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Drittes Kapitel.

Wie der Korrektor seine Heimat besuchte und Herrn Flapsers Bekanntschaft machte.


Wie man weiß, hat Rebkau längst Anschluß an eine der Haupteisenbahnen der Provinz gefunden, so daß Leser, die diese Stadt wegen ihrer genugsam bekannten Vorzüge oder auch nur um ihrer durch unsre Geschichte erlangten Merkwürdigkeit willen zu besuchen gedenken, nicht etwa durch die Schwierigkeit der Reise dahin sich von ihrem Vorhaben abschrecken zu lassen brauchen; sondern sie können es bequem haben, bequemer als unser Heimatpilger Zirbel es sich machte, der den Dampfwagen bereits in der Nachbarstation Vierthalbe verließ, um in seine Vaterstadt zu Fuß einzuziehen. Die Wahrheit ist, er wollte, wie manchmal Fürsten außerhalb ihrer Residenz, inkognito bleiben, nicht weil er zu umständliche Huldigungen befürchtete oder die Erregung zu großen Aufsehens bei. seinem Wiedererscheinen; sondern er scheute sich, fremden Gesichtern begegnen und gleichgültige Alltagsworte hören zu müssen in einer Wiedersehensstunde, deren Gedanke und Bild schon mit sanfter Rührung sein Herz ergriff. Darum gedachte er erst in der Dunkelheit anzukommen, um all die vertrauten Stätten seiner Kindheit mit ihren Erinnerungen zu beleben und denen, von keinem mißklingenden Laut oder Eindruck gestört, ans Herz zu sinken. Zudem führte ihn der Weg von Vierthalbe gerade auf der alten Landstraße zum Schwibbogen mit dem Thore, welches seine Pate, die »Thor-Jäckeln« zu- und aufzuschließen hatte. –

Freundlich winkte ihm der Dezembernachmittag, als Ludwig seine Wanderung begann. Ach, beschritt er nicht jetzt denselben Weg, auf welchem er einst auch mit andern auserwählen Tertianern hatte den geliebten Kollaborator nach dessen Heimatsdorfe begleiten dürfen, wenn die Schule für die Hundstagsferien geschlossen war! Immer wurde an diesem letzten Sonnabend der Unterricht schon um vier Uhr des Morgens begonnen und kaum länger als eine Stunde getrieben; denn zu stark war an diesem Exodustage bei Alten und Jungen der Drang ins Freie. O, wie berauschend strömten an diesem ungewohnten Morgengange die reinsten Wonnen in der Knaben Herzen, und Zirbeln seines zitterte noch nach in der Erinnerung daran; denn die winkenden Hoffnungen aller Ferientage krönten und verklärten diesen ersten.

Hier am Waldessaum hatte die in der Stadt heimische Knabenschar Halt gemacht, während der Lehrer mit den Auswärtigen weiter gezogen war. Man hatte nie den frohen Abschied genommen, ohne sich mit dem dreifachen Echo zu necken, das hier antwortete. Zirbel konnte nicht widerstehen: er rief den Namen seines Lehrers und einen Gruß dazu wie damals. Aber ob nun die Wand der Bäume durch Ausrodung verändert war, oder bewirkte der auf den kahlen Ästen liegende Schnee die Dämpfung: seine Stimme kam schwach und undeutlich zurück.

»Ich hätt's nicht versuchen sollen,« sagte er enttäuscht zu sich selber, während er weiter schritt. Als er eine Weile durch den Wald gewandert war, freute er sich mit steigender Erwartung auf den Anblick des Waldschlosses, an dem er vorüber mußte, und bei jeder Biegung seines Weges dachte er es zu begrüßen. Im vorigen Jahrhundert war es von dem damalig gräflichen Grundherrn der Gegend erbaut, und von der Anhöhe aus, auf der es stand, hatte Ludwig so oft über die freundliche Waldwiese geblickt und die dichten Wipfel der Buchen. Das war an der Seite Hermanns, seines alten Schulfreundes, gewesen, des Schillerbegeisterten, dessen Jünglingsseele immer aufgejauchzt hatte bei dem Klange der glänzenden Poesie des hohen Dichters.

