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Fünftes Kapitel.

Eine Silvestergesellschaft und darauffolgende Begegnung.


Beim Kommerzienrat Gundermann war zur Silvesterfeier eine große Gesellschaft versammelt. Die Blüte der Kunst und Wissenschaft war in ihren auserlesensten Vertretern zum buntesten Kranze vereinigt, wie der liebenswürdige Wirt in seinem Bewillkommnungstoaste sich ausgedrückt hatte. Da waren Professor Päpker, der pessimistische Philosoph Sandmann und der Ästhetiker Schärwenzel; da sah man Mäuser, den berühmten Maler des neuen Weltpanoramas von 8526½ Quadratmeter Flächeninhalt mit elektrischer Beleuchtung und Umdrehung durch Dampfkraft; ferner den Altertumsforscher Saadeboom, welcher soeben aus Numidien zurückgekehrt war, wo er auf Staatskosten Nachgrabungen vorgenommen hatte, deren Ausbeute nächstens dem Museum einverleibt werden sollte; da fehlte nicht der weltbekannte Dr. Meskin, berühmt durch sein großes Werk über den mikroskopischen Krankheitsträger des Ziegenpeters und durch die zweifellos bewirkte Übertragung des Kontagiums auf eine weiße Maus, deren Abbildung, in Kupfer gestochen, sein grundlegendes Buch zierte; da war endlich auch – zum erstenmal für den Gundermannschen Kreis gewonnen und darum der Gegenstand ganz besondrer Huldigungen – der Dichter Leonhard Tömlank, bekannt auch als Sieger mit dem Text zu einer Nationalhymne, für den von ihm ein Preis von 333 Mark 33 Pf. gewonnen worden war, »der den längst ersehnten Tag des großen modernen Dramas heraufgeführt hat, des Dramas im höchsten Sinn; dessen Schöpfungen, mitten aus dem Bedürfnis und dem Drang unsrer gewaltigen Zeit geboren, doch zugleich die Bürgschaft überzeitlicher Dauer und unvergänglich strahlender Schönheit in sich tragen etc. etc,« wie eben Professor Päpker in seiner Tischrede an den Dichter sich ausgedrückt hatte. Denn man hatte ästhetisiert, musiziert, philosophiert und war nun auch so ziemlich mit dem Soupieren zu Ende.

Mit stürmischer Begeisterung kam man der Aufforderung nach, mit welcher Päpkers Rede schloß, auf des herrlichen Dichters ungetrübtes Wohl die Gläser zu leeren: »Denn wenn ihm nur dies die Parzen vergönnen, so verbürgt uns sein Genie sicher genug sein immer kühneres Emporsteigen zu den höchsten Zielen seiner erhabenen Kunst.« Daß darauf die Unterhaltung längere Zeit bei der Besprechung und Bewunderung der Tömlankschen Werke verweilte, war erklärlich. Besonders Sandmanns Lobeserhebungen waren laut und lebhaft.

»Kennen Sie denn diese Sachen alle, Doktor?« fragte ihn Sälten, der in seiner Nähe saß.

»Keinen Buchstaben,« war die Antwort.

»Ha, ich gestehe,« bemerkte Sälten erleichtert, »außer den Titeln, die ich hier meist zum erstenmal höre, weiß ich ebensoviel.«

»Ah, du bist abscheulich,« rief Hilda, welche zwischen beiden Herren saß, und schlug zur Strafe ihren Bräutigam mit dem Fächer auf den Arm. –

»Pst,« rief Päpker jetzt, der zur Vermehrung seiner litterarischen und kritischen Kennerschaft offenbar recht geflissentlich eine protektionelle Bewunderung der gegenwärtigen dramatischen Größe zur Schau trug, »pst, meine Damen und Herren,« und tippte dabei an sein Rheinweinglas.

Leonhard Tömlank hatte sich erhoben, um zu danken. Da er nicht eher zu sprechen begann, als bis die Tafelrunde ganz still geworden war, so haben wir Zeit, des Dichters äußere Persönlichkeit zu betrachten, und können dann seinen Worten mit desto ungeteilterer Aufmerksamkeit lauschen.

