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Erstes Kapitel.

Neujahrshoffnungen in ›Langestraße Nr. 110‹, Hof, vier Treppen links.


Letzte Zeile von unten: das ›u‹ in ›und‹ steht verkehrt, fürs Komma hinter ›folgt‹ ist ein Kolon zu setzen, ›ein‹ gehört in die vorletzte Zeile. – Der Korrektor schrieb die nötigen Zeichen an den Rand und wandte das Blatt um. Während er es noch zwischen den Fingern hielt, durchflog er schon mit seinen Augen die neue Seite. Ein Wald von Setzerfehlern starrte ihm entgegen. Er fühlte sich übermüdet und ihn fröstelte; der Zeiger auf seiner silbernen Spindeluhr vor ihm zeigte auf zwölf. Aber noch mußten bis morgen früh drei Bogen korrigiert sein; also geschwind die Feder wieder eingetaucht und den Weg gebahnt durch den Fehlerwald vor ihm. Aber so heldenhaften Sinn sonst auch die geschickt geführte Schreibfeder verleihen mag, wie nur dem Ritter sein scharfes Schwert: Ludwig Zirbel sank unwillkürlich zurück auf seinen Holzstuhl zu einer kleinen Erholungspause, einer ganz kleinen. –

Der Korrektor blickte auf, über seine Studierlampe hinweg, deren Licht durch einen papiernen Schirm (er sparte zugleich die längst zerbrochene Glasglocke) auf dem Tische mit den Korrekturbogen gesammelt blieb und den übrigen Raum der Stube in gefälligem Dunkel ließ. Gefällig nennen wir dies Dunkel, weil es die große Armut, die hier zu Hause war, mit seinem Mantel verdeckte, gewiß mit dem Mantel der Liebe; denn zwar auf goldumrahmten Bildern nimmt solch eine Dachstubenwohnung sich wohl ganz malerisch aus, aber welcher respektable Leser möchte in der Wirklichkeit daran seine Freude haben! Übrigens war dies Dunkel von jener beklemmenden Art, in welchem kleine Leute nicht schlafen wollen und große durchs Fenster nach einem Lichte suchen in der Ferne oder nach einem Stern am Himmel.

Ludwig Zirbel war diese brütende Dämmerung gewohnt, sie war bei ihm zu Gast die ganze lange Winterszeit, vom frühen Nachmittag bis tief, tief in die Nacht.

Dort auf dem Leinentuche, das über die zur Kammer führende Thüröffnung gespannt war, huschten noch immer die Schatten hin und her, wuchsen groß und wurden klein, wandelten sich und verschwanden, um ihr Spiel von neuem zu beginnen. Jetzt sah der Korrektor eine kleine Figur von ungewissen Umrissen erscheinen, sie ward größer und zeigte sich als eine gespenstische Gestalt, die endlich unter seltsamem Sichbeugen und In-die-Höhe-schnellen zu riesiger Größe anschwoll, als träte sie aus der Leinwand heraus: das Ungetüm rollte seine Augen, öffnete und schloß seine Kinnlade mit emporstarrenden spitzen Zähnen und fuhr drohend mit seinen Krallenhänden auf und nieder. Da aber schwebte, wie aus dem Hintergrunde sich nähernd, eine Kindergestalt heran und begann den Riesenschatten mit Blumen zu bewerfen; der wehrte sich eine kleine Weile, schrumpfte dann in sich selbst zusammen, ward blässer und verschwand. Alsbald begann das Flügelkind, wie um seine Freude über den gewonnenen Sieg auszudrücken, einen zierlichen Tanz, den es mit mehrfachen Verbeugungen gegen die Szene schloß, als säße da nicht der ermüdete Korrektor hinter dem grünen Lampenschirm, sondern ein zahlreich versammeltes Publikum.

»Was stellt denn das vor, Andres?« fragte Ludwig Zirbel gegen die verhängte Kammerthür hin.

Sofort öffnete sich seitwärts der Vorhang, und ein Gesicht lugte in die Stube: diesmal kein Schatten, obwohl die Schritte und Bewegungen der Person, zu der es gehörte, durchaus geräuschlos blieben; aber es war ein wirkliches, leibhaftiges Menschenangesicht mit schwarzen, buschigen Brauen und schwarzem, kühn aufstrebendem Schnurrbart. In der Stirn hing nicht unmalerisch eine geniale Künstlerlocke, und die vorstehende Adlernase hatte etwas Findiges. Es ist nicht unwahrscheinlich, obwohl nur eine Vermutung unserseits, daß Columbus eine solche Adlernase gehabt hat.

»Ach, Sie haben dem Sßattenspiel ßugeßaut, Herr K'rektor?« fragte das Gesicht mit vergnügtem Nicken; und wenn wir nicht verschweigen, daß die Stimme, mit der die Worte gesprochen wurden, ziemlich dünn klang und kreidig, desgleichen auch in der Aussprache der Zischlaute behindert war, so bitten wir den teuren Leser ausdrücklich, daraufhin noch nicht mit seinem Urteile über den Gesamteindruck des Besitzers dieser Stimme abzuschließen, das als zu ungünstig später zurückgenommen werden müßte, sondern noch damit zu warten, bis der ganze Andres Grim, in der Künstlerwelt unter dem Namen Andrea Gracioso bekannt, ihnen vorgestellt werden kann.

In diesem Augenblick geht es noch nicht an, denn ohne des Korrektors Frage beantwortet zu haben, war Stirnlocke, Adlernase, Schnurrbart verschwunden und die Wand wieder vor die Öffnung gezogen. Daß dahinter alles still blieb und Signor Gracioso, wenn er schattenbilderte, dem Ohre selber wie ein Schatten unbemerkbar blieb, darüber wunderte sich der Korrektor längst nicht mehr; wohl aber war er überrascht, als jetzt in der Mitte des Vorhangs die Schattenfigur eines Engels sichtbar ward, der schwebend über sich ein Schriftband hielt mit der Zahl »27« und »Ich gratuliere!« – Ja, der 27. Dezember, des Korrektors Geburtstag, war angebrochen seit Mitternacht! Wie wenig hatte er vorhin daran gedacht, als er nach seiner Spindeluhr blickte. Aber nun einmal daran erinnert, riß wie auf ein Zauberwort vor ihm der graue Nebel der öden Wirklichkeit auseinander, und alte, süße Erinnerungen tauchten vor ihm auf, nicht einer sorglosen Vergangenheit, denn die war niemals sein gewesen, aber einer solchen, in der sein noch unenttäuschtes Herz irdische Hoffnungen so glänzend wie himmlische, und himmlische so nahe wie irdische vor sich gesehen hatte.