Ob sie da wohl noch wohnen in ihrem »Schlosse«, dachte Zirbel, das sie verfallen ließen, weil's nichts einbrachte und ihnen kaum eine Wohnung ließ? Aber freilich, eine Heimstätte war's für 'nen werdenden Dichter. – »Aber sieh, was ist das?!« rief er mit Erstaunen, als er nun in eine Lichtung hinausgetreten war. Ja, da lagen die Waldwiesen vor ihm, aber die Anhöhe war zerwühlt und vielfältig durchstochen, die Bäume entfernt und das »Jagdschloß« bis auf einzelne Mauertrümmer verschwunden; dafür erhob sich seitwärts ein langgestreckter Bau mit einer hohen Esse, den er als einen Ziegelofen erkannte.

»Welche arge Zerstörung!« rief er stillstehend.

»Ihr meint das wüste Wesen hier?« fragte ein Arbeiter, der in seiner Nähe mit Ausladen von Ziegeln beschäftigt war. »Ja, sie haben hier Thonlager gefund'n und gar groß angefang'n. Aber 's war kein Absatz. Nu fällt alles in Klump' und 's wird jetzunder im Sommer hier so wenig 'n Ziegel gestrich'n oder gebrannt wie im Winter.«

»Was ist denn aus dem Besitzer geworden, wenn Ihr's wißt?« fragte Ludwig.

»Das ist ja stadtbekannt,« antwortete der Mann, »daß er sich die Sach' hier hat zu Sinn genomm'n – hat sich verspekuliert – na – und ist übergeschnappt. Ich weiß auch noch, wie's anfing. Er hat nur immer Verse gesetzt und jed'm wollt' er sie vorlesen – und sollt' sagen, ob's nicht schön wär' – und 's war zum Lachen, wie alles durch'nander ging.« –

Mit gepreßtem Herzen beschleunigte unser Wanderer seine Schritte. Er sehnte sich recht, sein Ziel zu erreichen. Schon dunkelte es, als er vor die Stadt kam. Zwar die Anhöhe, über welche sonst der Weg hineinführte, war für eine Chaussee, die da hindurchgelegt war, durchstochen, und damit auch die Kastanienallee verschwunden, unter welcher die Knaben zu Zirbels Jugendzeit auf kleinen Handschlitten, welche sie »Schleifen« nannten, mit jauchzender Lust im Winter, wenn es Schnee gab, hinabgefahren waren bis ans Thor. Aber dort erhob sich das alte gräfliche Schloß, und dort war das gewölbte Thor, welches darunter hinwegführte und ach, das dort rechts mußte das Fenster der Pförtnerstube sein.

Pochenden Herzens schritt der Korrektor näher. Ja, da hing noch über dem Thorbogen die Rippe des vorweltlichen Tieres und der Schulterknochen daneben. In der Pförtnerstube war es dunkel, wie nicht zu verwundern: der Abend war noch frühe und die alte Frau sparte Licht.

»Sie wird am Herde sitzen oder in der Fensternische und ruhen,« dachte Ludwig. Ob er sie wohl erblicken konnte, wenn er zwischen dem Eisengitter und den Blumen nach ihr spähte unbemerkt?

Nein – es war da nichts mehr zu unterscheiden, oder war die Stube wirklich leer?

Jetzt war er im Thor und seine Tritte hallten vom Gewölbe wider, als er auf die Thür zur Pförtnerstube zuschritt. Er klopfte an und horchte. Keine Antwort von drinnen. Er öffnete zögernd: »Guten Abend, Patin!« – Nein, sie war nicht anwesend, sonst gewiß würde sie auf seinen Gruß mit einem Freudezuruf geantwortet haben.