Er war nur klein von Gestalt, aber desto gedrungeneren Wuchses, als wäre er eigentlich größer gewesen, aber nachträglich durch Zusammenschiebung verkürzt worden. Sein starkes Gesicht von gesunder Röte hatte etwas »Aufgeplustertes«, wie etwa eines Tubabläsers, wenn er sein Instrument spielt. Sein dichtes Haupthaar trug er ganz kurz geschoren, vielleicht auch um dem breiten Seidenbande desto freieren Weg zu öffnen, an dem sein Kneifer befestigt war und das er, wenn die Gläser auf seiner kurzen Nase saßen, hinter das rechte Ohr zierlich zu legen pflegte. Sein Anzug zeigte eine gewisse geniale Lässigkeit, ohne doch im geringsten vernachlässigt zu sein.

Doch schon hat er zu reden begonnen. Seine Worte sind voll Nachdruck wie sein Vortrag, den man prasselnd nennen kann. Ja, seine Rede ist nicht wie ein Schwert, das hin und her fährt, blitzt und blendet, sondern wie ein Hammer, der dröhnend auf den Amboß schlägt.

Er begann damit, um Nachsicht zu bitten, wenn er, unter dem übermächtigen Eindrucke der eben gehörten Worte, nicht im stande wäre, seiner Dankespflicht den gebührenden Ausdruck zu geben. In der That (mit einem Wink nach Professor Päpker), er fühlte sich von der ihm gewordenen so überaus schmeichelhaften Anerkennung beinah beschämt – (leises Schütteln des Hauptes von seiten des Goetheinterpreten und mehrerer Damen) – ja, beschämt. Er erklärte daher, von einem solchen doch vergeblichen Versuch lieber abstehen zu wollen und dafür seine verehrten Zuhörer einen Blick thun zu lassen in das Geheimnis des dichterischen Schaffens, wenn ihm anders die Kompetenz, hierüber sich zu äußern, nicht abgesprochen würde. – (Leises allseitiges Gemurmel des Unwillens gegen jeden, der etwas so Unerhörtes wagen möchte.) – So wollte er denn den Poeten, diesen Kämpfer auf dornenvoller, aber glorreicher Bahn, gleichsam auf zwei Stationen seines einsamen Erdenwallens zeigen. (Hier führte Frau Professor Schärwenzel ihr Battisttuch über die Augen, denn sie war Mutter zweier erwachsener Töchter und Tömlank noch unbeweibt.)

Darauf schilderte er zuerst den Dichter, wie er in der Stille der Nacht, dem Schlaf entsagend, den Inspirationen seines Genius lauscht und sich mit dem Weltgeist bespricht, bis die Schattengestalten seiner Phantasie, von seinem Herzblut genährt, lebendig werden, und er muß, muß sagen, was sie ihm offenbaren. Dann in solchem Schaffen, in dem er sich selbst verzehrt, erhebt ihn ein Gedanke: für sein Volk, für die Nation, für die Menschheit zu wirken, zu leiden, sich zu opfern!! – »Dann aber,« fuhr der Redner nach einer Pause fort, in welcher er, um in der Romansprache zu reden, einen »aufstrahlenden« Blick hatte durch den zurechtgerückten Kneifer über die Gesellschaft gleiten lassen, »kommen von den Göttern ihm geschenkte Stunden, in denen ihr Dichter beglückt und erhoben wird durch die Gewißheit, nach unsterblichem Ruhm nicht vergeblich gerungen zu haben. Das sind die Stunden, in denen er inne wird, wie die erleuchteten (Hindeutung auf Päpker) und die edlen (Wink an alle Anwesenden) Geister, kurz die führenden Kreise der Nation sein Streben verstehn und durch ihre ermunternde Zustimmung ihm beweisen, daß die Gebilde seiner Kunst angefangen haben, ein wirksames Element zu sein in der geistigen Bewegung der Zeit – Stunden, die dem Gedächtnis unverlierbar bleiben, wie mir die gegenwärtige!«

Tömlank setzte sich, hüstelte, nahm einen Schluck Wein und sah mit unverwandtem Blick nach der Knackmandel nieder, die auf seinem Dessertteller lag. Offenbar fühlte er die Pflicht, der Gesellschaft eine angemessene Frist zu geben, damit sie mit der Tragweite und dem Tiefsinn seiner Worte sich abfände, so gut sie vermöchte. Dabei konnte er nicht wissen, daß die Begeistertsten seiner Bewunderer, wie sie ihn in seiner kontemplativen Stellung vor der Knackmandel sitzen sahen, unwillkürlich zu dem Wunsche sich getrieben fühlten, so möchte Mausls Pinsel ihn für die Nachwelt festhalten. Mausl selber wünschte es.

