine Art Rauschen in Tönen wiedergeben kann. Wie so ein Bächlein rauscht, das macht allerdings jeder Komponist anders, selbst wenn zehn Komponisten denselben Bach musikalisch malen würden. So hat denn Griegs Bächlein sehr viel mehr von Grieg als von Norwegen.
Handelt es sich nicht um Naturschilderungen, sondern um die Wiedergabe menschlicher Empfindungen und Leidenschaften, so spielt das spezifisch Norwegische, das Nationale, natürlich noch viel weniger eine irgendwie bedeutsame Rolle; vielmehr bildet hier der persönliche Ausdruck wie überall den Hauptreiz, und andererseits macht es erst die (unbewußte) Ausweitung des Persönlichen zum Überpersönlichen dem Hörer möglich, seine eigenen Empfindungen und Leidenschaften in verklärter Form herauszuhören und so sein Leben von allen Schlacken gereinigt nochmals innerlich zu erleben. Die Erhebung des Gemüts und die Veredlung des Empfindens, die der Hörer dabei erfährt, bildet die Verwirklichung des idealen Zweckes der künstlerischen Tätigkeit. Sie kann nicht bewußt erstrebt werden, weil die Erhöhung des Persönlichen zum Überpersönlichen jedesmal ein Hinauswachsen des Künstlers über sich selbst bedeutet. Wie man das im einzelnen benennen mag, künstlerische Inspiration, göttliche Eingebung, schöpferischer Instinkt oder dergl., ist gleichgültig. Die Hauptsache bleibt, ob wir uns in einem Kunstwerk wiederfinden, ob wir in ihm unsere seelischen Erschütterungen nochmals durchleben, und ob es uns dann zugleich von ihnen zu erlösen vermag. Wo sich dies ereignet, da ist höchste, edelste Kunst; mag es sich um ein kurzes Klavierstück oder um eine abendfüllende Symphonie handeln.
Die musikalische Kunst lediglich nach der Form zu bewerten oder gar mit der Elle zu messen, ist töricht, ja unwürdig. Eine derartige Kunstbetrachtung, wie sie leider oft von kenntnisreichen und schreibgewandten, aber im Grunde unkünstlerischen Gehirnmenschen angestellt wird, hat Grieg zu einem Komponisten zweiten Ranges zu stempeln versucht. Und immer wieder wird als Begründung die stereotype Wendung wiederholt, Grieg habe nur die kleinen Formen beherrscht. Wobei man vergißt, daß manche kleinen Geister mit den großen Formen überraschend gut fertig werden. Auch die kleinste musikalische Form kann die allergrößten und -tiefsten musikalischen Gedanken und Empfindungen umschließen. Andererseits braucht man nur an Beethovens achte Symphonie zu denken, um zu erkennen, daß zuweilen selbst in großen Formen ein recht bescheidenes Maß von (keineswegs tiefsinnigen) musikalischen Gedanken enthalten ist.
Wir wollen hier zunächst gar kein Urteil über Griegs Musik fällen, kein günstiges und kein ungünstiges. Doch müssen gewisse Vorurteile beseitigt und gewisse allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden, bevor eine gerechte Beurteilung seines Schaffens überhaupt möglich ist. Grieg war Lyriker, nicht Epiker und nicht Dramatiker; er hat also (mit einigen bedeutsamen Ausnahmen) musikalische Gedichte gemacht, aber keine musikalischen Epen, Dramen oder Romane verfaßt. Auch die Verfechter einer rein formalen Ästhetik (unter den Künstlern sind sie selten, unter den Kunstschriftstellern dafür um so zahlreicher) werden zugeben müssen, daß man von einem Gedicht nicht die Länge eines Epos oder eines Dramas erwarten kann, und daß kein Dichter bloß deshalb minderwertig ist, weil er mit wenigen Ausnahmen nichts anderes als Gedichte geschrieben hat.