»Daß du dir den Tag behalten hast, Andres,« sagte er gerührt zu seinem noch immer unsichtbaren Stubengenossen, »ich glaub' gewiß, ich hätt' ihn vergessen.«

Gleich darauf ward der Vorhang vor der Kammerthür entfernt, und der hervortretende Gratulant wiederholte persönlich seinen Glückwunsch, indem er dem Korrektor über seinen Tisch die Hand schüttelte.

»Hatt's mir eigentlich für morgen früh vorgenommen,« erklärte er, »weiß ja, Sie sind des Nachts über der Arbeit nicht gern gestört. Aber wie ich sah, daß Sie zu End mit waren, dacht' ich, 's könnt ebensogut jetzt geßehn, weil grad Mitternacht vorbei ist und mein Wunß sich gut ans Sßattenßpiel ansließt.«

»Ach, lieber Freund,« und der Korrektor wies dabei mit einem schwachen Lächeln auf die vor ihm liegenden Druckbogen, »zu Ende bin ich freilich heut nacht noch lang nicht – aber du hast mir noch nicht gesagt, was dies hübsche Spiel bedeutet, dem ich da zugesehen habe.«

Des Korrektors Wohnungspart war, figürlich gesprochen, ein Doppelwesen. Zwischen Gracioso und Andres Grim war kaum eine andre Gemeinschaft, als daß sie in einem Leibe hausten und also in den Geburts- und Polizeilisten unter einer Nummer zu finden waren. Ja selbst an dieser Leiblichkeit konnte man den langen Schwanenhals (nach Franz Moorschem Muster), das schwarze Lockenhaar sowie die überhangenden buschigen Brauen und den trutzigen Schnauzbart leicht dem Künstler Gracioso und wieder seine zögernde, beinah ängstliche Sprechweise und den überaus sanften, fast scheuen Blick der kleinen tiefliegenden blauen Augen dem Andres zusprechen. In Wahrheit, als Künstler unter Künstlern fühlte er sich groß, und wenn er alle sieben freien Künste nach dem Wert hätte nennen sollen, den er ihnen beimaß, so würde er jederzeit ohne Zögern die seinige obenangestellt haben, deren ersten Buchstaben (hierin dem Demosthenes gleichend), er nicht aussprechen konnte: die Schattenspielkunst. Ihr diesen ersten Rang zu erobern und den verwandten Berufsgenossen gegenüber zur Anerkennung zu bringen, war das beständige Ziel seines Strebens und die treibende Kraft seiner künstlerischen Ansprüche, von denen er durch keinen Widerspruch oder Mißerfolg sich das geringste abdringen ließ – als Gracioso. Aber als Andres Grim kam ihm seine Kunst und alles Bemühen, sie zur Vollkommenheit zu heben, gar klein vor; und wenn er mit andern Leuten rings in der ernsthaften Welt, die etwas »Nützliches« gelernt hatten, sich in eine Reihe stellte, so schrumpfte vor ihm sein künstlerisches Ich zusammen, als sähe er es durch das Objektivglas eines Fernrohrs. Daher auch begehrte er an der Mahlzeit des Lebens keinen bessern oder größern Platz, als eben notdürftig hinreichte, um mit dem Löffel hinüberzulangen, und selbst einen Gast, der sich für drei am besetzten Tische breit machte, hinwegzudrängen, um selber mehr Raum zu gewinnen, kam unserm Andres gewiß nicht in den Sinn. In Wahrheit, er machte von seinem Verdienst und seiner Würdigkeit nicht mehr Geräusch vor der Szene, als mit seiner Kunst hinter dem Vorhang; und wenn wir uns den Eingang zum Tempel der Fortuna unschwer mit einer spitz zulaufenden Barriere geschützt vorstellen können, welche aus dem nachdrängenden Haufen nur immer einen der Vordersten hindurchläßt, so stand Andres Grim, obwohl über die Jugendjahre hinaus, noch gar weit im Hintertreffen, weder schiebend, noch geschoben. Denn er ließ jeden Nachkömmling, der seine Ellenbogen brauchte, bescheiden an sich vorbei, als Würdigeren. Leider erblickte er auch den, auf dessen Haupt er so gern alle Ehren und Wonnen der Welt gehäuft gesehen hätte, ach noch gar fern vom Tourniquet: Ludwig Zirbel, den Korrektor. Mit grenzenloser Bewunderung blickte der Schattenspielmann an ihm hinauf, und wenn er ihn über gelehrte Bücher studieren sah, deren Titel er nicht einmal verstand, und schreiben oder lateinische, griechische, hebräische Druckbogen korrigieren, so ergriff ihn ein freudiger Stolz, daß er gerade auserwählt war, des Gelehrten Stubengenoß zu sein, und gewiß: lieber saß er seinem Freunde gegenüber stundenlang unbeweglich auf seinem Schemel, wie ein römischer Senator auf seinem Elfenbeinstuhl, als daß er es über sich gebracht hätte, den in seine Arbeit vertieften Korrektor durch einen Laut zu stören; und nur seiner Kunstübung gab er sich lautlos in solchen Stunden zuweilen hin; denn seine Schatten blieben lautlos und er dabei auf seinen Filzsocken auch. Daß in solchem Falle seine Schattengestalten des Korrektors Aufmerksamkeit auf sich lenken könnten, daran dachte er nicht; denn zwischen der Welt, in welcher der Gelehrte verweilte, und der seinigen lagen nach seiner Schätzung Siriusfernen.

Um so freudiger war er vorhin durch des Korrektors Frage nach der Bedeutung seines zuletzt ausgeführten Schattenspiels überrascht worden, und das eben jetzt gehörte Lob, welches seine Kunstleistung »hübsch« nannte, that ihm gar wohl.

»Hat's Ihn'n g'fallen – wirklich?« sprach er vergnügt, »'s ist meine eigne Idee – Sßlußpiece zu Neujahr, wenn ich werd mein Benefiz haben – die Hälfte der Nettoeinnahme, wissen Sie – 's war mir eigentlich die Bruttoeinnahme ausgemacht, aber der Direktor sagte, Mr. Philips mit den Wandelbildern hätt' auch nicht mehr verlangt, und der braucht doch zu seinem Fach 'nen teuren Apparat – 'nen Apparat, ich bitt ßön, Herr K'rektor, die Kunst messen nach 'm Apparat!« –

Er strich sich seine Künstlerlocke in der Erinnerung an diesen Ungedanken mit einigem Ungestüm zurück, seine Brauen zogen sich finster zusammen, und sein Schnurrbart schien sich zum Ausdruck des Unwillens zu bäumen. Das war der in seinem Künstlerstolz verletzte Gracioso, der jetzt vor dem zu ihm aufsehenden Korrektor stand. Aber Andres hatte ihn bereits wieder vollständig entthront und verdrängt, als der Sprecher blinzelnd fortfuhr: »Hm – ja – 's ßtellt also das alte Jahr vor, als wie zum Beispiel: mit seinen Sorgen und Widerwärtigkeiten und Ängsten – 's wirft damit 'nen Sßatten riesengroß dem Menßen vor seinen Weg, daß er am liebsten nicht weiter möcht' – aber 's neue Jahr kommt, vertreibt den Sßatten und die Furcht, und die Hoffnung kommt wieder und Mut. –«

