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Es ist nicht gleichgültig, aus welchem Blut wir stammen, denn unsere Vorfahren gehen immer leise mit uns durchs Leben und färben, uns selber unbewußt, all unser Tun.
Isolde Kurz.
Vitam regit fortuna, non sapienta. (Glück, nicht Weisheit, regiert das Leben.)
Theophrast.
Es war einmal ein junger Student, namens Kjeld Stub, der über das »Ochsen« und »Büffeln« genau so dachte wie die meisten jungen Semester aller Zeiten. Drum schlief er bis zum Mittag, stieg gegen Abend den jungen Mädchen nach und verbrachte die Nächte in der Kneipe. Da er einen hellen Kopf hatte und seine Weltkenntnis gern erweiterte, so stöberte er bei schlechtem Wetter oft in alten Schwarten herum, allzeit begierig, ein paar lustige Schnurren und derbe Anekdoten zu entdecken. Die machten ihm ein höllisches Vergnügen, zumal wenn es sich um geistliche Herren und andere ehrwürdige Standespersonen handelte. Auch von Landsknechten und fahrendem Volk las und hörte er stets gern. Was für ein lustiges, ungebundenes Leben führten doch all diese von den ehrsamen Bürgern gemiedenen, ja verachteten Gesellen! Zu fröhlichen Gelagen fehlte es ihnen nie an Geld und Gelegenheit, und auch ein Liebchen hatte ein jeder. Eins? Haha, zwei, drei, fünf und mehr noch. Ja, die ganz großen Herren und die ganz armen Teufel, die verstanden zu leben. Sollte er mit seinen blühenden neunzehn Jahren, mit seinen kräftigen Armen und heißen Sinnen hinter muffigen Schmökern vertrocknen und versauern? Das wollte ihm nicht in den Schädel. Dazu war er nicht aus seinem norwegischen Halland nach der dänischen Hauptstadt gekommen. So faßte er denn einen Entschluß, zu dem ihn seine Schulden und zahllosen Händel ohnedies drängten: an anderem Ort ein neues Leben zu beginnen.
Im Jahre des Heils 1626 verließ er daher heimlich die Kopenhagener Universität; und bald danach tauchte er dann in den Niederlanden wieder auf, wo er sich als Kriegsknecht verdingt hatte. (Auch Ingenieur soll er dort eine Zeitlang gewesen sein.) Hei, war das ein ander Leben! Die Sache galt ihm nichts, doch das Handwerk gefiel ihm. Wenns nur recht toll zuging, – je toller, desto besser! So wechselte er unbedenklich seinen Herrn, sobald es ihm irgendwo nicht mehr behagte, und diente bald hier, bald dort, zuletzt auch bei den Franzosen, wo er bis zum Hauptmann aufrückte und, wie er später stolz erzählte, das besondere Vertrauen des Kardinals Richelieu gewann. Das ging so vier, fünf Jahre, bis der Überschuß an Lebenskraft verbraucht war. Dann fiel ihm auf einmal die Heimat am Kattegat wieder ein, dem Rausch folgte die Ernüchterung, und schließlich gewann das Bewußtsein die Oberhand, daß es doch recht dumm sei, sein Leben täglich für geringen Sold aufs Spiel zu setzen. Unerfahren und weltfremd, wie damals in Kopenhagen, war er längst nicht mehr. Wie man es machen mußte, wenn man hochkommen wollte, das hatte er ja überall bei anderen gesehen und auch selbst allmählich gelernt. Warum sollte ihm das zu Hause nicht mindestens ebensogut gelingen wie in der Fremde? So faßte er denn zum zweiten Mal einen schnellen Entschluß, brannte wiederum durch und fuhr heim.