Wir müssen schon an dem Vergleich mit der Dichtkunst festhalten, wenn wir den zweiten, gewichtigeren, Vorwurf verstehen wollen, den man vielfach gegen die Griegsche Musik erhebt: sie sei »dialektisch«. Das heißt: Grieg habe norwegisch komponiert, sich also nicht der musikalischen Weltsprache bedient; und da das Norwegische im Reich der allumfassenden Musik nur als eine Art »Dialekt« bezeichnet werden könne, so sei Grieg wie Klaus Groth oder Fritz Reuter ein Dialekt-Dichter, ein Künstler zweiten Ranges. Da ist nun zunächst zu bemerken, daß es gar keine musikalische Weltsprache gibt, und daß eine solche, wenn sie je erfunden würde, keinen höheren künstlerischen Wert haben könnte als Volapük oder Esperanto. (Bekanntlich hat sich bisher kein einziger großer Dichter einer dieser beiden künstlichen Weltsprachen bedient.) Wir Deutschen sind in der Musik etwas anmaßend und betrachten unsere musikalische Sprache mit derselben Selbstverständlichkeit als musikalische Weltsprache, mit der der Engländer sein Englisch als internationales Verständigungsmittel ansieht. Wir finden es überaus komisch, wenn sich ein Engländer im fremden Lande darüber wundert, daß nicht alle Leute englisch sprechen; aber ist es nicht ebenso komisch, wenn wir immer wieder in unseren Musikbüchern den Italienern und Franzosen erklären, daß ihre musikalische Sprache anders als die unsere sei und ihre musikalischen Werke somit keinen so großen Wert wie die unsrigen beanspruchen könnten? Bisher vergaß man dabei, daß Gluck ohne Frankreich, Händel und Mozart ohne Italien, Bach ohne Italien und Frankreich gar nicht denkbar wären, daß unsere musikalische Sprache sich also aus anderen musikalischen Sprachen entwickelt und erst sehr spät zu etwas völlig Eigenem ausgestaltet hat. Über diese merkwürdige Tatsache haben sich dann seit der glorreichen deutschen Revolution manche anpassungsfähigen Leute den Kopf zerbrochen und sind schließlich zu dem Resultat gekommen: unsere Klassiker hätten eine musikalische Weltsprache gesprochen, die ihnen nachfolgenden Romantiker aber leider eine nationale Sprache (was eine der Ursachen des Weltkrieges gewesen sei), und in Zukunft müßten wir auf alle Fälle wieder zu einer internationalen musikalischen Sprache zurückkehren. Wir würden dann nicht mehr unangenehm auffallen und könnten auf diese Weise gute Geschäfte machen. (Dificile est, satiram non scribere.) Damit fiele der arme Grieg natürlich ganz unter den Tisch; denn wenn wir Deutschen in der Musik nicht deutsch reden dürfen, wie könnte sich dann ein Norweger ungestraft erlauben, norwegische Musik zu machen? Nun, er hat es doch getan und ist damit einer der bekanntesten, ja beliebtesten Komponisten in aller Welt geworden. Neben ihm sind z. B. Schumann und Wagner überall heimisch, trotz ihrer urdeutschen musikalischen Sprache.
Schön. Aber wie steht es mit Beethoven? Seine musikalische Ausdrucksweise ist doch gleich der aller Klassiker international? Wäre dies richtig, so wäre es sehr seltsam, daß eine Beethovensche Symphonie in Spanien, Italien, England oder Frankreich so ganz anders klingt als in Deutschland. Es gibt auch in diesen Ländern vortreffliche Orchester und vortreffliche Dirigenten, die sich redlich um Beethovens Stil mühen. Aber sie können halt nicht anders: der Italiener übersetzt Beethoven ins Italienische, der Spanier ins Spanische, der Franzose ins Französische und der Engländer ins Unmögliche. Folglich muß auch Beethoven in seiner Musik wohl deutsch gesprochen haben. –
Jeder große Künstler spricht zunächst die Sprache des Landes, in dem er aufwuchs, sodann seine eigene Sprache, und außerdem noch eine, die alle Welt versteht. Wie er diese drei verschiedenen Sprachen zu einer einzigen, einheitlichen verschmilzt, das ist sein Geheimnis. Gelingt einem Künstler diese Verschmelzung nicht, fehlt seinen Werken der persönliche Ausdruck, oder das Bodenständige, oder die allgemein-menschliche Bedeutung, dann freilich ist seine Kunst etwas Unfertiges, Halbes, Kleines, Künstliches, und wird bald wieder verschwinden.