»Meiner Treu, sinnreich ausgedacht und ein Neujahrswunsch, der gewiß für viele taugt!« sagte der Korrektor mit Lebhaftigkeit, »und ich wünschte, lieber Andres, solche Hoffnungen machte das neue Jahr auch an dir wahr.«

Aber der Künstler wies solche Anwendung auf sich mit Nachdruck zurück: »Was ist an mir gelegen,« sagte er abwehrend, »und mei'm Glück. So'n Kerl, der zu nichts nutz ist in der Welt und hat nichts Ernsthaftes gelernt in seinen jungen Tagen! Nein, Ihn'n hat's gegolten, daß nun die böse Zeit zu End ist mit all der Plag' und 's kommt 'ne bessere, und die Leut' erkennen, was sie an Ihn'n versäumt haben und machen 's nu doppelt gut! – O 's wird 'n gut Neujahr geben!« Und vor Freude über das glänzende Zukunftsbild, das er vor sich sah, schlug er mit dem Rücken seiner rechten Hand in die linke, denn Andres war lebhaft von Gebärden.

Doch der also Ermunterte schien zu solchen Hoffnungen wenig aufgelegt: »Ich hab' so manchmal in meinem Leben gedacht, dies oder das müßt' anders werden, so oder so müßt' es kommen, aber dennoch blieb es wie es war oder wurde noch schlimmer. Drum hab' ich mich gewöhnt, auf nichts mehr zu rechnen. Man muß lernen zufrieden sein, Andres. Mit deinen fünfundzwanzig Jahren kann einem wohl noch das Herz klopfen von großen Erwartungen – aber ich bin nun fünfunddreißig, Andres!«

»Ah, ah, freilich,« rief der Angeredete eifrig, »'s hätt' längst kommen müssen 's Glück und die Ehr', die Sie verdienen – aber 's ist noch lang nicht zu spät. O, ich möcht' nur die Gesichter sehn, die all die Gelehrten machen werden, wenn Ihr Buch wird gedruckt sein, und wenn sie kommen werden und Ihn'n hier 'ne Stelle an hohen Sßulen antragen und da eine, und Sie brauchen nicht mehr so fürs Geld die Nacht über zu sitzen und so mühselig und in Sorgen zu leben.«

»Ja, mein Buch!« Ein Rot der Erregung kam auf des Korrektors Wangen, indem er sprach, und seine Stimme zitterte; »mein Buch! Wie war mir's doch so eigen, das Manuskript aus der Hand zu geben – ich dacht' immer, ich müßt' noch dran bessern. – Es wächst einem ans Herz, solche Arbeit, mit der man zehn Jahre lang umgegangen ist. – Du hast das Paket doch richtig abgegeben, Andres?«

»Beim Sßef selber!« murmelte Gracioso, und dies schien ihm eine stolze Erinnerung zu sein, daß er solche wichtige Sendung auszuführen gehabt hatte. »Ja, bei Herrn Sohn und Söhne selber, der gerad im Kontor war. Er las Ihren Brief und fragte mich, ob Sie der Korrektor Zirbel wären; da sagt' ich: Ja derselbe, und wollt' ihm mehr von Ihn'n erzählen und dabei einfließen lassen, wie's so bei uns hergeht – aber er unterbrach mich und sagte, es wäre ßon gut und übers Werk würd' er einen Sachverßtändigen befragen und Beßeid danach geben, ob er's brauchen könnte!«

»'s ist nun schon über drei Monat her,« begann der Korrektor wieder, »und wir haben noch keinerlei Nachricht. Es würde mir doch schwer ankommen, ich fühl's, wenn man's zurückwiese.«

»Nur das denken Sie nicht, Herr K'rektor,« bat dringend Gracioso, »nur das nicht,« und er setzte hinzu: »bin gestern dort gewesen nachzufragen, wie's ßtünde; denn ich dacht', wie ßön's wär, wenn ich Ihn' heut zu Ihrem Geburtstag könnt' die Nachricht bringen und vielleicht die Bezahlung dazu. Aber sie haben mir gesagt, bis Neujahr, so lange müßten Sie noch warten. – Drum sag' ich,« und er strich sich dabei voll Freude seinen Bart über den Lippen, »das wird diesmal ein fröhlich Neujahr geben.«

»Aber wenn sie meine Schrift nicht mögen und schicken sie zurück, und die Miete muß bezahlt werden und die Holzrechnung auch!?« Der Korrektor begleitete die Frage mit einem gar traurigen Blick.

»Ei, dann ist noch die Bibliothekarstelle beim Grafen Ihn'n zugesagt – so gut wie sicher – und für Miete und alles, bleibt da nicht mein Benefiz? Nein, nein, Herr K'rektor; freilich 's kommt 'nem Kerl als wie z. B. ich bin, nicht zu, Ihn' zu widerßprechen – aber ich bleib dabei: 's läßt sich alles gut an, 's läßt sich zum Besten an zum neuen Jahr diesmal, und mein Sßattenspiel hat justement gepaßt auf Sie, grad' auf Sie!«

»Wohl, wohl,« sprach der Korrektor, und ein eigner Glanz war unter den Worten in seinem Blicke, »der Mensch soll aus seiner Seele zu keiner Zeit die lichten Hoffnungen tilgen. Mag er lieber seine Sorgen und Ängste als nichtige Schemen ansehen, mit denen ohne Not sein thörichtes Herz die künftigen Tage verfinstert. – Aber freilich, Andres, auch deine Hoffnungsbilder waren Schatten und schwebten spurlos vorüber gleich den schreckhaften. – O,« fuhr er nach kurzem Sinnen bewegter fort, »ich glaub' wohl, mein lieber Andres, in deiner Kunst steckt eine große Weisheit, gar nützlich zu lernen für ein Geburtstagskind, sonderlich eins, das sich alt werden fühlt, unser Leben mit all seinem Lärm und seiner Unruhe, seinen Abgründen und Wonnehöhen in solchem Bilde zu erkennen: wenn's aus ist, so ist's ein Schattenspiel gewesen.«

Er stützte, während er so sprach, vornüber gebeugt die Stirn in seine Hand. Seinem Gegenüber fiel es auf, wie hager und durchsichtig sie war.