Anfangs ging es ihm in der wiedergewonnenen Heimat unerwartet schlecht. In Halland (das damals noch zu Norwegen gehörte) erinnerte sich niemand seiner, niemand wollte etwas von ihm wissen. Daher zog er bald nach der Hauptstadt Christiania, wo er als Lehrer und Hofmeister zwar nur ein sehr bescheidenes Auskommen fand, aber nach und nach einflußreiche Leute kennen lernte, die es schließlich durchsetzten, daß er zum … Pastor an der neuen Trinitatiskirche ernannt wurde. Da hatte er nun mit einem Schlage alles, was das Leben verschönt: Macht, Ansehen, genügend Geld und ein geruhiges Dasein. Aber es geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß aus einem frischfröhlichen Landsknecht von heute auf morgen ein gottgefälliger Pastor wird. So kam es denn, daß der seltsame Seelenhirte den Gläubigen von der Kanzel herab die tollsten Geschichten erzählte. Dabei versäumte er als streitbarer Mann natürlich keine Gelegenheit, mit seinen persönlichen Gegnern abzurechnen; und auch sonst pflegte er so urkräftig zu wettern und zu fluchen, daß den derben Bauersleuten das Herz im Leibe aufging. Im übrigen war er in seiner Amtsstube selten, um so regelmäßiger dafür in Schanklokalen anzutreffen. Darob ergrimmte der Bürgermeister Christianias (namens Laurits Ruus), sammelte seine Getreuen, und nach vergeblichem Besuch in der Wohnung des Herrn Pastors kam es in dessen Stammkneipe zu einem großen Krakeel und Handgemenge, bei dem der brave Kriegersmann den Bürgermeister und seine Amtsgenossen glänzend besiegte sowie mehrmals aus dem Lokal hinauswarf. Jahrelange Streitigkeiten schlossen sich an diese für die Zuschauer höchst ergötzliche Radauszene an, die Kanzel ward gar bald zum Tribunal, und der Pastor ließ seiner nicht spotten: er tat den Bürgermeister feierlich in den Bann. Das wurde der hohen Obrigkeit nun doch zu bunt, und Magister Kjeld Stub verließ nolens volens die Stätte seiner Wirksamkeit. Er hatte aber beizeiten vorgesorgt und wurde kurz danach Pastor in einem andern Ort (in Ullensaker auf Romerike). Dann kam der große Krieg mit Schweden (1643-45), und aus dem biederen Landpastor ward wieder ein tapferer Kriegersmann. Kjeld Stub stellte sich sofort seinem Gönner, dem bekannten Feldherrn Hannibal Sehested, zur Verfügung, der ihm die Beaufsichtigung einiger Grenzwachen übertrug und weitgehende Vollmachten erteilte. In richtiger Einschätzung seiner Person und seiner Fähigkeiten zog nun der Pastor mit einer Leibgarde von einem Dutzend auf eigene Kosten verpflegter Reiter in den Kampf, ließ nach eigenen Plänen Grenzbefestigungen aufführen, erhielt hierfür (?) den Titel »Kammerrat«, ritt auch einmal eine Attacke gegen einen Vortrupp des schwedischen Feldherrn Stenbock, den er zum Rückzuge zwang, und kehrte dann nach Friedensschluß wieder zur geliebten Kanzel (wie zu dem nicht minder geliebten Becher) zurück.
