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Viertes Kapitel.

Des Korrektors Silvester-Abendgang und warum Graciosos Benefiz nicht zustandekam.


Unmöglich können unsre teuren Leser stärker als wir selbst das Gebrechen unsrer Geschichte tadeln, welches ihnen sogleich am Anfang dieses Kapitels vor die Augen tritt. Denn indem wir jetzt den Vorhang wieder aufziehen, so ist es auf der Szene Abend just wie im ersten und zweiten Kapitel. Den ungünstigen Eindruck dieses Mangels an Abwechselung abzuschwächen, dazu wird die Erinnerung wenig helfen, daß wir mit unsrer Erzählung uns durchaus im Wintersolstitium befinden, während dessen zwischen Morgen- und Abenddämmerung vom Tage kaum etwas übrig bleibt; denn um so lieber wird der geneigte Leser einmal ins Helle rücken wollen. Aber das befreundet ihn vielleicht eher mit dem Abend dieses unsers Kapitel-Anfangs, daß es kein gewöhnlicher Abend ist, sondern gleichsam ein verstärkter, weil auch der des Jahres: der Silvesterabend!

Mag er noch so unmerklich herandämmern: der Mensch, ob er nun zum zwanzigsten, zum fünfzigsten oder zum achtzigsten Male in seinen Schatten trete, fühlt doch sein Nahen in den Gliedern: ein warmer Hauch weht ihm entgegen von süßen Erinnerungen oder stärkenden Hoffnungen, und ihm hält er gern still; oder ein kalter von nachwirkenden Schmerzen und stachlichten Sorgen und Befürchtungen, denen das thörichte aus Drang zum Leben das Leben selbst oft versäumende Herz freilich gern aus dem Wege geht. Aber das kluge hält auch hier still und besieht sein Konto, wenn es ihm gleich beim Anblick mancher Zahl vor den Augen flirrt. –

Mit welchen Hoffnungen und Aussichten unserm Zirbel diesmal das neue Jahr winkte, haben wir ja von Gracioso erfahren; desgleichen auch, mit wie schwacher Kraft des Korrektors oft enttäuschte Seele ihnen anfangs nachgeflogen war. Aber es brauchen ja zu des Menschen eignen Sorgen nur fremde zu kommen, so werden jene nicht nur klein vor diesen, sondern die Liebe erhellt auch den Blick in die Zukunft und gibt der Hoffnung neue Schwingen.

So erglänzte auch unserm Ludwig die Aussicht auf die gräfliche Bibliothekarstelle und die Annahme seines Manuskripts durch Sohn und Söhne in einem ganz andern Lichte, seit er neben seinen Fußstapfen ins neue Jahr die kleinen seines Kindes sah; und wenn er bis dahin sich gewöhnt hatte, gleichsam mit gelassenem Mute das Gebäude seines zukünftigen Lebensglücks in Trümmer sinken zu sehen, so stellte er sich jetzt desto eifriger seinen fröhlichen Ausbau vor, seit er nicht mehr allein, sondern mit seinem Rebkauer Findling darinnen zu wohnen gedachte.

Aber auch schon gegenwärtig, wie anders hauste es sich in der Langenstraße Nummer 110, vier Treppen links, seitdem da der kleine Fritz mit eingezogen war. Die äußeren Veränderungen, die unter Frau Rohrdrommels Leitung zur Unterbringung des mitgebrachten Kindes getroffen worden waren (– »ach, Herr Zirbel, du lieber Gott, guter Herr Zirbel – so ein Kind!« Dergleichen Ausrufungen aus ihrem Munde lauteten freilich dunkel genug, indessen ihre begleitenden Gebärden und Blicke hinreichend deutlich merken ließen, daß die gehäuften Ausdrücke der Verwunderung über das Kind und des Mitleids mit ihm eigentlich Zirbeln selber galten und nur aus angebornem Rohrdrommelschen Zartsinn von ihm auf das Haupt seines Schützlings abgelenkt wurden) – also die äußeren Veränderungen in der Junggesellenwohnung, die der neue Mitbewohner veranlaßt hatte, waren das wenigste; nein, er hatte das gesamte Leben der beiden auf einen andern Ton gestimmt. Es schien, als wären mit dem Kinde allerlei fröhliche Hausgeister eingezogen. Besonders auch den Schattenkünstler beherrschten sie. Denn der, je mehr er über die verfrühte Rückkunft des Korrektors und über die betrübten Erlebnisse auf der Reise, zu welcher ja er den Antrieb und Anstoß gegeben hatte, erschrocken war, wußte sich nun um so mehr verpflichtet, den Gewinn der Heimfahrt Zirbels, nämlich das hergeführte Kind, recht groß zu machen und des Korrektors Freude darüber durch seine zu erhöhen.