Daß nach dem eben geschilderten Tömlankschen Aufschwunge die Geselligkeit unsers Kreises so zu sagen idealisch tingiert blieb, versteht sich leicht. Die Unterhaltung blieb durchaus in poetischen und philosophischen Sphären haften. Unter andern trug unser Dichter, als der Held des Abends, eine längere Ballade vor von einem edlen Herzog, der über irgend etwas sehr aufgebracht war, von einem argen Seneschall, der über ebendasselbe sich sehr boshaft, und von einer holden Maid, die über die gleiche Angelegenheit sich sehr jammernd äußerte. Man fand das Gedicht wundervoll, und Päpker erläuterte seine Vorzüge durch Vergleichungen mit altschottischen Mustern der Percyschen Sammlung.

»Nun aber geben Sie uns eine Romanze aus dem sonnigen Süden,« mit diesem Wunsche wandte sich der Kommerzienrat an Doktor Schärwenzel, der, die Wahrheit zu sagen, schon geraume Zeit auf solch ein Merkwort gewartet hatte. Denn er hatte sich in früheren Jahren in Korsika aufgehalten, und das Land der Blutrache war seine Spezialität. Allerdings erhob er sich, um der an ihn ergangenen Aufforderung nachzukommen, nicht ohne daß der Goetheforscher, der gleichfalls über korsische Literatur ein Werk geschrieben hatte, eine Zuhörerhaltung einnahm, die Kenner ohne Zweifel als bedrohlich bezeichnen durften.

Doktor Schärwenzel deklamierte seine Romanze mit einem hohlen Grabeston, welcher vorzüglich immer den Kehrvers in alle Schauer der Mitternacht rückte:

»Schärfe, Stein, den Dolch der Rache! –«

Der Beifall, welcher besonders die leidenschaftliche Glut des korsischen Nationalcharakters trefflich wiedergegeben fand, war allgemein. Selbst Tömlank schien zufrieden zu sein und nickte. Aber Päpker fing alsbald an, die Übersetzung kritisch zu sezieren, und fand, daß vor allem im Kehrverse der Zauber der Tonmalerei, welche im Original sich fände, nicht zur Geltung käme. »Wetze, Wetzstein, meine Wehr mir« etwa schlug er vor oder etwas Ähnliches. Wie zu erwarten war, verteidigte Schärwenzel seine Übersetzung, indessen Päpker seine Ausstellungen daran verschärfte. Sandmann gab diesem Recht, der Altertumsforscher Päpkern, Doktor Sälten beiden, so daß die Meinungen sich nur noch mehr verwirrten und Gefahr vorhanden war, die Gemüter möchten in eine gewisse Versäuerung gegen einander geraten, wenn nicht mitten im Streit der liebenswürdige Gundermann mit der Uhr in der Hand Mitternacht und den Beginn des neuen Jahres angesagt hätte, um zum Gläseranstoß und zur wechselseitigen Gratulation zu ermuntern.

Es geschah. Aber noch hatte man sich nicht wieder gesetzt, als Päpker wieder das Wort nahm, diesmal als »Freund des Hauses«, um die Glückwünsche des teuren Herrn Kommerzienrates im Namen der Gesellschaft zu erwidern. Er that es in gewohnter Meisterschaft, nicht ohne auf die Verschwisterung der Industrie und Intelligenz hinzuweisen, die er als die Signatur des Gundermannschen Charakters bezeichnete, und auf das glückverheißende Bündnis der Tochter dieses Hauses mit »unserem hochstrebenden gelehrten Freunde«, der nach den gründlichsten Spezialforschungen eben jetzt, wie er mitteilen dürfte, die Ergebnisse seiner Studien in einem großen Werke gezogen hätte, in welchem gleichsam das ganze Bild der modernen Weltanschauung in der klaren Beleuchtung der Wissenschaft sich widerspiegle. In seine Glückwünsche fürs neue Jahr, sagte er, schlösse er auch die für diese »That« und ihre ohne Zweifel großen und dauernden Erfolge. –

Der also Gefeierte, als er nach Schluß der Gesellschaft, bei der unsichtbar zu verweilen wir den ausgezeichneten Vorzug genossen haben, seinen Heimweg vollendet hatte, war einigermaßen verwundert, die Hausthür von Langestraße 110 noch offen zu finden, und noch mehr, auf der Treppe, die er hinaufzusteigen hatte, eine Frau anzutreffen, die da auf einer der Stufen saß und auf ihn gewartet zu haben schien. Denn bei seinem Herannahen stand sie auf, band sich ihr Umschlagetuch wieder zurecht, in welches sie ihre beiden Hände eingewickelt gehabt hatte, nahm die Küchenlampe, die neben ihr gestanden war, vom Boden auf und knickste den Heimkehrenden mit vieler Höflichkeit, aber nicht ohne Würde an:

»Ach, lieber Herr Doktor,« sprach sie, die freien Arme in die Hüften stemmend, was nach der Beharrlichkeit, mit der sie von ihr eingenommen ward, ihre Lieblingsstellung zu sein schien, »wie gut, daß Sie endlich kommen. Denn ich kann das nicht so mit ansehen – nicht als Vizewirtin, lieber Herr Doktor, – ich bin nämlich hier die Vizewirtin, wenn Sie erlauben – was ich mir freilich nicht hätte träumen lassen, als noch mein Mann in der Werkstatt fünf Hobelbänke zu stehen hatte und an jeder ein Geselle und die Arbeit ging so gut, daß ich selber der Frau Zoozen – ach, du lieber Gott, sie hatte so'n kümmerlichen Grünkram neben an, aber wir kannten uns von der Schule her, und wenn ihr's Herz schwer war, kam sie zu mir 'rüber – ja ich mußt ihr Recht geben, als sie sagte (und sie hat's oft gesagt): Rohrdrommeln, warum fangt Ihr nicht 'ne Möbeltischlerei en gros an und du bedienst die Herrschaften im Möbelmagazin, denn du bist die Frau dazu –«

»Wahrscheinlich wünschen Sie von mir etwas,« sagte Sälten, ihren Redestrom unterbrechend. »Sie meinten, Sie könnten etwas nicht länger so mit ansehen.« –

»Ja, ganz recht, Herr Doktor,« begann die Frau wieder, »ich danke Ihnen recht sehr – o, ich hätt' Ihn' gleich sagen sollen, daß ich als Vizewirtin ja freilich in so 'nem großen Hause, wo alle Augenblick was vorfällt, am Gange sein muß und auch, denk' ich, nach'm Rechten sehn und auf'n Herrn Kommerzienrat sein'n Vorteil bin, wo ich weiß und kann, wie noch gestern die Spießbachen, das ist nämlich die Schusterfrau hinten parterre links, zu mir gesagt hat: Rohrdrommeln, sagte sie, wovor quälst du« –

»Was also hatten Sie mir mitzuteilen?« fragte der Gelehrte, dessen Ungeduld sich regte. –

»Danke, lieber Herr Doktor, danke Ihnen vielmals, daß Sie mich daran erinnern – nein, gewiß, die einzelnen Herr'n hier im Hause kümmern mich ja nicht als Vizewirtin – 's geht mich ja rein nichts an, was sie treiben, als Vizewirtin, wenn sie nur die Hausordnung halten – und 's kommt mir überdem als Witwe nicht zu – aber du meine Güte – der Korrektor da oben – 's ist herzbrechend – der gute Herr – er ist ja wie'n Kind, und nun muß er mit so 'nem Herrn Grim zusammengeraten, dem ich nicht übern Weg trau' mit seinem Garibaldigesicht – und drum hab' ich mal mich seiner angenommen, wo ich gekonnt hab' und laß die Leute reden was sie wollen.« –

»Ist mit dem Herrn, von dem Sie reden, etwas vorgefallen?« fragte Doktor Sälten wieder, froh, dem Ziele doch nun erheblich näher sich gerückt zu sehen. –

Das lebhafte Angesicht der Vizewirtin spiegelte den Ausdruck höchlichster Verwunderung über den Scharfsinn der eben gehörten Mutmaßung wider, und der neue Mietsmann war in der Meinung der Frau Rohrdrommel unleugbar erheblich gewachsen.