Auch als Schriftsteller betätigte er sich in seiner späteren Lebenszeit und verfaßte unter anderem eine hitzige Streitschrift gegen den schwedischen Kanzler Oxenstjerna, von dem wir alle einmal in unserer Schulzeit etwas gewußt haben. Nicht zu vergessen, daß der wackere Mann zeitlebens auch das Banner der Liebe hochhielt, dreimal verheiratet war und mindestens ebensoviel Kinder in die Welt setzte, wie er Erwachsene aus ihr herausbefördert hatte. 1663 starb er auf der Kanzel inmitten einer erbaulichen Predigt, deren Text der Nachwelt leider nicht erhalten blieb. –
Aus Kjeld Stubs dritter Ehe mit einem Pastorenkind stammt eine Tochter Gunhild, die den Pastor Hans Lauritsen heiratete und mit ihm neunzehn Kinder zeugte. Sie hielt also die Tradition aufrecht. Ihre Tochter Laurenze Hansdatter (»Hanstochter«, weil der Vater Hans hieß) heiratete den Kaufmann Eilert Bertelsen Kangel. Dessen Sohn Eilert Eilertsen (»Eilertsohn«) wurde von dem Bischof Eilert Hagerup adoptiert, erhielt so den Namen Hagerup und ward gleichfalls Bischof. Eines seiner drei Kinder aus zweiter Ehe, im Alter von zweiundsechzig Jahren erzeugt, war der spätere Stiftsamtmand (Gerichtspräsident) Edvard Hagerup. Er hatte drei Söhne und fünf Töchter, deren eine, Gesine Judith Hagerup, den englischen Konsul Alexander Grieg heiratete. Sie gebar ihm zwei Söhne und drei Töchter; ihr viertes Kind kam am 15. Juni 1843 in Bergen zur Welt und erhielt den Namen Edvard. Aus diesem kleinen Edvard wurde später der große Tondichter Edvard Grieg; darum mußten hier diese vielen Namen aufgezählt werden. Das Ganze nennt man den »Stammbaum der Familie Hagerup«.
Aus ihm ergibt sich, – nicht sehr überzeugend, – daß Kjeld Stub von der mütterlichen Seite her der Ahnherr Griegs ist. Ob man noch weiter gehen und Griegs zähe Energie, seinen Patriotismus und seinen Sinn für Humor als Erbteile Kjeld Stubs ansehen kann, erscheint mehr als zweifelhaft; immerhin sei für die Beurteilung der Persönlichkeit Griegs zweierlei festgehalten: die sinnenfrohe Lebenskraft all dieser Vorfahren und die bei den meisten vorhandene Neigung zu ernster Beschäftigung mit religiösen Dingen. Beides hat sich zu allen Zeiten recht gut miteinander vertragen, und noch heute findet man unter den kleinen protestantischen Pastoren der germanischen Länder wie unter den katholischen Landgeistlichen Spaniens und Italiens Prachtnaturen, die keine, aber auch gar keine Ähnlichkeit mit dem Bilde haben, das sich der Großstädter nach dem Genuß einiger Witzblätter von ihnen macht. –
Als Ahnherr Griegs von der väterlichen Seite her gilt der schottische Admiral Greigh; im »Glasgow Herald« ist 1906 sogar der Versuch gemacht worden, die Familie Grieg von dem unglücklichen Clan Mac Gregor herzuleiten, dessen Nachkommen sich Grig, Grige und Greig nannten. Der Stammbaum reicht jedoch nur bis zu einem (wahrscheinlich als Kaufmann tätig gewesenen) Schotten John Greig, in dessen Zeit der Kampf des Prätendenten Charles Edward Stuart gegen die Engländer unter dem Herzog von Cumberland fällt. In diesem Kampfe siegten die Engländer (1746 bei Culloden), deportierten dann die Gefangenen, nachdem sie jeden zwanzigsten Mann gehenkt hatten, und nutzten hinterher ihren militärischen Erfolg in kaufmännischer Hinsicht so skrupellos aus, wie sie es auch heute noch zu tun pflegen, sobald sie von der völligen Wehrlosigkeit eines Gegners überzeugt sind. Die Folge davon war, daß viele schottische Geschäftsleute auswanderten. Unter diesen befand sich auch der Kaufmann Alexander Greig, der 1739 zu Aberdeen als Sohn John Greigs geboren war. Er wandte sich nach dem landschaftlich und klimatisch an Schottland erinnernden Norwegen, wurde 1779 Bürger von Bergen, änderte später seinen Familiennamen Greig in Grieg um und starb 1803 als englischer Generalkonsul. Man sagt ihm nach, er sei ein fanatischer Anhänger der schottischen reformierten