»Ich kann's so ßön nicht in Worte bringen,« begann er munter, »denn Sie wissen, ich hab' keine Sßul gehabt und bin zum Lernen nicht angehalten. 's ging auch nicht, denn wir sind immer herumgereist im Lande – Andres,« und er schlug sich lachend auf den Mund, »redst du nicht grad' wie ein Faselant, als ob's nur an der Sßul' gelegen hätt', daß du auch wärst was Ordentliches geworden, und 's fehlt dir doch gänzlich hier im Kopf. Nein, gewiß, Herr K'rektor, 's ist nicht die Lehre gewesen, die mir gefehlt hat, und mein armer Vater hat keine Sßuld – ha und 's ist närriß, daß ich Ihn'n mit meinen Gedanken kommen will und sie stellen neben Ihre; aber wenn ich's doch sagen soll: ich hab' mir manchmal auch allerlei gedacht hinterm Vorhang; als wie z. B.: da ist eine Geßtalt an der Wand, jetzt klein wie 'n Zwerg, dann wächst sie zum Riesen, daß die Kinder ßreien möchten, jetzt duckt sie sich, jetzt will sie zur Deck' hinaus – ist da nicht auch 'ne Moral dabei?«

»Welche? sag's Andres.«

»Hm, ja, von der Welt, wenn man's nimmt, wie's drin zugeht! Der eine macht sich drin riesengroß und meint, daß er seinesgleichen tief unter sich sieht; 'n andrer ist gering und wird veracht' wie 'n Sßuhwiß. Aber 's ist alles nur, wenn man's von außen sieht. Am End ist einer wie der andre, Herr K'rektor.«

»O ja, Andres! Hinterm Vorhang wird sich die Welt anders ausnehmen, wenn aller Schein und Trug vergangen ist und das Lichtlein verlischt, in dem wir diese kurze Lebenszeit hindurch auf und nieder schweben, gleich deinen Schatten zwischen Freud' und Schmerz, Furcht und Hoffnung, Irrtum und Wahrheit; aber dann, ich halt' dran fest trotz allem, wird ein ander Licht aufleuchten, das uns schon jetzt entgegenwinkt, wenn man's von Herzen sucht, von dem geschrieben steht: ›In deinem Lichte sehen wir das Licht.‹«

Andrea Gracioso war von seinem gelehrten Stubengenossen gewohnt, daß er stillen, ernsten Wesens war; was er eben gehört hatte, ging in einem so feierlichen Tone, und er hatte doch ein fröhliches Geburtstagsgespräch beabsichtigt. Darum, als jetzt der Schattenkünstler den Korrektor sich wieder zu seinen Druckbogen bücken sah, die unterbrochene Arbeit aufs neue zu beginnen, so konnte er's nicht übers Herz bringen und seinen Erheiterungsversuch so enden lassen.

Die Stube Langestraße 110, Hof, vier Treppen links war gewiß, wie Frau Rohrdrommel, die im Keller wohnende Tischlerwitwe und Vizewirtin jedesmal sich ausdrückte, wenn sie neue Mietslustige hinaufführte, ein »allerliebstes Käfterchen«; aber wie schon durch diese Lobspende angedeutet war, von dem Vorzuge einigermaßen hinreichender Räumlichkeit desto völliger ausgeschlossen. Daher als vor zwei Jahren zu dem einen einzelnen Herrn, der gerade gekommen war, sich die Wohnung zu besehen, zufällig ein zweiter mit gleicher Absicht sich eingefunden hatte, und dann nach kurzer Beratung beide mit der Erklärung vorgerückt waren, sie wollten die Wohnung gemeinschaftlich mieten, so hatte Frau Rohrdrommel, wie sie sich ausdrückte, anfangs gar nicht gewußt, »wie sie beraten war«, aber doch dem Vorschlage nachgegeben, 1) weil sie dem kleinen Herrn, der ihr gleich so apart und gebildet vorgekommen war, nichts hätte abschlagen können, 2) weil sie vom Wirte, der das Haus recht bald wünschte trocken wohnen zu lassen, Weisung empfangen hatte, in der Aufnahme von Mietsleuten möglichst weitherzig zu sein. In der That hatte der lange Herr mit seinem spitzen Gesicht und den buschigen Augenbrauen, von denen die Vizewirtin nie dahinter kommen konnte, »wo sie ihn hinthun sollte,« das Menschenmöglichste vollbracht, die Wohnung für zwei einzurichten. Außer des guten (stehendes Beiwort der Frau Rohrdrommel) Herrn Zirbels Büchern war ja freilich wenig unterzubringen gewesen, das Platz brauchte. Aber anderseits ward er durch die ingeniöse Idee des langhalsigen Herrn Grim (wenn er mit seinem Schlapphut über dem Räuberhauptmannsgesicht ankommt, kann man sich vor ihm fürchten, sagte Frau Rohrdrommel) noch empfindlicher beschränkt, die darin bestand, die »Küche«, durch welche der Zugang zur Stube führte, in ein »Entree« umzuwandeln und zu erheben, in welchem zugleich des Korrektors Lagerstatt aufgeschlagen ward. Anfangs hatte die Vizewirtin dieser Promotion, welche sie durchaus für eine solche nicht gelten ließ, entschieden widerstrebt aus allgemeiner grundsätzlicher vizewirtlicher Abneigung gegen jede Neuerung im Hause, wie auch weil sie im besondern dem »Menschen« nicht traute; dann aber nachgegeben, da sie dem guten Herrn Zirbel, der immer so »einfach« war und so »besonders« zugleich, seine eigne Schlafstätte gönnte, und war endlich selber zur würdigeren Bewerkstelligung der Küchenmetamorphose behilflich gewesen. Sie hatte nämlich, um das Bett zu verhängen, ein großes Stück bunten Kattun hergegeben, auf dem etliche hundert Mal Tell (an der Armbrust kenntlich) und sein Sohn zu sehen waren, jedesmal auf einer fruchttragenden Weinranke stehend. Dieser Kattun stammte noch aus der Junggesellenhabe des einstigen Herrn Rohrdrommel (sie wußte nicht mehr genau, wie er zu dem Stück gekommen war – er hatte es ihr erzählt – aber sie konnte sich wirklich nicht mehr besinnen) – »ein guter Mann, wissen Sie, Herr Zirbel und Herr Grim, und ich hätte auf der Welt mir keinen bessern wünschen können, wenn er nur nicht in schlechte Gesellschaft gekommen wäre – Sie wissen, was ich meine (Erhebung eines unsichtbaren Glases mit der Hand zum Munde), – ja, er hat wirklich schlecht an mir gehandelt, grundschlecht, und wenn ich nicht alles zusammengehalten hätte, so wär' von der ganzen schönen Wirtschaft auch nicht das geringste übrig geblieben.« –

Weil nun überhaupt die Empfehlung und Anbringung von Vorhängen eine ästhetische Spezialität der ausgezeichneten Dame war, so nimmt der geneigte Leser, welcher einen guten Teil des eigentlichen Wohnraumes unsrer beiden Freunde gleichfalls mit einem Vorhange verdeckt und umzogen sieht, mit Recht an, daß derselbe auf Rohrdrommelsche Einwirkung zurückzuführen war, wie nicht minder die vikarierende Kücheneinrichtung hinter diesem Vorhange. Ihr Kern und Stern, gleichsam der Ausbund ihrer Vorzüge, war ein sogenannter »Hund«, ein zwerghaftes Feuerungsgerät, ebenso als Ofen wie als Kochherd verwendbar, dessen Tugenden im einzelnen aufzuzählen und klar zu machen das Lieblingsthema der wirtschaftlichen Belehrungen war, welche die erfahrene Tischlerswitwe jungen »Anfängern« immer zu spenden bereit war.