Ludwig beschloß zu warten. Ohne Zweifel war sie nur gerade jetzt ausgegangen, um bald wiederzukommen, denn die Thür war unverschlossen und der Schlüssel im Schloß. Er setzte sich auf den Holzstuhl in der Fensternische und brauchte die Augen nicht zu schließen, um ungestört den Bildern der Erinnerung nachzugehen, die hier vor ihm auftauchten, denn es war im kleinen Raum ganz dunkel. Wußte er doch auch, hier standen noch die Blumen an der gewohnten Stelle, dort der rotgestrichene Tisch, dort das Spind, dort das Bett. – Wird sie nicht zu sehr erschrecken, wenn sie ihn hier findet? Alle Überraschung wird sich ja sogleich in die reichste Freude auflösen – o, daß er der alten Frau diese Wiedersehensfreude noch heut bereiten soll.

So oft draußen Schritte hallten, lauschte er hinaus. Aber die Zeit verstrich, und sie kam nicht. Doch jetzt wurde es lauter unterm Thor, ja, man kam herbei, und es war, wie wenn eine Last draußen auf das Pflaster niedergelassen würde.

Die Thür wurde aufgerissen. –

»Willem, bring de Laterne 'rin – chrr – un' mach' se an – 's is ja stichdunkel hier drinn.« – Es war eine auffallend knurrende Stimme, mit welcher Ludwig diese Worte hinausrufen hörte, und die Rede kam in Absätzen hervor, die durch eigentümliche Gurgeltöne bezeichnet wurden.

Das aufgerufene Individuum trat auf solche Weisung ebenfalls durch die Thür, die offen geblieben war, nicht ohne beim Überschreiten der Schwelle ein wenig zu stolpern.

»Immer unjeschickt – chrr – natürlich immer unjeschickt,« knurrte die Stimme von vorhin.

Während darauf »Willem« dem empfangenen Befehle nachkam und sich bemühte, seine Laterne instandzusetzen, sah Ludwig den Auftraggeber, die beiden Hände in den Hosentaschen, mit unverwandtem Blicke den andern beobachten, und er schien dabei nur Ursache zur stärksten Unzufriedenheit zu finden mit Wilhelm überhaupt und mit seiner Fähigkeit, Laternen anzuzünden im besonderen; denn die mit Kopfschütteln verbundenen dumpfen Gurgeltöne, die er beständig hören ließ, drückten solche unverhohlene Geringschätzung ohne Zweifel aus.

Es war eine nicht große, aber gedrungene und wohlbeleibte Männergestalt, die von dem aufflackernden Lichte beschienen wurde, ziemlich schäbig gekleidet mit einem dicht auf den Schultern sitzenden großen Kopfe, mehr breit als lang, mit weit von einander stehenden Augen darin, die auffallend hervortraten, als säßen sie auf Stielen, und mit dicken Lippen, die den Eindruck machten, als ob sie beständig schmatzten. Dagegen war sein Begleiter ein lang aufgeschossener junger Mensch von elendem und mattem Aussehen, mit viel zu langen Händen und Beinen, die in ihren Bewegungen beständig etwas Schlotterndes hatten. Er sah aus, als wäre er in das Hauptkrankenbuch irgend einer medizinischen Größe unter falscher Nummer eingetragen und aus Irrtum mit einer Hungerkur statt mit einer Stärkungskur bedacht worden.

Nunmehr erhob sich der Korrektor, um sich bemerklich zu machen, und wandte sich an den Besucher, dessen Augen ihm noch weiter aus dem Kopfe hervorgequollen zu sein schienen, als er sie auf sich gerichtet sah. »Entschuldigen Sie gütigst,« begann er, »bin ich hier nicht recht in der Wohnung der Witwe Jäckel?«

Der Gefragte wandte ihm das Licht der Laterne zu, die sein Begleiter inzwischen auf den Tisch gestellt hatte, schmatzte hörbar mit seinen wulstigen Lippen, öffnete seinen Mund und schmatzte wieder. Darauf fuhr er mit seiner linken Hand das breite Kinn hinab, als striche er einen unsichtbaren Bart.