Grieg hat einige Werke geschrieben, in denen das Nationale auf Kosten des Persönlichen und Allgemein-Menschlichen in den Vordergrund tritt; andere, die wenig Persönlichkeitswert haben, unreif oder unselbständig sind; andere, in denen er von sich und seinem Lande spricht, ohne denen etwas zu sagen, die für ihn und sein Land kein tieferes Interesse haben (dazu ist ja niemand verpflichtet). Alle diese Werke werden untergehen. Früher oder später. Einige davon waren von Anbeginn her lebensschwach, andere sind bereits mit Recht vergessen. Bleiben aber wird von seiner Musik alles, was »griegisch«, norwegisch und allgemein-menschlich zugleich ist. Nicht allzu viel … Aber doch übergenug für einen vollen, bunten Strauß; für einen vollen Strauß herrlicher, farbenprächtiger Blumen. Wenn er mit dem an der Himmelspforte Einlaß begehrt, so werden die Englein vergnügt herbeieilen, um ihm seinen großen grauen Regenschirm, sein Mäntelchen und seine unförmigen Gummischuhe abzunehmen. Und Hand in Hand mit ihnen wird er dann in lustigem Reigen, strahlenden Auges, seinen Einzug halten, jubelnd begrüßt von Schumann, Chopin, Tschaikowsky und all den andern nationalen Romantikern, die da droben mit den großen Klassikern auf Du und Du stehen und gar nicht zu berücksichtigen scheinen, daß sie als »zweitklassige« Komponisten doch eigentlich nur eine zweitklassige Seligkeit beanspruchen dürften. Währenddem harren draußen die Unzulänglichen, die atonalen Internationalisten, mit ihren Makart-Bouquets aus bunten Papierblumen erstaunt und indigniert der Dinge, die da kommen sollen.
Daß in einer guten Melodie etwas seyn müsse, ein ich weiß nicht was, welches, so zu reden, die gantze Welt kennet: so ist hiemit gar nicht gesagt, daß man nur fein viel abgenutzte Dinge und alte verbrauchte Förmelgen anbringen dürffe; durchaus nicht. Sondern wir meinen vielmehr dieses, daß man nicht gar zu weit mit seinen neu gebackenen Erfindungen fahre, kein Sonderling werde, und darüber seine Melodie nicht nur fremd, sondern auch schwer und verdrüßlich mache.
J. Mattheson.
Wie nun aber, über dem arbeiten, meine Sachen überhaupt eben die Gestalt und Manier annehmen, daß sie Mozartisch sind, und nicht in der Manier eines anderen, das wird halt eben so zugehen, wie daß meine Nase eben so groß und herausgebogen, daß sie Mozartisch und nicht wie bei anderen Leuten geworden ist.
W. A. Mozart.
Wir haben gesehen, welch hohen Wert für alles künstlerische Verständnis das Sichwiederfinden im Kunstwerk hat, und können jeden Tag beobachten, wie groß seine praktische Bedeutung ist. Der geradezu fabelhafte Erfolg der modernen Operette und die verhältnismäßig sehr geringe Wirkung ernster Kunst beruhen eben darauf, daß sich die Masse am ehesten in der Sentimentalität und dem seichten Frohsinn anspruchsloser Singspiele wiederfindet, und daß nur wenige Menschen so tiefer Freuden und Leiden fähig sind, um eine Musik zu verstehen, die den Untergrund alles Seins und Werdens mit seiner unendlichen Tragik und seinen verborgenen Seligkeiten aufzuhellen sucht. Es ist also sehr unnötig, sich immer wieder über den schlechten Geschmack der Menge zu entrüsten: Er kann ja garnicht anders sein, als er ist. Darum erscheint auch alle künstlerische Erziehung des Volkes (der Masse, nicht des Einzelnen) als eine sehr problematische Sache. Im besten Falle wird man das Volk langsam an eine Kunst gewöhnen, die über seine geistigen und seelischen Bedürfnisse und Fähigkeiten hinausgeht. Und damit ist garnichts gewonnen. Denn insgeheim, »wenns keiner merkt«, kommt dann doch immer – in der Kunst wie in der Liebe – die wahre Natur eines jeden zum Vorschein, und dabei zeigt sichs ganz unzweideutig, daß den allermeisten im Grunde ihres Herzens eine fesche Operettenmusik doch zehnmal lieber ist als die schönste und erhabenste Symphonie. Trotz aller wohlgemeinten »Erziehung zur Kunst«.
Dieser Erziehung dienen vor allem die zahlreichen Erläuterungen von Kunstwerken in Programmheften, »Führern«, Biographien und sonstigen Büchern über Musik. Wir wollen uns hier mit aller Ehrlichkeit darüber klar werden, was solche Erläuterungen bieten können, und was nicht. (Unbeirrt durch das Geschrei der Phraseologen.)