Sie nickte bejahend und wies dann hinab durchs Flurfenster. »Da muß ich grad' von der Spießbachen kommen, wo ich auf'n Husch gewesen war und fragen, ob sie zum Salvester was vorhaben – und will eben in'n Thorweg, da kommt Ihn'n der gute Herr Korrektor an – und will an mir vorbei. Das ist doch sonst seine Art nicht, sondern er nimmt sich Zeit und dankt, wenn man ihn grüßen thut. Aber so geht er vorbei, und ich hätt' von nichts nicht gemerkt in der Dunkelheit, wenn mir nicht die zwei Briefe eingefallen wären, die für ihn angekommen waren. Drum sag' ich zu ihm: ›Einen Augenblick, Herr Korrektor, daß ich sie Ihn'n bringen kann.‹ Sehn Sie, da bleibt er stehen und will warten. Ach, du meine Güte, wie ich ihn nun betracht', so ist er Ihnen ganz naß, wie aus'm Wasser gezogen, und friern thut er auch, und die Lippen sind ihm ganz blau. ›'s ist nichts, Frau Rohrdrommeln,‹ sagt er, wie ich mich erschreck', ›ängstigen Sie sich nicht – 's hat nichts zu bedeuten!‹ grad' so, wie er immer spricht, wenn ich ihm ins Gewissen red', daß er sich zu sehr plagt mit'm Aufsitzen zu Nacht und Studieren.« –

»Und hernach?« fragte Doktor Sälten, die Erzählerin zur Fortführung ihrer Mitteilung drängend. –

»Ich danke Ihnen, lieber Herr Doktor,« fuhr sie fort – und schien diese Höflichkeitsäußerung als ein Erfordernis des feinen Umgangstones anzusehen, auf den sie sich wohl verstünde – »hernach hab' ich ihm denn hinaufgeholfen, dem guten Herrn, und aus den nassen Kleidern und ihm gesagt, sich ins Bett zu legen, dieweil ich ihm 'nen Kräuterthee kochen wollte – 'nen Hamburger Kräuterthee.«

»Ist's danach schlimmer mit ihm geworden?«

Diese Frage schien die gute Frau im Innersten zu schmerzen, insofern darin die Möglichkeit einer ungünstigen Wirkung ihres Universalheiltrankes angedeutet war. Aber sie unterdrückte ihr gekränktes Gefühl und sagte nur: »Schlimmer, nach'm echten Hamburger Kräuterthee, verfertigt von Wijenski?« – und schüttelte in sanfter Resignation über die Undankbarkeit der Welt gegenüber dem Kräutertheewohlthäter ihr Haupt. – »Nicht 'nen Tropfen hat er davon getrunken. Denn wie ich wieder oben komme mit'm Thee und die beiden Briefe bring' ich auch mit, langt er nach denen, und wie er den ersten gelesen hat, verfärbt er sich und beim zweiten noch mehr und er setzt sich Ihn'n so hin auf sein'n Stuhl und's Kinn sinkt ihm auf die Brust, und die Arme fallen ihm herunter – und 'nen Seufzer holt er – einen ganz leisen – aber hilf Gott! – so ein Seufzer kommt schwer aus der Brust – und so ein guter Herr sollte nicht so seufzen müssen – ach – und wie ich ihn dann gefragt hab', was ihm wär', und er möcht' doch geschwind vom Thee trinken recht heiß, da hat er gesagt: ›Nichts, nichts Frau Rohrdrommel,‹ – und ›ja, ja,‹ als wollt' er mir den Willen thun; aber dabei hat er so vor sich hingeblickt unsäglich traurig und mit seinen Händen nach den Schriften herumgelangt, die auf'm Tische lagen, als wollt' er sie sich zurechtlegen – und kurz, ich hab' an ihm ein besondres Wesen gemerkt, konnt' doch nicht raten, was ihm wär'. So hab' ich ihm denn noch 'mal gesagt, er müßt' nun trinken und sollt' sich zu Bett legen – und bin gegangen – daß er dazu Zeit hätt'.« –

»Das ist jedenfalls ein guter Rat gewesen, liebe Frau, den Sie da gegeben haben,« bemerkte Sälten.

»Ich dank' Ihnen, Herr Doktor,« sagte die Vizewirtin sichtlich gestärkt, »ich dank' Ihnen recht und ich wüßt' auch nicht, wann der Wijenskische Kräuterthee nicht angeschlagen hätte oder nicht anschlagen könnte – aber man muß ihn trinken natürlich, Herr Doktor, nicht? und sich zu Bette legen und schwitzen.« –

Der so um seine Meinung Angegangene nickte zustimmend.

»Aber der Korrektor hat nichts dergleichen gethan,« sprach Frau Rohrdrommel weiter, und stemmte bei der Anzeigung dieser außerordentlichen Thatsache ihren freien Arm mit vermehrter Energie in die Seite, »denn wie ich vor 'ner halben Stunde hinauf geh', um nach ihm zu sehn – denn der andre ist auch nicht nach Haus kommen – so sitzt er Ihn'n noch immer in sein'm Stuhl, hat den Kopf in die linke Hand gestützt und in der rechten hält er die Feder und schreibt – und der Thee neben ihm – nicht rühr' an, Herr Doktor!«

»Aber er schien Ihnen der Ruhe zu bedürfen?« fragte Sälten mutmaßend.