Und wie hatte er es verstanden, dem Alten und dem Jungen während der beiden ersten vergangenen Tage über das Gefühl des Ungewohnten und Neuen hinwegzuhelfen. Denn erstens, ohne im geringsten den Wert und die Wichtigkeit der schon erwähnten Rohrdrommelschen Hilfe verkleinern zu wollen, so muß doch bezeugt werden, daß Andres Grim in allen Fragen der Kinderpflege und Kinderbehandlung eine imponierende Sicherheit und Zuversichtlichkeit an den Tag legte, die den in diesen Dingen gar zweifelmütigen und ängstlichen Korrektor ebenso erfreute, als sie Frau Rohrdrommel verdroß, die ihre ausschließliche Autorität bedroht sah und ihrerseits den Verdacht schöpfte, der Herr Grim möchte Vorsteher oder wenigstens Wärter einer Kinderpflege-Anstalt gewesen sein. Die Ansicht, die sie über diesen präsumierten Grimschen Lebensabschnitt hegte, entwickelte sie allerdings nicht näher; sie seufzte nur nachdrucksvoll und sagte: »Die armen Würmer!« – Zweitens verstand es der Schattenbildner meisterlich, das Kind zu unterhalten und es durch Herstellung von allerlei Spielwerken zu erfreuen. Schnitzte er nicht aus einem einzigen Stück Holz einen mit ausgebreiteten Flügel- und Schwanzfedern stolz fliegenden Paradiesvogel? bildete er nicht aus einer Eierschale und durch dieselbe hindurch gesteckten Papierstreifen ein andres in der Naturgeschichte noch nicht beschriebenes Vogelwesen? und endlich, abends bei Licht, führte er da nicht dem kleinen Zögling auf seinen Knien beinah den ganzen Besitzstand eines zoologischen Gartens vor, den er mit den Fingern seiner beiden Hände an der Wand abschattete? und die Stimme des jedesmal vorgestellten Getiers lieferte er selber auch dazu.

Kann man sich darum verwundern, daß die beiden schon nach den ersten zwei Tagen sich an das Kind in ihrer Mitte gewöhnt hatten, als gehörte es ihnen seit Jahren zu, und das Kind an sie? auch daß der Korrektor in allem seinen Wesen ermunterter und froher geworden war, als wäre ihm manche Wolkendecke von seinem Himmel hinweggezogen? wie es ihm denn wirklich schien, da er am Abend seiner Rückkehr dem durchs Fenster nach dem Himmel weisenden Fingerlein des Kindes nachsah, als glänzten ihm da oben neue Sterne entgegen oder wenigstens die alten in neuem Glanze. –

Ohne Zweifel, etwas von diesem schimmerte in seinen Augen auch, als er am Neujahrsabend, mit andern Kirchgängern aus dem Gotteshause tretend, sich Andres und dem Kinde zugesellte, die da beide an der Kirchenthür auf ihn gewartet hatten. Ja, es war aus dem unsichtbaren Himmel des Glaubens das Licht, das sein Herz erquickte und von seinem Angesichte widerschien; drei Sterne winkten ihm zu aus dem Wort, das er gehört hatte: Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet! Und eine feierliche Ahnung hatte ihn ergriffen, daß vielleicht all das Harte, durch das er hatte hindurchmüssen auf seiner rauhen Bahn, ihm aus der Hand der allweisen Liebe zugeschickt wäre, damit er desto heilvoller sein Erzieh- und Pflegeamt an dem Kinde üben könnte, mit dem er nun sein Leben verknüpft sah.

Wie ihm der Freudenruf zu Herzen ging, mit dem jetzt das ihn erblickende Kind ihn begrüßte!