Jeder Leser möge sich seinen Schatz an Erklärungsschriften durchsehen und zunächst einmal all das ausschalten, was sich als phantastische Willkür und leere Phrase erweist. In den meisten Fällen wird dann kaum mehr als ein technischer Kommentar übrig bleiben. Man liest da von Themen und ihrer Verarbeitung, von Modulationen, Durchführungen, Reprisen u. dergl. und erhält dadurch zuweilen ein gutes Bild von dem Aufbau eines Tonwerks. Immerhin ist zu bemerken, daß der Musiker solche Erklärungen nicht braucht und der Laie sie in der Regel nur halb, manchmal auch gar nicht versteht. Außerdem erfordern sie musikalische Zitate, und deren Einfügung in den Text verteuert gegenwärtig die Herstellungskosten einer Druckschrift derart, daß man zumeist auf sie verzichten muß. So ist an Stelle der technischen Erläuterungen allmählich eine poetisierende Ausdeutung getreten. Sie hat den Vorzug allgemeiner Verständlichkeit, hilft aber in der Regel wenig zum Verständnis des Kunstwerks. Auch der Laie wird ihren Wert richtig einschätzen, wenn er ein halbes Dutzend solcher Ausdeutungen nebeneinander hält. Denn er sieht dann sofort, daß jeder Verfasser seine eigene poetische Idee hat, die er dem Werke unterlegt, und für die er den wehrlosen Komponisten verantwortlich macht. Es kann halt ein jeder nur sich selbst im Kunstwerk wiederfinden, und die Verwechslung seiner Eindrücke mit dem Ausdruckswillen des Komponisten ist daher ganz natürlich. Man wird also die Aufrichtigkeit der Verfasser selten in Frage stellen können; nur dürften subjektive Erkenntnisse niemals als objektive Tatsachen hingestellt werden.
Technische Erläuterungen sind notwendig, wenn man überhaupt etwas Wesentliches über ein musikalisches Kunstwerk sagen will. Möglich aber sind sie nur dann, wenn ein gewisses Maß von Kenntnissen und ein Vertrautsein mit den Fachausdrücken beim Leser vorausgesetzt werden kann. Auch das Streben nach leichtester Verständlichkeit hat überall Grenzen, die innegehalten werden müssen, wenn die Erläuterung Wert haben und nicht zu leerem Geschwätz herabsinken soll. Alle technischen Erläuterungen sind nun freilich einseitig und müssen deshalb durch eine Erklärung des Kunstwerks »von innen heraus« ergänzt werden. Hierzu bedarf es der sorgsamsten Einfühlung, aus der dann eine gefühlsmäßige Ausdeutung erwächst. Auch dieser wird, wie der poetisierenden Erklärung, stets etwas Subjektives anhaften. Aber sie hat doch eine größere Wahrscheinlichkeit, dem Geiste des Kunstwerks gerecht zu werden, als jenes mehr oder minder willkürliche Hineinphantasieren von allerhand poetischen Ideen, – über das sich Brahms einmal lustig machte, als er bei der Lektüre eines Programmheftes ausrief: »Herrgott, was ich da wieder für eine geistreiche Musik geschrieben habe.« Bei alledem wollen wir nicht vergessen, daß die Wiedergabe von Gedanken und Ideen in der Tonsprache mindestens ebenso unvollkommen ist wie die Wiedergabe von Empfindungen in der Wortsprache. Hierauf beruht ja die Möglichkeit und der künstlerische Wert einer wechselseitigen Ergänzung beider Künste im Lied, Melodrama, Chorwerk und in der Oper. Wenn wir uns daher bei einer nicht auf den ersten Blick verständlichen Dichtung fragen, was sich der Dichter dabei gedacht habe, so muß die Frage bei einem nicht ohne weiteres verständlichen Tonwerk ganz anders lauten, nämlich: Was hat der Komponist dabei empfunden? Der Laie glaubt so oft, er verstünde nichts von Musik, weil er hinter den Tönen einen geheimen Sinn vermutet, den nur der Fachmann zu enträtseln vermöge, während er selbst zwar tausendfältige Gefühlseindrücke habe, aber doch nicht sagen könne, was in so einem Musikstück eigentlich »drinstehe«. Diese Unsicherheit und Unklarheit bringt oft gerade den, der Musik sehr stark empfindet, zur Verzweiflung. Ihm zum Troste sei verraten, was alle Auguren wissen, aber (um ihren Nimbus zu wahren) gern verschweigen: Musik hat gar keinen geheimen Sinn, den man ohne Fachstudium nicht versteht. Jeder, der überhaupt etwas beim Anhören von Musik empfindet, versteht auch etwas davon. Ein vollkommenes Verstehen ist allerdings sehr schwer, weil es eine restlose Einfühlung, eine vollkommene gefühlsmäßige Hingabe an das Kunstwerk voraussetzt. Wo diese stattfindet, wo bei jedem Ton die Seele des Hörers mitschwingt, da wird das Tonwerk erlebt und restlos verstanden, auch wenn der Hörer »nichts weiß von der Tabulatur«.