»Eh, ja,« sagt' er nach diesen Vorbereitungen, »Se sind janz recht hier – chrr – aber – Se kommen zu spät!«

»Wieso zu spät?« fragte Zirbel mit Bangigkeit; denn eine traurige Ahnung stieg in ihm auf.

»Ah, chrr, Se sind doch 'n Deszendent?« Die Worte wurden durch den ausgestreckten Zeigefinger der linken Hand (die rechte stak noch immer in der Tasche), eindringlicher gemacht – »und zur Erbteilung jekommen – chrr – nich?«

»Ach Gott,« rief der Angeredete mit lautem Seufzer, »ist sie tot?«

Der Gefragte warf sich in Positur, bog sein Haupt zurück und stemmte beide Arme in die Seiten: »Ick bin Jeschäftsmann, wissen Se,« seine Stimme knurrte noch auffallender als bisher, wie er sprach – »und Flapser heeß' ick (er betonte den Namen, als wäre er bereit, einer widersprechenden Welt gegenüber ihn zu behaupten), »chrr, Arthur Flapser un' – wenn Se mich bloß von Weitem jehen sehen thäten und Se fraghen 's erste beste Kind hier in Rebkau – denn verlassen Se sich druf: 's Kind saght: des is Herr Flapser – Willem«, unterbrach er seine Erklärung, »chrr – hab ick recht?«

»Ja,« antwortete der blasse Mensch unterwürfig.

»Ja, Herr Flapser – Esel,« verbesserte der Redner – und fuhr dann in seiner Erklärung fort – »na, sehen Se als Jeschäftsmann – chrr – un ick bin 'n Jeschäftsmann vor alles wat vorkommt – also – chrr – als Jeschäftsmann weeß ick wat ick dhu und weeß och wat ick rede, und wenn ick von beerben rede, denn is och allemal diejenigte Person dot, von der ick rede –«

»Zu spät denn, zu spät!« rief der Korrektor klagend.

»Um 'n paar Stunden,« sagte Herr Arthur Flapser mit bestätigendem Kopfnicken. »Wären Se heut mittag hier jewesen, denn – chrr – wären Se zur Rej'lierung noch zu rechter Zeit jekommen. – Drei Erben waren da – alle pünktlich und a tempo – (zum elenden Jünglinge gewendet) Willem, kannst der's merken, bei Rej'lierungen sind de Erben immer pünktlich – chrr – ja – erschtenst der Exkuter und denn der Leineweber und der dritte 'n Tepper – na, wissen Se, 's war ja nich ville zu teelen und der Exkuter saghte, er fraghte nach'n janzen Kram nischt – chrr – und bloß 's Bett und de Wäsche wollt' er – mit die Möbel dürft' er seiner Frau nich kommen; se is nämlich in Vermögent un' – chrr – 'ne Jelbjießerdochter.« –

Herrn Flapser hatte diese Auseinandersetzung sichtlich angestrengt, und erst nach mehrfachem Gurgeln und Schnaufen fuhr er vertraulicher fort: »Na, wissen Se, jejen 'n Exkuter konnte doch der Leineweber und der Tepper nich ufkommen, und als Jeschäftsmann sagh' ick och: Wat wollen Se jejen 'n Beamten machen? – chrr – Se sind also einig gewor'n un' haben mir bevollmächtigt, de janze Jeschichte zu verkofen – bloß de Betten und de Wäsche nich, die ick nach'n Exkuter besorgen soll.«

Wir fürchten, der Korrektor hatte von diesem wichtigen Flapserschen Berichte wenig vernommen; denn er saß, während ihm derselbe gegeben wurde, die Stirn in beide Hände gestützt regungslos und sah nicht auf. Ach, ihn lähmte das Gefühl, eine schmerzlich-frohe Stunde des kurzen Lebens ewig, ewig versäumt zu haben.