»'ßs ist neblig,« meinte Andres, als die drei zueinander gesellt waren, »und gar weit nach Bellonis Saal! Wollen Sie nicht lieber mit Fritzchen umkehren und mich allein gehn laßsen, Herr K'rektor?«

»'s ist ja nicht kalt,« erwiderte der Gefragte, »und ich geh so gern an solch 'nem Jahresabend durch die Straßen. Wir wollen doch auch das Kind sich hier in der Großstadt umsehn lassen. – Nein, nein, Andres, wir bleiben zusammen.«

Unterm Gehen mußt' er daran gedenken, welch ein Geheimnis in jedem Menschenschicksale aus der Zeit in die Ewigkeit wandert, um dort offenbar zu werden, und wie das Gefühl dieser entschwindenden Zeit dem Menschen das Rätsel seines Lebens gleichsam näher rückt. Dann aber sah er hin nach dem froh erstaunenden Gesicht seines Kindes auf Andres' Armen und hörte das helle Lachen des Kleinen über des Schattenspielers Scherze, und er pries die Kindheit, die gleich den himmlischen, der vergänglichen Erde entrückten Wesen schuldlos ganz in der Gegenwart lebt. –

Sie hatten manche Straße durchschritten und waren nun auf einem weiten Platze angelangt, der im Sommer in Rasen- und Gebüschanlagen prangte; jetzt lag er öd vor ihnen und nur spärlich beleuchtet. Durch die Mitte desselben zieht sich ein Arm des Flusses, an dem die Großstadt liegt. Unwillkürlich machten sie Halt auf der Brücke, die sie zu überschreiten hatten; die unten in der Flut sich spiegelnden Laternenlichter der Brücke und das Rauschen des Wassers gegen die Brückenpfeiler fesselten des Kindes Aufmerksamkeit, so daß Andres sich mit ihm über die Brüstung beugte und beide hinabsahen.

Auch der Korrektor lehnte sich ans Geländer.

Wie unaufhaltsam haben da unten die Wellen ihren Lauf, dem ihnen verordneten Zuge folgend! So führen die Jahre des Menschen Leben von dannen, es gehe in sanft gleitendem Zuge oder in brausendem Sturze oder gegen hartes Gestein. Doch lenkt eine ewige Vorsehung jedes Wie und Wohin; und nur das irrende und zaghafte Herz wähnt, auch ihr immer waches Auge sei geschlossen, bloß weil sie schweigt. –

Sah er nicht da am Ufer aus dem dunklen Schatten eine Gestalt sich loslösen, die eilig und dann wieder zögernd die Steinstufen der Treppe dort hinabstieg? Jetzt stand sie dicht vor dem Spiegel des Wassers; jetzt schien sie sich schaudernd fester zu verhüllen und – jetzt sprang sie in die Flut. Schon war sie verschwunden, aber dort tauchte sie wieder empor, ein Angesicht wurde sichtbar und ein schriller Schrei: »Barmherzigkeit!« erscholl nach oben. Der Korrektor wußte nicht, ob er ihn noch gehört hatte; denn schon war er hinab, ihr nach. Ein Arm umklammerte ihn und noch einer, und – wunderbar, was für Kräfte er aufzubieten hatte – er gewann dicht vor der Brücke mit seiner Last das Ufer.

Im Nu war Andres, der kaum Zeit gehabt hatte wahrzunehmen, was vorging, ihm zur Seite und half Zirbeln und der Geretteten ans Land.

Es war ein Weib in der Kleidung der größten Armut, die er jetzt in den Armen hielt, um sie auf die Uferböschung niederzulassen – regungslos.

»Um Gott,« fragte Ludwig angstvoll, »ist sie tot?«

Andrea Gracioso beugte sich über sie und schlug das Tuch zurück, das durchs Wasser beschwert über ihr Gesicht gehalten war. Ein Laut höchster Überraschung entfuhr seinen Lippen, als er einen Augenblick die bleichen Züge betrachtet hatte. Aber augenscheinlich sollte davon der Korrektor nichts bemerken.

»Sie wird leben,« rief er ihm zu, ihn hinwegdrängend, »ich will bei ihr bleiben – ja, ich verlaß sie nicht. Aber Sie, Herr K'rektor, müßsen fort – müßsen nach Haus – ßnell, ßnell – o wie Sie zittern – dort ßteht's Kind. Geßwind, eine Droßke – eilen Sie, ach, eilen Sie!«

Gewiß mehr als das Drängen seines Freundes bewog unsern Ludwig die Scheu, hier bemerkt zu werden und wegen seiner That Worte des Lobes hören zu müssen, dazu, daß er mit dem Kinde einem zufällig nahe kommenden Gefährt zuschritt. Denn schon hatte der Vorfall die Aufmerksamkeit Vorübergehender erregt, die oben auf der Brücke sich sammelten.