»Guter Herr Korrektor,« hab' ich zu ihm gesagt, »ich müßt' noch keinen Kranken gesehn haben, wenn ich Ihnen nicht ansehn thät, daß Ihn'n was in den Gliedern steckt; ich steh' für nichts, wenn Sie nicht den Thee trinken und dann gleich sich legen.« – Aber er sieht kaum auf, sagt nur, sanft wie er immer spricht, nein, noch sanfter: ›Gleich, Frau Rohrdrommel, gleich.‹ Aber er bleibt sitzen und arbeit't weiter.« –

Nach diesen Worten schwenkte die Witwe ein wenig ihre Küchenlampe mit einer gleichsam abschließenden Gebärde und setzte hinzu: »Da hab' ich mir gesagt: ›Rohrdrommeln, das darfst du, das kannst du, das willst du nicht so mit ansehn‹ und hab' mich hier auf die Treppe gesetzt und auf Sie gewartet.«

»Sie wünschen also, daß ich nach Ihrem Kranken sehe?« fragte der Gelehrte, als sie innehielt.

Wieder nahm Frau Rohrdrommels Gesicht den Ausdruck höchsten Erstaunens über den Scharfsinn ihres neuen Mieters an, der ihre noch nicht ausgesprochene Absicht so sicher zu erraten wußte; dann sprach sie mit vermehrter Lebhaftigkeit, indem sie zugleich sich anschickte, den Doktor hinabzugeleiten: »'s ist übern Hof, vier Treppen und freilich für 'nen Herrn aus der Beletage 'n bißchen hoch – aber, du meine Güte, vier Hintertreppen müssen sein der kleinen Mieter wegen und die kleinen Mieter müssen sein der kleinen Wohnungen wegen – nicht, Herr Doktor?«

»Gewiß!« antwortete er, der Richtigkeit des Satzes zustimmend.

»Ich dank' Ihnen, Herr Doktor,« sprach die Witwe unterm Gehen, »und es ist mir 'ne große Ehre, daß ein Herr aus der Beletage mir Recht gibt; wirklich 'ne große Ehre, und Sie müssen mir erlauben, Ihn'n das zu sagen.«

Immer schmaler wurden die Stufen der Treppen, die sie zu steigen hatten, und Sälten sah das Licht in der Hand seiner Führerin mit jedem höheren Stockwerk immer kahlere und am Kalkbewurf beschädigtere Wände treffen.

Vor jeder Thür, an der sie vorüberkamen, schien die Armut ihre Anwesenheit bald mehr, bald weniger deutlich bemerklich machen zu wollen, als hätte sie nicht Platz genug drinnen in den Wohnungen und müßte auch draußen sich ausbreiten.

Endlich waren sie angelangt.

Die Vizewirtin wiederholte ihr Anklopfen an der Flurthür nicht, als auf dasselbe kein »Herein« von drinnen geantwortet hatte, sondern öffnete sie ohne Geräusch, trat über die Schwelle und winkte dem Gelehrten, ihr zu folgen. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihn gewiß veranlaßt, den von ihr gestifteten Tellvorhang zu bewundern, an dem sie vorüber mußten; aber heute schien es ihr gleichgültig zu sein, ob ihr Begleiter ihn überhaupt bemerkte, so geschwind führte sie ihn durch das Entree. Sie hatte kaum den ersten Blick in die Wohnstube gethan, als sie an ihrer Stelle stehen blieb und dem Gelehrten zuwinkte ein Gleiches zu thun, indem sie auf den an seinem Tische sitzenden Korrektor hinwies.

»Er ist eingeschlafen,« flüsterte sie.

Doktor Sälten wäre wohl auch ohne den Wink der guten Frau Rohrdrommel stehen geblieben beim ersten Anblick dieser Gestalt, die da das spärliche Licht der Studierlampe beschien, der Kopf ruhend auf dem linken Arme, und der rechte schlaff herabhängend, mit der Feder in der Hand. Wie tief lagen die jetzt geschlossenen Augen unter der gewölbten Stirn, und welch eine Falte furchte sich herab zu den Winkeln des Mundes, die einst die fröhlichen Geister des Lachens und der heiteren Rede so gebildet zu haben schienen; aber sie waren nun längst verscheucht.