Hinter diesem Vorhang verschwand der Schattenkünstler, als er den Gelehrten sich wieder zu seiner nächtlichen Arbeit schicken sah. Nach kurzer Weile trat er wieder hervor mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern, die er, vorsichtig etliche Hefte und Bücher beiseite schiebend, auf den Tisch setzte, ohne daß der fortarbeitende Korrektor vom Thun seines Stubengenossen etwas bemerkte. Nicht weniger geräuschlos brachte Gracioso aus der Kammer einen versteckt gehaltenen blühenden Heliotrop herbei, dem er ebenfalls einen Platz auf dem Tische gab. Wie verwundert und überrascht sah der Gelehrte auf, da er jetzt die Festgaben wahrnahm!

Der Schattenkünstler füllte die Gläser. »Zum fröhlichen Neujahr, Herr K'rektor!« rief er, mit einem derselben seinem Gegenüber zuwinkend.

Der Aufgerufene ergriff das andre. »'s ist noch nicht da, lieber Andres,« sprach er.

»Aber der Geburtstag, der's bringen wird.«

»Nun denn, so sei's,« sagte der andre, und die Gläser klangen zusammen. »Wie lang ist's her, daß mir ein Geburtstagstisch gedeckt ward! O Andres, bleib mein Freund und jetzt bei diesem Trunke komm und nenne mich ›du‹, laß uns Brüder sein.«

Andres Grim, alias Gracioso, machte auf solche Worte ein gar sonderbares Gesicht. Frau Rohrdrommel wäre gewiß erschrocken, wenn sie es gleichsam in allen Winkeln hätte zusammenzucken sehen. Und, fragen wir jeden Physiognomen, konnte es ohne große Anstrengung abgehen, die Rührung und den Stolz zu unterdrücken, daß hier er, der unnütze Schattenspieler, der nichts verstand, von seinem bewunderten Wohnungsgenossen in das höchste Vorrecht der Freundschaft eingesetzt werden sollte? Andreas Grim strich zur Gewinnung mehrerer Selbstbeherrschung seinen Lippenbart wiederholt und sagte:

»Ach, daß Sie mir so was anbieten, Herr K'rektor, Sie, so ein kluger und geßeiter Mann, der alles weiß, ja alles, was in den gelehrtesten Büchern ßteht – und ich bin so aufgewachsen und hab' nur mit grobem Volk zu thun gehabt – wie mich's freut – ja – aber, sehn Sie, ich sag': Unterßsiede müßsen sein; z. B. hier ist einer, der weiß und kann mehr im kleinen Finger als sonst hundert, die große Namen haben, und sollt' längst obenan ßtehn, und hier bin ich, der ich nichts verßteh', als müßigen Leuten was vorzumachen, wenn sie Langeweile haben; da ist ein Unterßsied, verstehn Sie? Nein, Herr K'rektor, mit'm Du, 's geht nicht, 's geht wirklich nicht.«

Ohne Zweifel haben die Urschweizer auf dem Rütli bei ihrem Treuschwur, wenigstens nach den Bildern zu urteilen, die man davon sieht, eine weit eindrucksvollere Gruppe gebildet, als unsre beiden Partner nach den eben berichteten Worten Graciosos. Denn der war offenbar im entferntesten nicht darauf bedacht, sich in eine irgendwie malerische Stellung zu bringen, als der Korrektor von seinem Sitze aus ihm die Hand entgegenstreckte. Er hielt sie nur fest und sah ziemlich verlegen darein; ja daß er dabei mit seiner linken Hand durch sein Kraushaar strich, war sicherlich durchaus unnötig und nahm sich recht linkisch aus. Und doch möchte vielleicht mancher von uns sich wünschen können, einen solchen Freundschaftshändedruck zu fühlen, wie unser Ludwig Zirbel, ja darum die reichste Geburtstagsbescherung eintauschen für des Korrektors armseligen Heliotrop.

Er schob alle seine Druckbogen zur Seite, stellte den Blumenstock ganz nahe vor sich und sog seinen Würzgeruch ein.

»Du weißt nicht, Andres,« sprach er dabei, »wie nahe mir dieser Duft den hellen Freudenschein zurückruft, in dem einst mir dieser Tag erglänzte mitten in der trüben Winterszeit. – Solch eine Blume war's, die mir jedes Jahr meine Patin gezogen hatte hinter den Eisenstäben am kleinen Fenster in der Pförtnerwohnung. Schon manche Woche vorher durfte ich den Blumentopf bewundern, wie er neben der Nelke und der Wachsblume und der Fuchsie stand (o, ich sehe alle die Pfleglinge der alten Frau noch vor mir) und knospete. Aber immer heute war er in die Stube genommen und stand auf dem Tische, wie hier, und daneben der kleine Kuchen, zu dem ich selbst die aufgehobenen Pflaumensteine gesprengt hatte, daß ihre Kerne statt der Mandeln dienten. O, wenn ich ihr dann das Holz herzutragen durfte zum Feuer für den Kaffee, und die Herdflamme flackerte und züngelte unterm Dreifuß, während sie geschäftig ab und zu ging und setzte die Tassen hin, für mich eine mit 'nem Goldrand, und auch der Zucker durfte nicht fehlen, den sie sich wohl durchs ganze Jahr nicht gönnte. Wenn wir dann den Kuchen verzehrten, zu dem sie das Mehl für Weizenkörner aus aufgelesenen Ähren vom Stoppelfelde eingetauscht hatte, und ich saß nahe, ganz nahe neben ihr, dann stand der Heliotrop mit den zartblauen Blüten und dem süßen Dufte vor uns, gerade wie deiner jetzt vor mir. Wie gern hört' ich ihr zu, wenn sie dann erzählte von ihrer Jugend und wie alles sonst anders gewesen wäre in der Welt. Sie fing dann auch wohl von meiner Mutter an, von der ich kaum ein ganz dunkles Erinnerungsbild in meiner Seele bewahrte; denn sie war in der ersten Dämmerung meines Lebensmorgens gestorben. ›Sie hatte gar ein fröhlich Gemüt,‹ sprach sie dann wohl, ›deine Mutter, da sie jung war; aber sie war zu weich, gar zu weich, und zog sich alles zu tief zu Herzen. Darum hat sie die harten Tage, die hernach über sie kommen sind, nicht können überstehn.‹ ›'s thut nicht gut,‹ fuhr sie dann fort, ›Ludwig, glaub mir's, thut wahrlich nicht gut, so man sich alles so gar tief zu Gemüt zieht, was man sieht und erlebt in der rauhen Welt. Merk dir's auch, mein Patkind! Zwar sie scheint jetzt ein glätter Angesicht zu haben und sanftere Sitten, die Welt; aber's kommt mir so vor, als wär sie im Herzen noch ebenso hart, ja härter denn zuvor.‹ Darauf fühlt' ich wohl ihre dürre Hand auf meinem Scheitel, als bedürft' ich auch eines Schutzes und sie wollt' ihn mir zuwenden. Hernach mußt' ich die alte Postille vom Sims langen und ein Gebet lesen, das da hinten zu finden war unter der Überschrift: ›Ein Christ lobt Gott am wiedererlebten Geburtstage.‹ Und ich konnt' oft unterm Lesen nicht weiter vor Rührung darüber, daß all diese Worte, die so feierlich klangen, von mir geschrieben waren, und immer lange vor dem Amen geriet ich ins Schluchzen. Da hört' ich sie wohl murmeln: Grad' so war seine Mutter! Aber wenn sie darauf mit mir anhub: ›Sollt ich meinem Gott nicht singen?‹ – ach, dann jauchzte unter den Tönen meine Seele wieder auf, und wenn die Wintersonne schien, so sang wohl auch der Zeisig mit über den Blumen im Fenster, die Sperlinge draußen zwitscherten und die Tropfen vom tauenden Schnee klangen auf die Gitterstäbe. – Nein, Andres, wir ließen keinen Vers aus, so lang das Lied ist, und unterm Singen duftete mir der Heliotrop immer süßer.« –