Aber der Korrektor litt in keiner Weise, daß ihm dabei der Schattenkünstler behilflich wäre oder nur von der Seite der Geretteten wiche.

»Sie atmet,« sprach der zu sich selber, neben ihr kniend und ihr Stirn und Schläfe reibend.

Jetzt schlug das Weib die Augen auf und suchte mit irrem Blick ängstlich umher. »Wo, wo?« flüsterte sie mit Anstrengung und fuhr dann klagend fort – »nie, ach, nie wieder!«

Vergeblich suchte Andres durch dringende Fragen zu erfahren, wo ihre Wohnung wäre, in die sie zu bringen sein möchte, – er erhielt von der Ohnmächtigen keine Antwort. Was nun mit ihr beginnen?

Da hörte er hinter sich vom Wasser her eine Stimme: »Kommen's, wir willen's nach'n Schipp brengen.«

Als Andres sich umwandte, sah er einen jungen Menschen von ungewöhnlich großer und kräftiger Gestalt; er war eben aus einem Kahn gestiegen, den er ans Ufer herangerudert hatte, ohne daß es vom Schattenkünstler bemerkt worden wäre. Der Riesenjüngling wies, indem er sprach, auf ein Schiff, das unfern der Brücke am gegenüberliegenden Ufer des Flusses vor Anker lag. Rötlich schien aus dem kleinen Kajüttenfenster das Licht herüber.

»Ja, ja, geßwind,« rief Andres freudig zustimmend, »nur daßs sie ins Warme kommt.«

Mit leichter Mühe, als fühlte er die Last nicht, hob der junge Schifferknecht die noch immer Bewußtlose in seinen Kahn; Gracioso folgte, und nach wenigen Augenblicken waren sie bei dem vorhin gewiesenen Schiffe angelangt. Der junge Mensch sprang hinauf, befestigte in großer Geschwindigkeit den herbeigeruderten Kahn an die Planken des Fahrzeugs und hob dann, von unten aus durch Andres unterstützt, das Weib nach sich.

Nach ein paar Schritten standen sie vor der Kajütte. Der junge Schiffer stieß die niedre Thür auf und rief hinein: »Modder, stait up, Jie mött helpen – 't hat 'n Unglück gäwen.«

Eine alte Frau saß auf einer Lade, welche an der einen Wand der Kajütte stand, tief gebückt und beide Hände in ihrem Schoß gefaltet.

Die Greisin sah nicht auf, als sie murmelnd antwortete: »'n Unglück, 'n Unglück – die Welt geht so geschwind – 'n Jahr geht herum und wieder eins – aber 's Unglück läuft immer mit – 's sitzt der Welt mitten im Herzen – ja mitten im Herzen!«

»Ach, Modder,« sagte der Jüngling wieder, der herangetreten war und die Alte sanft auf die Schulter klopfte, indem er zugleich aufs gegenüberstehende Bett hinwies, auf das sie die Gerettete hatten sinken lassen, »kiekt doch da hen – ut't Water treckt – und Jie mött vör Kleeder und Warmnis sorgen.«

»Aus 'm Wasser?« wiederholte die Greisin, sich aufhelfend, und diese Nachricht schien plötzlich all ihre Lebensgeister wachgerufen zu haben, »aus 'm Wasser – und nun triefend und kalt und starr – und die Augen gläsern – und 's Haar ins Gesicht geschwemmt – –«

Es war erstaunlich für Andres, wahrzunehmen, mit welcher Geschäftigkeit sich die Alte herbeimachte, um für die Fremde zu sorgen.

»Ach, 's ist ein Weib,« sagte sie zu ihr herantretend, »so geht, Mannsvolk, und laßt mich mit ihr allein! Ihr taugt da nicht – und wenn's so weit ist, werd' ich Euch rufen.«

»Sind Sie der Sohn der alten Frau?« fragte Andres draußen vor der Kajüttenthür den Jüngling.