Hierdurch erklärt sich zugleich, warum so viele ältere Kritiker bei der Beurteilung von neuerer Musik danebengehauen und selbst ein Genie wie Wagner Jahrzehnte lang »verrissen« haben: sie »verstanden« nichts mehr, weil ihr Empfinden allmählich stumpf geworden war. Mit dem Intellekt allein kann man einem Tonwerk nun mal nicht beikommen. Das Publikum, das sein Empfinden sprechen läßt, irrt zweifellos bei der Beurteilung von produktiven Leistungen weit seltener als die Fachkritik. Es hat in der Regel den richtigen »Instinkt«.
So gewiß jeder Mensch ein natürliches Rechtsempfinden in sich trägt und kein Jurist zu sein braucht, um Recht von Unrecht zu unterscheiden, so gewiß hat jeder Mensch auch ein natürliches Empfinden für die Schönheit in Natur und Kunst. Er bedarf also im Grunde keiner fachmännischen Aufklärung darüber, was er als schön zu empfinden habe und was nicht. Aber in der Kunst wie in der Natur liegen nicht alle Schönheiten an der Straße; zu den meisten muß man sich erst hinfinden, und da dies rein zufällig nur selten geschehen wird, ist die Begleitung eines andern nützlich, der – wie man sagt – »schon mal da war«. Natürlich kann es sich nicht um Schönheiten handeln, die Baedeker-Naturen mit einem oder zwei Sternchen auszeichnen würden, denn keine von denen liegt ja weitab von der Straße. Auch bei Grieg gibt es sehr viele Schönheiten, die schnell und leicht auf bequemen Wegen zu erreichen sind, und eben deshalb hat ja seine Musik nicht nur bei den Musikkennern einen so großen Erfolg gehabt.
Wir wollen also nur beiläufig darauf hinweisen, wie melodisch und prägnant alle seine Themen sind, wie sehr deren Wirkung durch eine farbenprächtige, niemals banale Harmonik unterstützt wird, welch frisches Leben die immer klare, immer abwechslungsreiche Rhythmik in seine Musik hineinträgt und welche Erleichterung für das Verständnis seine übersichtliche, meist symmetrische Formgebung bildet. Rein äußerlich kommt noch hinzu, daß fast alle seine Werke ziemlich leicht spielbar sind und daß zahlreiche Wiederholungen kleiner, in sich abgeschlossener Teile die Einprägung wesentlich erleichtern. Man muß aber nicht glauben, Meister Grieg habe mit diesen Wiederholungen didaktische Zwecke verfolgt. Vielmehr gleicht er dem Mann aus dem Volke, der alles etwas umständlich ausdrückt, weil er selbst an dem, was er erzählt, eine solche Freude hat, daß er meint, es einmal zu sagen genüge nicht. (Wir finden eine ähnliche Weitschweifigkeit auch in der älteren romanischen Prosaliteratur.) Rein praktisch ergibt sich daraus, daß man mit Hilfe der in der Musik üblichen Wiederholungszeichen Griegs Werke leicht auf die Hälfte, vielleicht sogar auf ein Drittel des Umfangs bringen könnte, den sie im Druck einnehmen, und damit würde viel für ihre Verbilligung, also auch für ihre weitere Verbreitung getan.
Grieg hat ein ganz festes Kompositionsschema, das er fast überall anwendet:
a – b – a
Gefällt ihm etwas besonders gut, so erweitert er das Schema:
a – b – a – b – a
Eine eigentliche Entwicklung findet sich fast nirgends, sodaß man seine Formgebung beinahe ein wenig altmodisch nennen kann. Schlimmer ist, daß der Teil b oft in gar keinen inneren Beziehungen zum Teil a steht. Wenn man irgendeinen kleinen musikalischen Satz an irgendeinen andern anfügt und danach den ersten Satz wiederholt, so entsteht zwar eine symmetrische Form, aber keineswegs ein Kunstwerk, denn es fehlt dann dem Ganzen die Hauptsache, nämlich die innere Einheit. Gewiß soll der Teil b zum Teil a stets kontrastieren, aber man darf doch nicht einfach zwei ganz heterogene Sätze zusammenleimen, weil jeder für sich zu kurz wäre, um ein selbständiges Musikstück zu bilden.