Der Korrektor hielt inne und berührte wie liebkosend die Blüten seiner Blume. »Andres,« sprach er dann, »verzeih, ich verlier' mich ganz in vergangene Tage, red' nur immer von mir, recht als ein unhöflicher Gesellschafter; aber, sieh, daran ist nur dein Heliotrop hier schuld.«

»Wie mich's freut, daß er's ist,« rief des Korrektors Zuhörer vergnügt und füllte die Gläser von neuem; »was kann sich am Geburtstag beßser zu den frohen Hoffnungen gesellen als frohe Erinnerungen? Es leben die hellen Tage der Kindheit!«

»Kindheit!« wiederholte Ludwig Zirbel, »tauiger Morgen vor des Lebenstages Last und Hitze; wohl gehst du schnell vorüber, aber dein süßer Traum glänzt fort! – O, wie mich's jammert, Andres, daß die zählende, nach Gewinn und Genuß keuchende Welt mit ihrem Jahrmarktsgeschrei nicht früh genug eine arme Menschenseele aus diesem Wonnelande verscheuchen kann.«

»Wahr ist's,« sagte der Angeredete beistimmend, »man sieht die Kinderlein hier in der großen Stadt meist gar so ernsthaft.«

»Ja, ja,« setzte der Korrektor hinzu, »wie manchmal hab' ich hinter den Fenstern von Kellerwohnungen oder in dumpfen Höfen unsrer Mietskasernen so ein Gesichtchen gesehen mit einer stummen Frage in den Augen, die mir durch die Seele schnitt! – Ach,« fuhr er wie zu sich selber sprechend fort, »einen Menschen um seine Kindheit betrügen, welch eine Schuld! Wir sehen wohl nur die Kinder als werdende Menschen an und die Großen für gewordne. Aber für Gott, der für uns Ewigkeiten bereit hat, was ist all unser Dasein hienieden anders, als nur ein kleines Anfangsbruchstück, und der Mensch, der uns am Ziel dünkt, kaum auf der ersten Station seiner Ausreise. Warum denn halten wir die Kindheit immer nur für eine Vorbereitung für die Zeit, da etwas aus dem Menschen geworden ist, unterschätzen die Bedeutung ihres Glückes und verkleinern ihre Würde!«

Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt und blickte sinnend vor sich hin. »Sonderbar,« begann er dann wieder, »daß Erinnerungen, die einer abgeschlossenen Vergangenheit angehören, auch den Ort, an dem sie haften, so weit, weit in die Ferne rücken. Ist's mir doch, als läge meine Heimat in einer andern Welt und wäre hier auf Erden für mich die Spur zu ihr verloren!« Er schwieg wieder und fuhr dann mit einer lebhaften Bewegung fort: »Ich möchte sie wohl noch einmal sehen, noch einmal durch die eisenbeschlagene Thür der Pförtnerstube treten! Ach Gott, vielleicht ist der Schemel noch da, auf den ich stieg, um dem Zeisig einen mitgebrachten Resedastengel ans Bauer zu stecken oder Wegebreit, derselbe Schemel, auf dem die kleine Florentine immer saß, wenn sie mir zuhörte, während ich ihr vorlas. – – O, meine Patin! Gewiß geht sie jetzt sehr gebückt, und ihre Runzeln – ich sehe sie alle noch – sind viel tiefer geworden, und diese Schrift in ihrem Angesichte, die von ungezählten Sorgen, aber noch viel mehr Liebe und Güte im Herzen erzählt, viel deutlicher! – Was sie wohl sagte, wenn ich käme, ach noch immer ohne ›Posten‹, ihr Ludwig, noch immer nichts in der Welt – aber doch ihr Ludwig. Nein, sie würde mich nicht ausfragen, sie würde gern von alten Zeiten mit mir reden und ich wollt' wieder neben ihr sitzen und sie um die Tasse bitten mit dem Goldreifen, daraus zu trinken (sicherlich, sie hat sie noch) – ach, und wenn sie noch einmal ihre Hand auf meinen Scheitel legte, so – so – und ihren dürren Arm um meine Schultern – –«

Als übte die Weichheit in des Korrektors Stimmung eine solche elektrisierende Wirkung auf ihn aus: der Schattenspieler sprang mit einer Schnellkraft auf von seinem Sitze, wie wenn er sich hinterm Vorhang zu produzieren hätte. »Herr K'rektor,« rief er und schnippte vor Freude mit den Fingern durch die Luft, »sehen's, das ist mal 'ne Idee! Ja, Sie müssen hin; grad' das hat Ihn'n die letzte Zeit in den Gliedern gelegen! Ha, wie gut wird's Ihn'n thun! Als wie z. B.: wenn Sie dort all die alten Bekannten wiedersehn und bleiben in aller Ruh', solang's Ihn'n gefällt, und versäumen hier nichts und 's kommt dort eine Freud' nach der andern als wie z. B. zuletzt ßsick' ich Ihn' die Zusag' vom Verleger zu und die Bibliothekarßtelle, und die alte Frau erlebt's mit – 's ist 'ne Idee, sag' ich, und jetzt dies Glas auf 'ne glückliche Reise, Herr K'rektor!«

Zirbel erschrak fast, da er sich so zur Verwirklichung seines Gedankens von vorhin gedrängt sah. Es schien ihm wie ein überkühner Wunsch, und doch zog die einmal erweckte Sehnsucht stärker. Aber nun lähmte diesen aufquellenden Wunsch, wie seit langem jeden gehegten lieben, die Erwägung der harten Wirklichkeit.