»Ne,« antwortete der, »ück bün hier Knecht to'n Rudern und Trecken. Sai hat man 'ne Dochter, uns' Herrn sine Fru, wo hüt utgoon sind up'n Shippervergnögen tun nägen Joahr. Ehr eenzigen Sähn is versöpt mit ehren Ollen up eenen Dag. Sai kann't nich överkrägen und sim'liert so jümmer vor sick.«

Dem Sprechenden hatten diese Mitteilungen augenscheinlich Mühe gemacht. Er schwieg und horchte.

Andres mochte nicht weiter fragen und fand sich auch zu Mitteilsamkeit nicht aufgelegt. Die niedrige Schiffs»bude«, vor der sie standen, die Enge des Raums, auf welchem hier die Menschen lebten – denn dicht umher waren sie von aufgeschichtetem Torf wie von Mauern umgeben – es erinnerte ihn zu stark an eine ähnliche kleine hölzerne Wohnung, in der er ein Stück seines Künstlerlebens zugebracht hatte. Das lag nun mit seiner Seltsamkeit und manchem Abenteuer hinter ihm abgeschlossen. Aber jetzt trat sein Bild ihm wieder vor die Seele wie vorhin, als er dem geretteten Weibe zum ersten Male ins todblasse Angesicht geblickt hatte.

So standen die beiden Männer schweigend nebeneinander.

»Sai snackt!« rief nach geraumer Weile der Schifferknecht mit dem Ausdruck herzlicher Freude in seinem ehrlichen Gesichte und wies mit dem Finger nach der Kajütte. –

Es währte eine Zeit, ehe die Thür wieder geöffnet ward und die Alte den Schattenkünstler hereinwinkte. Andres ließ hinter sich offen, weil er glaubte, der junge Enakschiffer würde ihm folgen wollen; aber der steckte nur seinen Kopf durch die Öffnung, nickte nach dem Bett hin und zog sich wieder zurück, um seine Riesenglieder vor der Thür zu lagern, wie etwa ein treuer Neufundländer Wache hält.

Den eintretenden Andres winkte die Alte neben sich auf die Lade, wo sie wieder Platz genommen hatte und mit im Schoß gefalteten Händen tief gebückt saß, wie zuvor. –

»Sie schläft jetzt,« flüsterte sie, »und 's hat keine Gefahr mehr. – Kennt Ihr sie?«

»Ja; nein,« antwortete er, »so gut, wie nicht – weiß nicht, wer sie ist.«

»Dann fragt sie nicht danach,« fuhr die Greisin fort, »'s Unglück hat sie scheu gemacht, und was sie heut gethan hat, noch scheuer.«

»Hat sie Ihn'n gesagt,« fragte Andres leise, »waßs sie in die Verzweiflung getrieben hat heute?«

»'s waren viel wirre Worte dabei,« antwortete die Alte, »aber 's Unglück macht gelehrig, und man lernt sich so 'was zusammenreimen, wie sich's anspinnt, und hernach folgt eins aus 'm andern, und der Mensch merkt kaum, wie 's ihn fester und fester packt – bis er zuletzt im Abgrund ist; dann erschrickt er und entsetzt sich, aber 's ist meist zu spät, und muß ein End haben, wie 's angefangen hat. – O, die Welt ist voll Unglück und Herzeleid. Gott sei uns gnädig!« –

Wie sie schwieg und sinnend vor sich niedersah, nahm Andres das Gespräch wieder auf.

»Wie sie sich verändert hat,« sagte er, »seit fünf Jahren, da ich ihr zum erstenmal begegnet bin – und seitdem nimmer bis heut abend.« –

»Ja,« bestätigte die Alte, »ich glaub wohl, sie muß eine Schöne gewesen sein, da sie noch ein glatt Gesicht gehabt hat und rote Wangen. O, wär' sie häßlich gewesen und ungestalt, dann wär' die Versuchung nicht kommen, und nicht die Untreu, nicht die Schande, nicht all das Elend hernach und endlich nicht das letzte Unglück, das sie in arge Gedanken gestoßen hat und Unseligkeit!«

»Welches Unglück?« fragte Andres.