Es wird erzählt, Grieg habe immer nur kurze Zeit mit Interesse zugehört, wenn jemand einen längeren Vortrag hielt, und seine Gedanken sehr bald spazieren gehen lassen. Schon seine Lehrer sollen über seinen »Mangel an Aufmerksamkeit« geklagt haben. Dieses beständige Abschweifen ist fast immer ein Zeichen von Nervenschwäche und weder Kindern auszutreiben, noch bei Erwachsenen auf irgendeine Weise zu beseitigen. Wer so veranlagt ist, kann niemals »bei der Stange bleiben«, er gibt sich jedem neuen Reize hin, läßt seine Gedanken unablässig kommen und gehen und hat gar nicht die Kraft, sich längere Zeit auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Vielleicht ist dies der Hauptgrund dafür, daß Grieg mit Vorliebe einen Einfall an den andern reiht, statt ein Musikstück organisch zu gestalten. Bringt er nicht immer wieder etwas Neues, so wiederholt er einfach das bereits Gesagte, um eine formale Abrundung zu erzielen. Dadurch ist etwas Potpourriartiges in viele seiner Kompositionen hineingekommen, das ihre Wirkung auf die große Masse gewiß eher gefördert als beeinträchtigt hat, aber ihren künstlerischen Wert doch wesentlich herabsetzt. Man kann sich auch der Erkenntnis nicht verschließen, daß Grieg, ganz abgesehen von seiner nervösen Unrast, die musikalische Formentechnik überhaupt nicht methodisch gelernt und daher nur sehr unzulänglich beherrscht hat. Und das ist um so bedauerlicher, als in der Melodik und Harmonik zwar das Beste und Wichtigste überhaupt nicht erlernt werden kann, in der Formenlehre aber beinahe alles. Grieg selbst hat diesen Mangel wohl niemals empfunden und daher auch gar keinen Versuch gemacht ihm abzuhelfen; denn es war ihm stets sehr viel weniger daran gelegen, einen Einfall kunstvoll fortzuspinnen, als möglichst viel gute Einfälle zu haben. Ein Klassizist wollte er nicht sein, auf die Architektur seiner Werke legte er wenig Wert, vielmehr galt ihm als echtem Romantiker der in sich abgeschlossene Einfall durchaus als die Hauptsache.
In Beethovens Skizzenbüchern zeigt sich immer wieder das Bestreben, einen Einfall so lange zu verändern, bis er die zum Ausspinnen am meisten geeignete Form gefunden hat. Den klassischen Meistern kam es vor allem auf den Verlauf eines Tonstücks an, der Einfall an und für sich galt ihnen keineswegs als das Wichtigste. Darum nahm sich ja Beethoven sein Eroica-Thema ganz sorglos von Mozart; warum auch nicht? War ihm denn dieses Mozartsche Thema mehr als geeignetes Material für seinen Wunderbau? Gewiß nicht. Es wäre ihm, dem großen Baumeister, nie eingefallen, seine ganze Kraft auf die Erschaffung von neuem Baumaterial zu verwenden.
Ganz anders dachten und schufen die Romantiker. Sie übernahmen gewissermaßen die Innendekoration, die innere Ausgestaltung und Ausschmückung der von den Klassikern aufgeführten Bauten. Dabei konnten sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen, ihren Sinn für Farbeneffekte, Stimmungsreize und dekorative Wirkungen offenbaren und zugleich jenen Zauber wohligster Intimität schaffen, nach dem sie sich sehnten. Im Bereich ihrer Kunst ist der Einfall keineswegs Material, sondern das eigentlich Wertvolle, in Form und Farbe Gegebene, nach dem sich alles andere richtet, um den sich alles andere zwanglos gruppiert. Der Klassiker gestaltet, er vertritt das männliche Prinzip in der Musik; dem Romantiker dagegen eignet das weibliche Element: er gebiert. Nicht das fertige Werk natürlich, sondern den musikalischen Einfall, aus dem sich dann das Kunstwerk gleichsam »von selbst« entwickelt. So und nicht anders hat auch Grieg komponiert. Die Schönheiten seiner Werke beruhen also immer auf melodischen, harmonischen oder rhythmischen Einzelheiten, auf malerischen Wirkungen, kunstvollen Kombinationen und dergleichen; niemals ist es der Aufbau des Ganzen, der zur Bewunderung hinreißt. Der schaffende Künstler wird sich wohl stets für die eine oder die andere der beiden Kompositionsarten entscheiden müssen, und auch der Geschmack des Kunstfreundes mag mehr nach der einen als nach der andern Seite hinneigen; die kritische Betrachtung aber muß die romantische Kompositionsweise als gleichberechtigt neben der architektonischen gelten lassen, denn beide haben zur Entstehung unsterblicher Meisterwerke geführt. Ihre Verschmelzung ist bis heute niemandem völlig geglückt. –