Kirche gewesen und alljährlich nach Schottland gepilgert, um dort das heilige Abendmahl zu empfangen. Solche romantische Legenden pflegen von einer Biographie in die andere überzugehen. In Wirklichkeit verhält sich die Sache so, daß Alexander Grieg jedes Jahr einmal eine Geschäftsreise nach seiner Heimat machte und bei dieser Gelegenheit in Schottland das heilige Abendmahl einzunehmen pflegte, was eigentlich kaum eine besondere Hervorhebung verdient. Die Bewohner des britischen Inselreiches sind bekanntlich von jeher gute Kaufleute und nicht minder gute Christen gewesen, auch haben sie als praktische, weitschauende Menschen stets für die Gegenwart und die Zukunft zugleich gesorgt. Gibt es für den Einzelnen auch nach dem Tode noch eine Zukunft? Man kann nie wissen. Muß sich jedenfalls so einrichten, daß man auf alle Möglichkeiten gut vorbereitet ist. Viel weiter reichte und reicht noch heute die Philosophie der britischen Kaufleute selten. Von Alexander Grieg ist bekannt, daß er ein strenggläubiger Christ, keineswegs aber eine tief religiöse Natur war; und nur einer solchen, nicht aber einem nüchtern kalkulierenden, in bescheidenen Verhältnissen lebenden Kaufmann wäre es zuzutrauen, daß mystische Bedürfnisse ihn zu teuern, langwierigen Seereisen veranlaßt hätten. Sehr hübsch, aber ebenso unrichtig ist eine weitere Legende, derzufolge die Treue zu den Stuarts der Grund zur Auswanderung Alexander Greigs (nach der Schlacht von Culloden gewesen sein soll. Denn: – der kleine Alexander zählte damals erst sieben Jahre. Daß die Treue Edvard Griegs seinen Freunden gegenüber ein Erbteil dieses Alexander sei, wird damit auch recht unwahrscheinlich.
Alexanders Sohn John (1772-1844) war gleichfalls Kaufmann und britischer Konsul, ebenso dessen Sohn Alexander (1806 bis 1875), der sich (wie schon erwähnt) mit Gesine Hagerup verheiratete und der Vater Edvard Griegs wurde. Für das Verständnis der Wesensart Griegs und der Besonderheit seines Schaffens fällt auch hier etwas ab: Seine stets nüchterne, gesunde Beurteilung des praktischen Lebens, bei einem Künstler leider eine Seltenheit, ist sicherlich ein Vermächtnis der sämtlich dem Kaufmannstande angehörenden Vorfahren. Und gewisse Eigenarten der Griegschen Musik (liegende Stimmen, dudelsackartige Begleitungen u. dgl.) sind ohne seine schottische Abstammung kaum zu erklären. Nur sollte man nicht so weit gehen, aus den Kompositionen Griegs die wilden Melodien heraushören zu wollen, die die Hochschotten bei Culloden zum Streit entflammten. Denn selbst wenn Griegs Vorfahren diese Melodien gekannt hätten (aufgezeichnet sind sie nicht), so würde doch keine Vererbungstheorie die Übertragung der Erinnerung an sie auf einen Urenkel glaubhaft erscheinen lassen. Grieg selbst nahm derartige Erklärungen wohl nie ganz ernst, denn er schrieb einst einem seiner bekanntesten Biographen in seiner frischen, unbekümmerten Art: »Ich mußte laut lachen über Ihre Reflexionen bezüglich meiner Abstammung. Sie sind gottvoll.« Andere Komponisten hätten »geistvoll« oder »interessant« gesagt und sich freundlichst bedankt. Aber Grieg konnte nicht anders sprechen, als er dachte. Und darum hat er so viele aufrichtige Freunde in aller Welt gefunden. Denn die Pforte zur Freundschaft heißt Vertrauen, und niemandem vertraut man leichter als einem, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat und ohne Phrasen und Getue so redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Immer geht vom Hauswesen jede wahre und beständige und echte Volksgröße aus; im Familienglück lebt die Vaterlandsliebe, und der Hochaltar unseres Volkstums steht im Tempel der Häuslichkeit.
Jahn.
In der Welt, in der alles schwankt, bedarf es eines festen Punktes, auf den man sich stützen kann. Dieser Punkt ist der häusliche Herd; der Herd aber ist kein fester Stein, sondern ein Herz, und zwar das Herz einer Frau.