»Wie vermag der Finger weniger Jahre ein Menschenantlitz zu verändern, zu verwüsten!« – Warum denn erschrak Doktor Sälten so sehr bei diesem Gedanken! Es war doch ein Wunder nicht: seine Psychophysik wußte ja diese Zeichensprache und wie sie zustandekommt, so trefflich zu erklären. Aber unwillkürlich schlug er den Zeigefinger seiner rechten Hand unter den Daumen; denn ihm war's, als hätt' er auch mitgeholfen, diese Linien da im schlummernden Angesichte zu ziehen, und er müßte es vor sich selbst leugnen. –

»'s ist doch ein gar mitleidiger Herr, der neue Mieter!« dachte die Vizewirtin, als sie vom schlafenden Korrektor nach Sälten hinblickte.

»Ach, du meine Güte,« sprach sie leise zu ihm, »läßt er nicht erbärmlich, Herr Doktor, ist er nicht sehr krank und kann man das länger mit ansehn?«

Ihn rief diese Frage wie aus einem Traum zurück. Wie war er nur hierher gekommen; wie zu dieser Begegnung?

»Ja, freilich, er ist sehr krank,« wiederholte er. Fast wider seinen Willen war er mit der Vizewirtin an den Schlafenden herangetreten. Ein Druckbogen lag vor demselben und eine Handschrift – seine Handschrift. Da standen seine stolzen Worte von dem mündig gewordnen Menschen, der jenseits der Erfahrungswelt nichts hofft, nichts fürchtet, nichts glaubt und im Besitz der wissenschaftlichen Erkenntnis von dem Zusammenhange der Dinge dem Schicksal Trotz bietet. O, an jedem seiner Sätze (er sah es an den häufigen Korrekturzeichen) war Auge und Sinn des Schlummernden festgehalten worden, und die harte Not hatte ihn da hindurchgepeitscht wie durch Dornengestrüpp.

Sälten sah nach der aufgeschlagenen letzten Seite seines Manuskripts. Ha, zum Glück, sein Name stand nicht darunter! Er atmete erleichtert auf, obwohl er doch sonst stolz genug war auf seine Autorschaft. –

Aber welche Wirkung mochten wohl seine Beweisführungen auf diesen ersten Leser seines Buches ausgeübt haben? Nein, er wollte es nicht wissen; wozu? Aber sonderbar, daß er bei der Ausarbeitung nur immer an ein ganz andres Publikum gedacht hatte als dasjenige, welches, etwa so wie hier, in vier Treppen hoch gelegnen Armenwohnungen herbergt.

War das nicht ein frisch beschriebenes Blatt, das da zur Rechten des Korrektors lag, als wäre es eben noch der erschöpften Hand entglitten?

»O, ihr Wissensfanatiker, aus dem Scheiterhaufen all eurer erbarmungslosen Schlußfolgerungen, auf denen ihr so leichtmütig alle Flugwerkzeuge und Stützen des frommen Glaubens verbannt, sprüht doch kein Funken hervor, das frierende Herz zu erwärmen oder in das ins Dunkel gewiesene einen Schimmer der Hoffnung zu werfen!«

Der Gelehrte las den Satz, er las auch die Zeilen, welche darunter standen:

Tot ist tot und hin ist hin,
Wie du auch dich härmst und klagst
Und mit ungestilltem Sinn
Nach verlorner Liebe fragst –
Ach, die Lippe, die verblich,
Macht kein Weinen wieder rot,
Armes Herz, so stille dich –
Hin ist hin und tot ist tot.

Ob das Glück dir schuldig blieb
Alles, was es einst versprach;
Ob das Leid mit scharfem Hieb
Zweig um Zweig vom Baum dir brach –
Ob mit tausend Seufzern du
Einsam ißt dein karges Brot –
Armes Herz, gib dich zur Ruh!
Hin ist hin und tot ist tot. –

Ob an deines Nachens Bord
Du voll bangen Harrens lehnst
Und schon grüßt den sichern Port,
Nach dem müd' du lang dich sehnst:
Ach! die Woge schwillt und dringt
Unaufhaltsam dir ins Boot –
Bis die Flut dich gar verschlingt:
Hin ist hin und tot ist tot!