»Ja, das hab'n Se nu verpaßt, lieber Herr,« begann Flapser wieder, »un' mir als Jeschäftsmann können Se's nich verdenken, daß ick vor'n Exkuter und die annern ihr Int'resse streben dhu – chrr – Willem, Int'resse is, wenn Eener 'n Vortel an'ner Sache hat – merk der das, und 'n Jeschäftsmann« –

Als er bei dieser Belehrung sich seinem Begleiter zuwandte, sah er diesen an der Thür beschäftigt, als suchte er jemandem mit möglichster Vermeidung jedes Geräusches den Eingang zu verwehren.

»Willem,« rief Herr Flapser in strengem Tone, »wat is denn da widder los?«

»Ach, Herr Flapser, 's ist der kleine Fritz. Er ist uns nachgeschlichen und will durchaus wieder herein.«

»Na, denn laaß's Kind rin,« erklärte Flapser großmütig, »mit der Weile wird er sich schon bei uns jewennen!«

Durch die von Wilhelm wieder geöffnete Thür schritt ein etwa fünfjähriger Knabe in die Stube, ärmlich gekleidet und mit vielfach geflicktem Anzuge. Er sah verweint aus und blickte mit seinen großen Augen scheu umher. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er, offenbar um nicht zu nahe an Herrn Flapser vorüber zu müssen, um den Tisch herum, an den sich dieser Herr lehnte, nahm einen Schemel, der da stand, und rückte mit dem in die Fensternische, dicht neben den Korrektor.

»Er denkt: ick wer'n widder mitnehmen,« bemerkte der Geschäftsmann, auf das Kind weisend und dazu lachend wie über einen guten Spaß.

Den Korrektor hatte die Erscheinung und die Weise des Kindes eigentümlich ergriffen: »Was ist das für ein Kleiner?« fragte er, die Hand sanft auf des Kindes Haupt legend.

Flapser leitete seine Antwort durch wiederholtes Schütteln seines gewichtigen Hauptes ein, indem er zugleich die Winkel seines breiten Mundes tief herunterzog.

»Eh, ja, lieber Herr,« sprach er dann, »wat soll man dazu saghen? 'ne olle Frau – chrr – find' 'n Kind. – Ick saghe,« (er betonte diesen Ausspruch als eine besonders bedeutende Wahrheit) »se braucht keen Kind nich zu fin'n – der Majistrat jibt sich alle Mühe, daß 's de Stadt widder los wird, aber – chrr – 's is nich 'raus zu krieghen wo 's hinjehört. Und nu' sagh ick bloß: 'ne olle Frau findt' 'n Kind – se hat's nich nötig – aber jut, se findt' eens – wat braucht se's zu behalten, wenn's – chrr – der Majistrat ihr abnehmen muß!! – Aber das jewennt sich zusammen immer mehr, und wie endlich de Stadt Anstalt macht und 's Kind soll fort und muß fort – da – chrr – rohrt Ihn' de olle Frau un' weimert und jetzt bei alle Stadtverornten: se soll'n er doch – chrr – bloß das nich andhun. – Na,« (Herrn Flapser schien dieser Schluß über die Verkehrtheit der Welt, von der er hatte berichten müssen, einigermaßen zu trösten) »de olle Frau ist ja nu dot – un' nich' weiter dervon zu reden« –

»Und der Knabe hier?« fragte Zirbel.

»Eh,« Herr Flapser kratzte sich hinterm Ohr, als müßte er eine Schwachheit zugestehn, gegen die sein fester Charakter ihn hätte schützen sollen, »ick habe jesaght: ick will'n zu mer nehmen vor – chrr – zwee Dhaler monatlich, wie er da jeht un' steht – chrr – un' seine Sonntagsjacke hat mir der Exkuter och mitjejeben. – Jebrauchen könn' wer'n ja freilich noch zu nischt, so behende wie er is – aber ick hab't 'mal jesaght, un' wat ick als Jeschäftsmann saghen dhu –«