»Daß sie ihr 's Kind haben fortgeführt, so sie verborgen hielt, auch vor ihrem Mann, 'nem Trunkenbold und wüsten – und er hat ihr schon lang damit gedroht, er wollt's ausfindig machen, wo's wäre, und holen, sie desto mehr zu plagen, und daß sie ihn wieder aufnähm', denn sie war geflohn vor ihm. – Am letzten Weihnachtsfeiertag ist er dann wiederkommen und hat gesagt, nun wüßt' er 's und er wollt' wohl sehen, wer 's ihm weigern dürfte. So ist er gangen. Da hat sie in Angst und Furcht geschwebt diese ganzen Tage, es könnt' wahr sein, was er sagte; dann aber wieder sich getröst, es wäre bloß gedroht. – Aber gestern in der Früh steht's in 'ner Zeitung, die sie ihr bringen, daß in der Näh vom Ort, wo sie 's Kind hingethan hat, am Wege 'n Mann ist tot gefunden, vom Schlage getroffen und die leere Branntweinflasche neben sich, und nach den Schriften, die sie bei ihm gefunden haben, ist's ihr Mann gewesen. Da hat's ihr keine Ruh gelassen, hat ihr Letztes zusammengenommen – und ist hingereist – heimlich wie immer, nach ihrem Kind zu sehn – denn sie hat auch der Frau, bei der 's war, nicht wollen den Gram machen, daß sie wissen sollt' all' ihre Schmach und Jammer und lieber denken, sie wär tot. – Nun hat sie da das Kind nicht mehr gefunden und nur von Leuten beiher, aber für gewiß gehört, es wär' fortgeführt ganz in der Früh. Da ist sie hingegangen nach 'm Wald und hat gesucht und gerufen, und hat endlich nicht gezweifelt, es sei mit Lumpenvolk davon, oder verirrt oder umgekommen. Danach hat sie keine Ruh mehr gehabt auf einer Stätte, ist wieder hierherkommen, und höllische Gedanken sind über sie gestiegen und 's hat immer in ihr gerufen: du hast dein Kind umgebracht, du bist seine Mörderin und 's ist das Einzige gewesen, daran ihr Herz gehangen hat in der Welt, und da hat ihr der Tod aus 'm Wasser gewinkt. – Ach, Gott helf' uns und allen frommen Christen. Amen!«

Sie hielt inne und deutete mit aufgehobenem Arme nach dem Lager. »Sie ist erwacht,« flüsterte sie.

Ein schwerer Seufzer wurde laut von da her, und zwei Arme streckten sich empor. »O nie, nie wieder soll ich's sehen – ach ewig von ihm verbannt –!«

»Was meint Ihr?« fragte die Alte herantretend und legte eine Hand auf der Klagenden Haupt.

Sie aber entzog sich der Berührung, als bebte sie davor zurück. »O,« sprach sie wieder, »als die Fluten über mir zusammenschlugen und ich versank in die finstre Tiefe; da ließ Gott, an dem ich frevelte und beleidigte ihn so hart, mich noch einmal emporkommen und zeigte mir sein Gesichtlein, so fröhlich, so selig, wie nur die Kinder sein können in seinem Schoß! Da dacht' ich, es wär' seine Gnade, und wollt' mich trösten und ich schrie und wurde gerettet. Aber nun weiß ich: 's ist sein Zorn gewesen und sein gerechtes Gericht, daß er mir noch einmal das süße Bild gezeigt hat im Himmel und die Seligkeit, die ich verloren hab, ehe ich in die Nacht und in die Hölle sänke mit meinen Sünden!«

Sie hatte sich aufgerichtet unter ihren Wehklagen und war Graciosos gewahr geworden. Ihr angstvoller Blick haftete an seinem Gesicht, als würde sie zu alten Erinnerungen zurückgerufen. Er suchte ihr zuzureden: »Frau,« sagte er in seiner zögernden Weise, »wir sollten so nicht reden; wir sollten denken – weil Gott uns am Bösen verhindert hat, so meint er's ja noch gut mit uns – und wir sollen uns wieder ein Herz zu ihm faßsen und – getroßst sein.«

»Ach,« rief sie wieder mit Heftigkeit, »meine Schuld ist zu groß und mit meinem Elend ist sie immer größer geworden. Wüßten Sie, was ich gethan hab! O, mein süßer Knabe ist im Himmel, aber ich bin schuldig an seinem Tod – und werd' ihn nie wieder sehen – nicht hier, nicht dort!«

Sie verbarg schluchzend ihr Angesicht in ihre beiden Hände. Andres schnitt ihr Jammer durchs Herz; ach, er fühlte sich so ungeschickt, sie aufzurichten, und wünschte es doch so sehr.