Andres, war das dein Lied? – Armes Kind!! –

Doktor Sälten mocht' es nicht länger ertragen, hier zu verweilen. Er winkte der Frau nicht ohne Hast, ihr draußen zu sagen, wie mit dem Kranken zu verfahren sein möchte. – »Es ist ein hitzig Fieber im Anzuge,« fügte er bei, »wohl infolge von Erkältung und – hm – (er stockte ein wenig) niederschlagende Gemütseindrücke scheinen hinzugekommen zu sein.«

»Ach!« meinte die Tischlerwitwe, »die Briefe, ich hab's ja gleich gemerkt, wie er sie gelesen hat. Aber wer konnt's denn ahnen – der arme, gute Herr – und grad' zur Neujahrsnacht!«

Damit reichte sie dem Gelehrten zwei dar, die sie mit herausgenommen hatte. »Sie lagen an der Erde, wie sie ihm entfallen waren,« sagte sie »und ich hab gedacht, ich müßt' sie Ihnen zu lesen geben.«

Das eine Schreiben enthielt die im Auftrage des Herrn Kommerzienrat Gundermann ergangene Aufforderung, die Wohnung wegen rückständiger Miete, wenn nicht binnen drei Tagen Zahlung erfolgte, sofort zu räumen; das andre eine Anzeige von der anderweitigen Besetzung der erbetenen Bibliothekarstelle.

»Sie können mir morgen Nachricht zukommen lassen, wie es ihm ergeht,« sagte der Doktor, nachdem er die Briefe zurückgegeben hatte, »vielleicht – hm – vielleicht,« setzte er hinzu, »kann ich sonst etwas für ihn thun. Aber Sie dürfen in keinem Falle meinen Namen nennen, hören Sie wohl, in keinem Falle.«

Frau Rohrdrommel merkte wohl die dringende Betonung, mit welcher diese letzte Forderung gestellt wurde.

»Herr Doktor,« bemerkte sie nur darauf, auf einer der Treppenstufen stillstehend, denn sie leuchtete ihm beim Herabsteigen, »na freilich, ich kann's Ihn'n nicht übel nehmen; Sie kennen ja die Rohrdrommeln noch nicht.«

Sie gingen weiter niederwärts, ohne daß etwas gesprochen wurde.

»Armes Kind! – Was kann er damit meinen?« fragte er plötzlich, als dachte er es nur laut.

Aber die Vizewirtin antwortete: »Ach du meine Güte, lieber Herr Doktor! – Daran hab' ich gegen Sie noch gar nicht gedacht. – Mit–gebracht! Du lieber Gott, ja, wirklich – mitgebracht

Gewiß erwartete sie auf diesen Ausruf, den sie so nachdrücklich wiederholte, eine weitere Frage. Aber sie erfolgte nicht, und so schwieg sie wieder.

Er hatte schon die Thür seiner Wohnung in der Hand, und die Tischlerwitwe hatte sich mit aller Rohrdrommelschen Höflichkeit bei ihm bedankt, als sie auf ihrem Wege zum Hinterhause zurück sich noch einmal rufen hörte und die Frage: »Wie, hm, wie heißt der Herr da oben?«

»Ach, du meine Güte,« antwortete sie, »das hab' ich Ihn'n noch nicht gesagt? Herr Zirbel, Ludwig Zirbel, wenn Sie gütigst erlauben!«

Er hätte freilich nicht nötig gehabt, so zu fragen; er hatte ihn im ersten Augenblick wiedererkannt und er konnte wissen, daß es vergeblich war zu hoffen, er könnte sich vielleicht doch getäuscht haben.

Und wer von uns gleich darauf Doktor Sälten in seinem Lehnstuhl, der doch so bequem und weich gepolstert war, sich hätte unruhig hin und her werfen sehen, der würde schwerlich etwas vom Stolz über jene große That an ihm bemerkt haben, wegen welcher erst vor einer Stunde Professor Päpker ihn mit so beredten Worten beglückwünscht hatte.

In der That, von all der Fülle an geistiger, poetischer, witziger Anregung, wie sie in der Gundermannschen Gesellschaft ihn umgeben hatte, war in seinem Gemüte kein Tröpflein zurückgeblieben zur Erquickung, sondern, soviel er auch dagegen sich wehrte, Ludwig Zirbels Bild stand vor ihm, wie er ihn einst gesehen hatte und dann wieder heute oben im Hinterhause, vier Treppen – über sein Manuskript gebeugt und die Feder in der fiebernden Hand, mit welcher die Glosse dazu geschrieben war. –


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