Michelet
Björnson hat einmal gesagt: um die Wesensart eines Menschen zu erkennen, brauche er nur einen Spaziergang mit ihm zu machen. Manches hochtönende Wort enthält keinen so tiefen Sinn wie dieser schlichte Ausspruch. Ob einer beim Anblick eines wogenden Kornfeldes ausruft »wie schön« oder etwa »dieses Jahr wird der Bauer ein schlechtes Geschäft machen«, ob er leuchtenden Auges vor sich hin träumt oder etwas schwätzt und garnichts sieht, ob er seinem Ärger über zertretene Halme Luft macht oder seiner Freude über die bunten Blumen zwischen den Ähren, ob er die äußeren Eindrücke überhaupt irgendwie verarbeitet oder sie ohne innere Anteilnahme rein passiv empfängt, – immer wird sich zeigen, was in ihm mitschwingt, auf welchen Ton sein Inneres eingestimmt ist. Wenn Griegs Vater mit seinem Sohn spazieren ging, wählte er gern Wege über Äcker und Felder, pflegte dabei seine Beobachtungen zu irgendwelchen statistischen Erörterungen zu verwerten und verbreitete sich dann mit schöner Regelmäßigkeit über die Mengen an Getreide, die Norwegen jährlich verbrauche, erzählte auch, wieviel Tonnen Fische jeden Sommer nach dem Ausland verkauft würden, und dergleichen mehr. Der junge Grieg hörte meist mit geringer Aufmerksamkeit zu, wanderte auch viel lieber zu der stillen Schönheit der Fjords und grünen Schluchten, oder in die erhabene Einöde der Hochgebirgswelt. Das war nun wieder garnichts für den Vater. So ging denn schließlich ein jeder seinen eigenen Weg.
Kühle, praktisch veranlagte Naturen sind durchaus nicht immer ohne »ideale Interessen« und daher auch musikalischen Genüssen sehr oft zugeneigt. Aber sie lieben in der Musik nur das Spielerische, Unterhaltende; haben nur mehr oder minder angenehme Gehörseindrücke; kennen jedoch nicht die seelischen Erregungen, die das Erleben eines Tonwerks in jedem wahren Kunstfreund hervorruft. So war es auch bei Alexander Grieg, der gern klassische Musik hörte, mitunter sogar selbst musizierte, wenngleich er die Nützlichkeit solcher Betätigung nicht recht einsah. Da seine kurzen, dicken und ungelenken Finger mit Akkorden leichter fertig wurden als mit schnellen und komplizierten Figuren, mied er alle Solovorträge, bevorzugte vierhändiges Klavierspiel und übernahm dabei natürlich die »untere« Rolle. Da ist es bekanntlich nicht so schlimm, wenn man schwierige Stellen ausläßt, man muß nur hübsch Takt halten und den Baß genügend markieren; das aber verstand Vater Grieg recht gut. Neuere Musik schätzte er wenig, und die seines Sohnes war ihm viel zu verworren, viel zu dissonanzenreich. Nur ein Teil der Lieder gefiel ihm; die anderen Sachen lobte er zwar mit freundlicher Nachsicht, hörte sie aber immer nur mit gelindem Grausen. Es wird wenige Komponisten geben, denen es mit ihren Vätern anders ergangen ist; ja man muß es schon für etwas Außergewöhnliches halten, daß Vater Grieg niemals an der Begabung seines Sohnes zweifelte und dessen musikalische Studien stets nach Kräften zu fördern suchte. Daß er dabei auf eigene geheime Wünsche verzichtete, hat er in späteren Jahren wohl nicht bereut.
Weiter weiß man von ihm nur noch, daß er bei aller kaufmännischen Tüchtigkeit kein sehr energischer Charakter, aber ein gutmütiger, liebenswürdiger Mensch gewesen ist; außerdem soll er nach Ansicht seines Landsmannes und Biographen Schjelderup den Humor seines Sohnes geerbt haben. (Bei den »Kindern des Reiches der Mitte« erhält der Vater alle Titel und Ehren, die sein Sohn sich verdient; schwieriger und seltener dürfte es sein, daß jemand die Charaktereigenschaften seines Sohnes erwirbt oder gar »erbt«.)