Gewiß war er bei solchen Berufungen auf seine Zuverlässigkeit mit Recht gewohnt, von seinen Zuhörern einen Ausdruck der Bewunderung oder des Lobes zu erwarten, von dem Flapsersche Charaktere eine starke Dosis immerhin vertragen können. Aber da der Korrektor zu dergleichen durchaus keine Neigung verriet, sondern nur immer noch durch des Kindes blondes Haar mit sanfter Hand strich, so besann der Redner sich plötzlich auf sein Geschäft für den Abend:

»Willem,« sagte er, »wat stehst'n da noch immer wie'n Stock, wer müssen ufladen und'n Jungen setzen wir uf de Trage, sonsten kriejen wer'n im Leben nich fort.«

Schmiegte sich das Kind bei diesen Worten enger an Zirbels Knie, oder kam es dem Korrektor nur so vor? – Unwillkürlich legte er seinen rechten Arm um des Kleinen Schulter, als er sprach: »Herr Flapser, ich habe eine Bitte auszusprechen: überlassen Sie mir das Kind; ich will's zu mir nehmen, ich will an ihm thun was ich kann, ja, wahrhaftig, das will ich.«

Daß diese Erklärung Herrn Flapser höchlich in Erstaunen setzte, wird den Leser nicht Wunder nehmen; ebensowenig vielleicht, daß der scharfsinnige Geschäftsmann ohne große Schwierigkeit in die Abtretung des Knaben willigte, ja auch sich anheischig machte, die ganze Angelegenheit mit der städtischen Armenkommission »in die Reihe« zu bringen, wie er sich ausdrückte; »denn«, sagte er, »ick bin 'n Jeschäftsmann und muß mer mit allens behelfen können, wat vorkommt.«

Nun hatte er mit seinem Gehilfen die Ausräumung der Stube bewerkstelligt (– »'t is en weitlöftiger Verrvandter von mir un' so ufjewachsen, und keen Zug nich drin«) –, aber auf Ludwigs Wunsch das Nötigste zu einer Nachtherberge zurückgelassen; denn der Korrektor war, wie er erklärt hatte, willens, bis zum nächsten Morgen in der Pförtnerstube zu bleiben; dann wollte er seine Vaterstadt wieder verlassen.

»Adjees denn!« hatte Herr Flapser bei der Verabschiedung gesagt, »adjees, jeehrter Herr Zirbel, nee, nee, mein Junge, ängstige der nich – de brauchst nich' mit zu kommen – adjees, nochmal – un' de Sonntagsjacke schick ick Ihn'n reddour – chrr –, denn ick bin'n Jeschäftsmann und Reellität is' – chrr – mein Jrundsatz immer gewesen – is' noch und wird's bleiben!« –

Ein Lichtstumpf, den sie gefunden hatten, brannte auf dem Tische. In seinem Scheine hatte der Korrektor mit seinem Pflegling das Nachtessen gehalten, und Zirbels Anteil daran war ein Stück Brot gewesen, das in der Schublade gelegen war, hart zwar, aber schon angeschnitten mit dem Messer, das daneben lag, – und wär' es noch viel härter gewesen, er hätt' es doch bis zum letzten Krümchen verzehrt, im frommen Andenken an die Frau, die es für ihn, wie er dachte, für heut abend zurückgelassen hatte.

Wohl hatte das Kind aus der lebhaften Erinnerung an die letzten Tage vom Sterben und Begräbnisse der Großmutter erzählt – ach, wie tröstlich und ergreifend zugleich weiß von solchen Dingen ein Kindermund zu berichten! – dann aber hatte es aus einem Winkel einen Kasten herbeigeholt, auf den wohl weder vom Exekutor, noch vom Leinweber und dem Töpfer ein Erbanspruch erhoben worden war; es hatte den neben sich auf den Tisch gesetzt und daraus allerlei Spielwerk hervorgelangt. Es waren allesamt nur Trümmer und wertloser als wertlos, wie man sie auf Märkten für Pfennige kauft. Aber Zirbel kannte sie wohl, und o, wie köstlich erschienen sie ihm! Das war dasselbe thönerne Pferdchen mit zerbrochenen Beinen, welches einst seine Kinderhand so schwer hatte zum Stehen bringen können, das jetzt die ebenso kleine ihm zeigte, damit er es bewunderte; da war der Kreisel und da auch die Wiegeschale, aus ausgehöhlten Kastanien einst von ihm selbst gefertigt. Ach, und jetzt nahm Fritz den Kasten selbst, kehrte seinen Boden dicht gegen das Licht und freute sich laut, wie es durch das kienige Holz rötlich in geschwungenen Linien hindurchschien – hatte er das nicht auch gethan, so! gerade so!!