»Du weißt, Andres,« sagte er kleinlaut und schmerzlich lächelnd mit einem Blick auf seine ausgestreckte leere Hand.

»Nichts weiter, Herr K'rektor?« rief der noch immer aufgeregte Andres und blies vor sich eine unsichtbare Flaumfeder hinweg zum symbolischen Ausdruck der Geringschätzung des angedeuteten Hindernisses. »Habe ich nicht gerade jetzt überflüssig, und weiß nicht, was damit anfangen?«

Er brauchte kaum mehr als einen Schritt zu thun, um zu einem Spinde zu gelangen, das die eine Seitenwand der Stube zierte, mehr seiner innern Bedeutung nach als durch sein Aussehen. Denn es war ein gar formloses und ungeschlachtes Spind (darum gewiß nicht aus der belobten vormaligen Rohrdrommelschen Werkstatt); aber als das einzige seiner Art in der Langenstraße Nr. 110, 4 Treppen links, war es unschätzbar und galt unsern beiden Freunden als Auszug und Breviarium aller der verschiedenartigen Schreine, Schränke, Kommoden, welche unsre Kultur nötig hat, z. B. auch als aerarium, obwohl dies letztere nur selten. Denn öfter war es für die Schätzung des Wohlstandes und damit der Reputierlichkeit der beiden günstiger, denselben nach der Höhe ihrer Schulden zu bemessen, wie die Nationalökonomen den Reichtum mancher moderner Staaten.

Also aus einer Schublade dieses Spindes holte Gracioso eine Summe Bargeldes herbei und legte sie vor den Korrektor auf den Tisch.

»Wird's langen?« fragte er.

»Andres, ich kann's nicht annehmen; 's ist gewiß dein letztes,« antwortete der Gefragte abwehrend.

Der Schattenkünstler war beleidigt. »Wie, Herr K'rektor,« rief er dringend, »Sie wollen doch nicht wider unsern Kontrakt? Wir haben doch unsre Kaßs' zusammengeßmissen! und wie ich Ihn' sag' obendrein: ich hab's überflüßsig, ich brauch's nicht.«

Andrea Gracioso, du sprachst nicht die Wahrheit, nein, nein, du logst! Und doch findet vielleicht die Tugend manches Gerechten den Zugang zur Gnade fester verschlossen als deine Lüge!

»So soll ich wirklich mein Rebkau wiedersehen?« rief der Korrektor, und ein Abglanz der Vorfreude ging über sein Angesicht.

»Rebkau – Rebkau, sagten Sie?«

»Ja, Andres,« war die Antwort, »da bin ich zu Haus. – Ist dir das Städtchen auch bekannt?«

»Wir kamen da durch vor Jahren mit Trollmann seinem Wagen – Naturalienkabinett, wißsen Sie – nichts dahinter, gar nichts – aber ich wußt' mich nicht anders durchzußslagen – 's war grad' zur ßpäten Herbstzeit, als wie zum Beißpiel Nebel in der ßtickenden Luft und Näßse überall – so – ja, ich erinnere mich an die Sßtelle an der Waldwiese noch ganz genau –«

Andrea, der immer lebhafter zu sprechen angefangen hatte, unterbrach sich, wie wenn er eine Gegend vor sich sähe, auf die er jetzt seinen Freund nicht führen dürfte, nachdem in dessen Brust eine frohe Aussicht zu werfen ihm eben zu seiner Freude geglückt war.

»Ach,« sprach er dann, »Herr K'rektor, ich halt Sie mit meinem Geßwätz nur auf. Wir haben genug von der Nacht verseßsen und Sie müßsen morgen munter sein zur Reise! Drum noch dies Glas zur Letzt und dann zu Bett!«

Daran war freilich für den Gelehrten noch nicht zu denken. Morgen früh mußte die Korrektur in die Druckerei, also galt es jetzt gleich die versäumte Arbeit nachzuholen.

Der Korrektor erklärte das seinem Stubengenossen und schickte sich in seiner gewohnten Gelassenheit wiederum zu seiner Arbeit. Wie er sich niederbückte und die Korrekturzeichen eintrug in ununterbrochener Emsigkeit, da entging auch dem Schattenspieler, der mit seinem Stuhle tiefer ins Dunkel gerückt war und schweigend zusah, nicht der Ausdruck einer sanften Freude im Gesichte des Emsigen, und wie vor einem heitern Licht war der Schatten der Übermüdung und Trauer daraus verschwunden. In der That, durch all die einförmigen Drucklinien sah Ludwig wie durch ein Gitter die liebe Heimat freundlich winken, die er wiedersehen sollte.

»Andres,« begann er nach einer Weile, ohne sich in seiner Arbeit zu unterbrechen, »wenn du denn doch mir Gesellschaft leistest, so mache mir die Freude und spiel! Mich verlangt so nach Musik, und gewiß, sie verkürzt mir die Zeit.«

In der Musik war Andres völlig Original, er bekannte sich zu keiner Schule und hätte wohl keinen Meister gefunden, auch wenn er darauf aus gewesen wäre, ihn zu suchen. Denn für sein Instrument sind, soviel wir wissen, auch in den berühmtesten Hochschulen und Konservatorien der Musik keine Klassen eingerichtet. Er spielte die Maultrommel. Schon der Name wäre auf den Programmen der Akademiekonzerte unmöglich, und er selber war auf dies Tonwerkzeug vielleicht nur verfallen, weil man's für fünf Pfennig haben kann. Aber er liebte es, und seit er wußte, daß auch sein Ludwig daran Freude hatte, doppelt sehr. Wirklich, wenn es gleich des Korrektors Kunstgeschmack nicht empfiehlt, er hing an diesen gehauchten, summenden Tönen mit dem innigsten Wohlgefallen; sie stimmten gut zu seinem stillen Wesen, und er schätzte schon darum des Maultrommlers Kunst, weil er auch nächtlicher Weile ihrer genießen konnte, ohne daß ein schlafmüder Nachbar durch sie gestört ward.

Bald wirbelten und schwebten die gewohnten Töne durch den stillen Raum so lebhaft, als wären muntere Bienen aus dem dunklen Stocke ausgeflogen am sonnigen Sommertage, und doch so leise und gedämpft, daß selber das Geräusch der Zirbelschen Feder vernehmbar blieb.