Die Eigenart der Griegschen Harmonik beruht auf dem Bestreben des Meisters, den Akkord aus dem Tone herauswachsen zu lassen. Er vereinigt also gern mehrere Stimmen auf demselben Ton und führt sie dann allmählich mit Halbtonschritten von diesem weg, aus ihm heraus, so daß die Klangformen gleichsam aufblühen, sich nach und nach immer mehr und mehr entfalten. Diese Art der Harmoniebildung ist nicht nur originell, sie spricht zugleich für Griegs große Liebe zur Natur, die er in ihrem Werden nachahmen wollte. Das Herauswachsen eines Klanges aus dem andern sucht er dann weiter durch eine sehr reiche Chromatik und Enharmonik zu fördern, das heißt: wenn bei der Verbindung zweier Akkorde die einzelnen Stimmen in größeren Intervallen fortschreiten, so zerlegt er diese in Halbtonschritte, damit dann der eine Klang ganz sanft in den andern hineingleitet. Diese Halbtonschritte sind natürlich in der Regel harmoniefremd und wirken daher an und für sich dissonierend; aber da sie in eine neue Harmonie hineinführen, so entsteht nichts anderes als ein unablässiger Wechsel zwischen Spannung und Lösung und damit pulsierendes Leben. Ständige Folgen reiner Harmonien erwecken ein Gefühl des Leblosen, Ewigruhenden, Toten; und das unablässige Aneinanderreihen von Dissonanzen, die sich niemals auflösen, erzeugt wohl eine fieberhafte Unruhe, aber auch weiter nichts.
Eine Kette von ungelösten Dissonanzen ist wie im Leben eine Reihe von unglücklichen Zufällen, also vielleicht sehr traurig, aber keineswegs tragisch. Zum Begriff des Tragischen gehört zunächst einmal, daß die Sache überhaupt einen Sinn habe. Daß nicht bloße Zufälligkeiten ein Schicksal bestimmen. Unerwartet eintretende und ungelöste Dissonanzen sind aber fast immer vollkommen sinnlos; sie martern die unschuldigen Ohren, ohne ihnen zu sagen, warum und zu welchem Zweck. Daher hat die neueste Musik so wenig Glück, wenn sie einen tragischen Helden schildern will; es schaut immer nur ein armer Pechvogel aus der kakophonischen Flut. Grieg verschmäht gelegentlich selbst die allerschärfsten Dissonanzen nicht; aber man sieht sie kommen und gehen; und kann daher auch immer unterscheiden, ob richtig oder falsch gespielt wird, was bei einer ununterbrochenen Folge verschiedenartiger Dissonanzen oft völlig unmöglich ist.
Weiter sind in Griegs Harmonik noch die vom Dudelsack herkommenden Effekte von Bedeutung, so z B. die »Brummer« oder »Dröhnbässe«. Man bezeichnet damit einen oder zwei Baßtöne, die ein Musikstück längere Zeit begleiten (und in der Harmonielehre »Orgelpunkte« genannt werden); ihre Wirkung beruht auf ihrer Gegensätzlichkeit zu den Harmonien, um die sie sich nicht im mindesten kümmern, bis sie dann schließlich mit der Schlußharmonie zu einer Einheit verschmelzen. In der Volksmusik entstehen solche »Brummer« oft unfreiwillig. Es hat gewiß jeder schon einmal eine Dorfkapelle gehört, bei der der Bassist manchmal nicht weiß, was er spielen soll, und deshalb seelenruhig denselben Ton immer wieder herauf- und herunterstreicht. Die Dorfkapellen in Norwegen kennen wie bei uns zumeist keine Noten, das Verharren auf einem Ton beschränkt sich daher nicht immer auf den Bassisten, sondern ist zeitweise auch bei den anderen Musikern beliebt. Auf diese Weise entstehen »liegende Stimmen«, die manchmal von höchst fataler Wirkung sind. Grieg hat sie zuweilen mit gutem Humor verwandt.