»Frau,« begann er wieder, sich näher vor sie stellend, »haben wir uns nicht vielleicht ßon gesehn, als wir zum Beißspiel in der Rebkauer Heide zur Herbstzeit ßpät abends, – als wir ums Feuer saßen und die Trollmann Sie heran nötigte und hernach – Sie wissen – war's 'n Glück, daß wir Sie zwangen, die Nacht bei uns zu bleiben –«

»O daß ich nicht gestorben bin in jener Nacht und umgekommen in der Einsamkeit!« rief sie hoch aufgerichtet.

»Haa, Frau,« sprach Gracioso wie zuvor, »nein, gewiß, wir sollten so nicht reden – sollten ans Kind denken, was aus dem geworden wär!«

»O armer, armer, süßer Knabe!« Ein Laut brennendsten und hoffnungslosesten Schmerzes begleitete den Ausruf.

Der Schattenkünstler hatte Mühe, Stimme für seine Worte zu finden, vor Mitgefühl. Er erfaßte zutraulich die Hand der Unglücklichen mit seinen beiden. »Frau,« sagte er, »wenn Ihn'n nun jemand sagte, Ihr Kind lebt, 's ist fröhlich und friß, und Sie sollen's sehen – ja mit diesen Ihren leiblichen Augen und – umarmen auch – ja – und dieser jemand sagte nicht bloß so, sondern brächt' Sie auch zusammen mit ihm – –«

Das Weib starrte ihn an, wie er so sprach, und die in ihren Wangen aufsteigende Röte bezeugte den Sturm der Gefühle in ihrem Herzen.

»Ah!« fuhr Andres fort, »und wenn nun dieser jemand zum Beißspiel ich wäre, der heut 'n Benefiz versäumt, aber dafür 'ne arme Person trößten kann und wieder zum Rechten helfen, wozu er ja in Worten so gar ungeßickt ist – aber doch 'ne Nachricht hat, die grad' nur er bringen konnte, eh?«

Er suchte zu scherzen, je gerührter ihm ums Herz war, aber es mißlang ihm völlig. Und jetzt, du unnützer, ungeschickter Gracioso, glaub' ich gar, als du des Weibes heiße Thränen auf deine große Hand tropfen fühltest, weintest du selber mit, und es dauerte eine ganze Weile, ehe du weiter reden konntest.

»Ach, Frau, nicht doch, nicht – wir müßsen ruhig werden – sind noch viel zu matt – wir müßsen uns erholen – und dann solche Reden dürfen wir nicht mehr führen.« –

Als Andres mit der Geretteten die Kajütte verließ, um sie in ihre Wohnung zu führen, die sie ihm bezeichnet hatte, war manche Stunde der Nacht vergangen. Der am Abend trüb gewesene Himmel war klarer geworden, und hier und dort glänzte ein heller Stern, feierlich, freundlich und friedlich wie immer.

Seine Begleiterin sah empor und Andres fühlte, wie sie zitterte an seinem Arm unter dem Anblick.

»Ich hab heut' 'nen Sßpruch gehört,« sagte er, »ich weiß nicht ihn außzulegen; aber er liegt mir tief im Sinn und ich glaub, ist allweg gut ihn zu behalten. Er heißt: › Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet.‹«

Den Ruderknecht aber, der die beiden an Land gebracht hatte, rief die Alte, als sie wahrnahm, daß er sich wieder vor der Kajütte befand, hinein.

»Krischan,« sagte sie, »'s ist wahr, was ich gesagt hab', 's Unglück sitzt der Welt im Herzen, und sie schüttelt's nimmer ab. Aber wir wollen nicht daran bloß denken und drüber grübeln, sondern an Gott glauben, der's in seiner Gewalt hat. Hier, nimm's Buch, setz dich zu mir und lies, wo's steht: ›Nun laßt uns gehn und treten.‹«

Der Aufgeforderte begann, wenn auch langsam und öfters stockend, doch mit vieler Andacht zu lesen, wie ihm geheißen war. Als er an den Vers kam:

Gelobt sei deine Treue,
Die alle Morgen neue,
Lob sei den starken Händen,
Die alles Herzleid wenden,

so blieb er mit dem Finger auf der Stelle halten, sie nicht zu verlieren und hielt inne:

»Modder,« sagte er dann, »ick denk, dütt is ok hüt wahr wor'n hier in uns' Bude.«


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