Allmählich sammelten sich die Klänge zu einer schwermütigen Melodie, die aber immer wieder von den heitersten Tönen unterbrochen wurde, und bei jeder Wiederkehr desto länger. Zirbeln war's unterm Zuhören, als säh' er neckische Falter um Blumen tanzen, auf einem Grabe erblüht, oder es wänden sich muntere Festons um eine ernste Trümmersäule.

»Was ist's für eine Melodie, Andres,« fragte er, in seiner Arbeit innehaltend, »die sich immer wiederholt?«

»Weiß nicht, Herr K'rektor, wie sie mir grad' jetzt in Sinn komm'n ist; hab sie als Jung' aufgeßnappt von 'nem blinden Bettler.«

»War's ein Lied?« fragte der Gelehrte wieder.

»Ach, ich hab's Ihn'n rein vergessen, wie 's ging, und nur 'n paar Worte behalten, die öfter drin vorkamen –«

»Welche, Andres?«

»›Hin ist hin und tot ist tot,‹ ja so war's,« antwortete der Brummeisenspieler mit einer Betonung, als läse er einen gleichgültigen Titel ab.

Vielleicht noch vor wenigen Stunden hätten diese Worte Ludwig Zirbeln im Innersten ergriffen und seine Gedanken auf ihre dunkle Spur gelenkt. War ja so manches in seinem Leben, das ihm zuflüstern konnte: Armer Ludwig, ja so ist's – hin ist hin – ergib dich darein. Aber jetzt fühlte er sich von einem neuen Hoffnungsmut getragen und jenes trübe Wort war ihm nur der dunkle Hintergrund, von dem jede Freude, die das Menschenherz beglückt, sich doppelt glänzend abhebt.

»Nein,« rief er mit Eifer, »heute soll meine Seele nicht da hinunter in diese Tiefe und schwindelnd am Rande des Abgrunds mit Mutlosigkeit und Verzweiflung ringen, sondern mit deinen heitern Tönen fröhlich emporfliegen, und gleich dem Falter in die schimmernden Blütenkelche tauchen, die ihr aus dem Sommergarten meiner Kindheit entgegenduften oder aus dem Traumlande der Hoffnung!«

Ja wohl, wie leicht werden wir Gedankenstolze von den über uns kommenden Gefühlen bestimmt, die unser Herz ängstigen oder erweitern, und ganz geheim wendet oft dies Steuer all unsre Schlüsse auf unsern Gedankenfahrten. Darum, lieber Zirbel, warst du wahrlich glücklich, als du unterm Fortklingen der sanften Töne deines Freundes emsig dich weiter arbeitetest durch deine Korrektur. Denn gewiß wäre dein Herz durch deinen frisch gefaßten Mut weniger umpanzert gewesen in jener Stunde, sondern niedergedrückt wieso manches Mal: wer weiß, wie völlig dich zu Boden geschlagen hätte, was du da lesen mußtest.

Es war die Korrektur eines großen Werkes: »Die Illusionen der Menschheit, genetisch erklärt und nachgewiesen,« welche unsern Ludwig seit Wochen beschäftigte. Der Verfasser trat darin mit einer ungewöhnlichen Gelehrsamkeit gerüstet auf, und all seine Streiche galten der Verherrlichung dessen, was er die Eroberungen des Wissens nannte. Die Bemühungen und Leistungen vergangener Zeiten galten ihm höchstens als Notdächer und Baugerüste, die nach Erreichung der modernen Zivilisation nicht zeitig und völlig genug abgebrochen werden könnten. Die Forschung ins Grenzenlose war ihm alles, und vor ihren Ergebnissen erwiesen sich die Bedürfnisse des Gemüts, die Forderungen des Gewissens, die Ahnungen des Glaubens als – Illusionen. An ihre Stelle trat die kühle Einsicht in eine unerbittliche, fühllose Notwendigkeit, die der Verfasser die allgemeine gesetzmäßige Wahrheit nannte. Ludwig Zirbeln schauderte vor dieser Wahrheit, wie vor einem Medusenangesicht, und ihm war's, als müßte vor dem Eishauche ihres Mundes das Herzblut der Menschheit erstarren. Ja, auch die Kunst und die Poesie, welche der Autor den um Glauben und Hoffen gebrachten Menschen zum Ersatz anbot und hierzu als völlig genugsam pries, sah der Korrektor wie eine duftlose Blume an, die in der Augenhöhle eines grinsenden Schädels steckt.

Aber heut unterm Korrigieren focht ihn das alles nicht an, sondern vielmehr so vielem gegenüber, was er las, ward ihm das Recht seiner Überzeugungen desto gewisser und jene Wirklichkeit, die jenseits aller exakten Forschungen liegt, aber sich tief innen dem aufrichtigen Herzen sicher beglaubigt, wie deines war, Ludwig Zirbel. –

Manche Stunde war vergangen und Graciosos Konzert längst verstummt, als der Korrektor mit seiner Arbeit zu Ende war. Er stand auf und trat ans Fenster, um einen Zug frischer Luft zu schöpfen. Noch immer kein Schimmer des späten Morgens durch den Winternebel, der sich über die Stadt gelagert hatte; sondern der rötliche Schein über den Häusern kam von der Gasbeleuchtung der Straßen. Er hatte keinen Blick dahin, sondern nur hinab nach dem engen Hofe und nach dem gegenüberliegenden Seitengebäude. Dort im vierten Stock sah er Licht; hatte da jemand die Nacht durchwacht, wie er? oder schickte sich der Mann schon zu seinem Tagewerke? Der Korrektor horchte hinaus. Eine Hausthür ging, und dort hallten Schritte. Er bog sich seitwärts weiter hinaus, das Fabrikgebäude in der Nachbarschaft zu erblicken, das zum Teil von seinem Fenster aus sichtbar war.

Ja wirklich, da sind die weiten Säle schon erhellt und die Stangen und Kolben Walzen und Räder der Maschinen werfen ihre Riesenschatten bis an die Hinterwand des Hauses Nr. 110. Sogleich werden auch sie ihr Schattenspiel dort beginnen und auf und nieder fahren; aber wenn sie verschwinden mit dem Licht des Tages, werden doch die eisernen Arme drüben fortfahren zu stampfen und die Räder zu rasseln und die Kolben zu stöhnen und all das Meer von Mühe und Arbeit, Not und Sorge, mit dem die Tausende ringsum täglich ringen, wird höher und höher fluten, bis wieder die starke Hand des Wohlthäters Schlaf die Ermatteten ans stille Ufer bringt, wohin sein Gebrause nicht dringt, sondern wo höchstens nur sein schweigendes Schattenbild gesehen wird – im Traum. –

Dir, Ludwig, wenn du dich jetzt der kurzen Morgenruhe hingibst, möge auch dies nicht folgen, sondern in deiner Seele glänze dasjenige weiter fort, welches Gracioso und die freundliche Erinnerung in dir geweckt hat.


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