In der Wahl von Moll- und Dur-Akkorden, also von Dreiklängen mit kleiner oder großer Terz, verfährt Grieg sehr frei und erzielt dadurch oft sehr überraschende, allerdings nicht immer hinreichend motivierte Effekte. Oft verwendet er nur um des aparten Reizes willen in Dur eine Moll-Dominante (also z. B. die Klangfolge g – d¹ – g¹ – b¹, c¹ – e¹ – g¹ – c²) und in Moll eine Dur-Unterdominante (z. B. d¹ – a¹ – d² – fis², a – a¹ – c² – e²). Er erreicht damit Wirkungen, die denen der alten Kirchentonarten ähnlich sind. Der archaistisch-feierliche Eindruck solcher Harmonieverbindungen wird oft noch erhöht durch Sequenzen mit gebundenen Vorhalten und andere in der Kirchenmusik übliche Besonderheiten.
Den meisten Menschen bleibt im späteren Leben nicht viel von ihrer Kinderfrömmigkeit. Aber wenn sie gelegentlich kirchliche Musik hören, so umfängt sie immer wieder eine seltsam-weiche Stimmung, und Erinnerungen an ihre Jugend steigen halb unbewußt in ihnen auf. Dieselbe Stimmung erwecken manche Kompositionen Griegs, nur daß sich der Hörer nicht darüber klar wird, woher sie kommt. –
In der Melodik Griegs ist zweierlei besonders bemerkenswert: Aus der Volksmusik seines Landes hat er die Gewohnheit übernommen, den Leitton (h in C-dur) nicht in die Oktave zu führen, sondern abwärts in die Dominante (g) springen zu lassen. Es gibt nur wenige Kompositionen von ihm, die nicht solche Terzensprünge in der Melodie enthalten. Auch die zweite Besonderheit stammt aus der norwegischen Volksmusik; sie besteht darin, die Quarte chromatisch zu erhöhen, um einen Leitton zur Dominante zu gewinnen (also fis statt f in C-dur). Da Grieg in der Regel die allgemein üblichen Harmonien gleichzeitig verwendet, so ergeben sich eigentümliche Querstände und Dissonanzen, deren Berechtigung oft nicht recht einzusehen ist. In der Melodik mag ja ein solcher Leitton zur Dominante als besondere norwegische Eigenart seinen Reiz haben, aber die Harmonik muß dann entsprechend gestaltet werden. In unser übliches Dur oder Moll eingesetzt, wirkt dieser Leitton jedoch als störender Fremdkörper und verdirbt uns daher die Freude an mancher sonst sehr hübschen Komposition. Erst in späteren Werken hat Grieg eine der Eigenart des Leittons zur Dominante angepaßte Harmonik verwandt. Er gewinnt mit dieser melodischen Veränderung die folgenden beiden Tonleitern:
c, d, e, fis, g, a, h, c¹
und
a, h, c, dis, e, f, gis, a¹.
Bei der zweiten, der Moll-Tonleiter, ist die zweimalige übermäßige Sekunde (c-dis und f-gis) beachtenswert. Auch die ungarische Tonleiter wird durch zwei übermäßige Sekundenschritte charakterisiert; beide Skalen haben also eine gewisse Verwandtschaft miteinander. Diese Griegsche Moll-Tonleiter findet sich merkwürdigerweise auch in der spanischen Volksmusik; sie scheint hier durch maurische Einflüsse entstanden zu sein. Die Griegsche Dur-Tonleiter wird zuweilen durch das aus dem Moll-Dominantakkord herübergenommene b verändert, hat also noch eine zweite Form:
c, d, e, fis, g, a, b, c¹.
Läßt man diese Skala bei g beginnen, so ist sie mit unserer aufsteigenden melodischen Moll-Tonleiter identisch:
g, a, b, c¹, d¹, e¹, fis¹, g¹.
Nur macht ihre harmonische Verwendung die Unterdominante zur Tonika. Dadurch wird man wieder an die alten Kirchentonarten erinnert. Dieses Schweben zwischen Klängen aus einer längst versunkenen Zeit und Harmonien modernster Prägung bildet einen der Hauptreize der Griegschen Musik. Sie erhält dadurch etwas Zeitloses, über die Zeiten Hinausragendes; und jedes Ohr entdeckt andere ihm besonders zusagende harmonische Feinheiten. Dies in Verbindung mit ihrer tiefen Innerlichkeit und schlichten Wahrhaftigkeit erklärt uns, warum sie in Moskau, Paris, Venedig, Melbourne und Sevilla auf Ohren und Herzen nicht anders wirkt als bei uns. Nie hat es eine nationale Tonsprache gegeben, die in ihrer reinen Menschlichkeit internationaler gewirkt hätte als diese dem Verständnis eines jeden zugängliche Musik.