Griegs Mutter war eine kluge, energische Frau, deren frisches Temperament einen glücklichen Gegensatz zu der etwas weichen Art ihres Gatten bildete. An geistiger Bedeutung stand sie ihrem Manne mindestens gleich, an musikalischer Begabung überragte sie ihn weitaus. Ihr Talent wurde gefördert durch den Musikdirektor Albert Methfessel in Altona (den bekannten Liedertafel-Methfessel, wie er zur Unterscheidung von einem Namensvetter genannt wird). Sie bildete sich bei diesem durch sein Kommersbuch noch heute bekannten Komponisten und Dirigenten im Gesang und Klavierspiel aus, nahm später auch in London Unterricht und versäumte nicht, sich ständig weiterzubilden. In ihrer Heimat entfaltete sie bald eine sehr rege künstlerische Tätigkeit. Allwöchentlich gabs in ihrem Haus eine musikalische Soirée, bei der oft ganze Opern aufgeführt wurden, besonders die ihrer beiden Lieblingskomponisten Mozart und Weber. Frau Grieg übernahm dabei die Klavierbegleitung, zuweilen auch eine oder mehrere Gesangspartien, wenn unter den Gästen nicht genug Sänger waren, und der kleine Edvard hörte in einer Ecke des Zimmers zu. Man kann sich sein Glück lebhaft vorstellen; denn es gibt nichts Schöneres als solche häuslichen Musikaufführungen, bei denen die Begeisterung aller Beteiligten reichlich aufwiegt, was ihnen an technischer Vollkommenheit fehlt. Auch als Solistin in öffentlichen Konzerten ist Gesine Grieg mehrmals aufgetreten. Ferner hat sie zum Privatgebrauch eine Reihe von Gedichten und Theaterstücken geschrieben, war also eine vielseitig begabte Frau.
Außer zwei älteren und einer jüngeren Schwester, von denen nichts Besonderes zu berichten ist, hatte Edvard Grieg noch einen Bruder, der nach seinem Großvater John hieß (1840-1901). Er studierte in Leipzig bei Grützmacher und Davidoff Violoncello, lernte dann eine Dresdenerin kennen und heiratete sie. Da er mit seiner Frau als Cellist schwerlich hätte leben können, gab er die Kunst auf und trat als Teilhaber in die Firma seines Vaters ein. Obwohl er Zeit und Gelegenheit fand, sich als Cellospieler und Kritiker zu betätigen, hat er doch zeitlebens darunter gelitten, daß er sich dem Künstlerberuf nicht ganz hingeben konnte. Zumal als er den Aufstieg seines jüngeren Bruders miterlebte, pflegte er bitter über sein verfehltes Leben zu klagen. Da er verwandte Anlagen und dieselben künstlerischen Neigungen wie Edvard hatte, konnte ihn seine kaufmännische Tätigkeit natürlich niemals befriedigen; und da niemand zween Herren dienen kann, ist er weder ein großer Kaufmann noch ein großer Künstler geworden. Tiefe Melancholie trieb ihn schließlich zum Selbstmord. Sein Schicksal widerlegt die weitverbreitete Meinung, daß es für einen musikalisch begabten Menschen stets das beste sei, einen finanziell lohnenden Beruf zu ergreifen und die Musik nur nebenher zum Vergnügen zu betreiben. Wer seine Anlagen nicht ausbilden und sich nicht mit ganzer Kraft einem Beruf widmen kann, zu dem er sich hingezogen und befähigt fühlt, der ist noch nie ein glücklicher Mensch geworden. Der innigen Zuneigung Edvards zu seinem Bruder John verdanken wir das einzige Originalwerk für Violoncello, daß Grieg komponiert hat: die Cellosonate op. 36, die für John geschrieben und ihm gewidmet ist.