Er saß wieder am Fenster, und das süße Plaudern des spielenden Kindes löste wie ein Zauberlied mit sanfter Gewalt alle Bande dumpfer Trauer und lähmender Enttäuschung von seiner Seele, und er meinte den guten Engel zu sehen, der ihn heute hierher geführt hatte, gerade heute, daß er dies Vermächtnis von der sterbenden Hand seiner Patin empfinge. Ja, nun wollte er wieder hoffen für seine Zukunft, nun fand er in seinem Herzen auch wieder die Freudigkeit dazu; Graciosos Ermunterungen waren eine Verheißung, und die Wendung seines Lebens zum Glück nach der Not und dem vergeblichen Kampf stand bevor, der sein Herz entgegenschlug: nicht mehr für sich, sondern für dies verstoßene, ihm zugeführte Kind.

Er war noch solchen Gedanken hingegeben, als Fritz seinen Schemel wieder neben ihn rückte, wie vorhin. Ludwig nahm ihn auf sein Knie, und das blonde Haupt des Kindes lehnte gerade an seinem Herzen.

Der Himmel draußen war trüb und die Winternacht mondlos. Es war ganz finster. Der Kleine mochte seinen Blicken mit den Augen gefolgt sein.

»Siehst du hinaus?« fragte er.

»'s ist gar finster,« antwortete Zirbel, »komm, wir wollen miteinander am Licht sitzen.«

Aber das Kind wechselte seine Stelle nicht und fuhr mit Fragen fort: »Träumst du auch?«

»Was meinst du, Kind?«

»Du weißt nicht, was träumen ist?« fragte das Kind wieder, sein Häuptlein noch immer dicht an Ludwigs Brust gelehnt. »Man sieht durchs Fenster, wenn's Abend ist, und Großmutter sitzt am Ofen und nickt – und die Wolken ziehn, der Mond scheint oder die Sternlein blinzen; dann sieht man zwischen den Stäben ganz nah ein Gesicht – 's kommt von unten so sacht, sacht herauf und nickt dir zu und lacht dich an so freundlich, so freundlich – und dann gleich weint's dazu und dann – ist's fort. Aber 's kommt wieder, mußt lange, lange warten – aber gleich kennst du's, wenn's auch nicht mehr so lachen kann. – Und Großmutter sagt dann: Ich hab' geträumt. Warum träumt denn sie nicht auch so?« –

Der Korrektor fühlte sich wunderbar bewegt im Gemüte durch des Kindes Rede. Er beugte sich zu ihm nieder und sagte: »Die Kinder haben ihre Träume und die Großen haben auch ihre Träume, mein Fritz!«

Plötzlich schrie das Kind laut auf, verbarg sein Gesicht an des Korrektors Brust und rief heftig erschreckt: »O, nicht so – nicht so – ich will nicht so träumen!«

»Was ist dir, liebes Kind?« fragte Ludwig, seinen Pflegling in die Arme schließend.

»O, das war nicht das Gesicht – o, so schreckliche Augen – o!« – und es fing an in heftiger Gemütsbewegung zu weinen.

Zirbel sah hinaus, aber er vermochte nichts in der Finsternis wahrzunehmen, was die Ursache der heftigen Furcht hätte sein können. »Du bist müd',« sprach er nach andern Worten der Beruhigung, »es ist spät und du mußt schlafen.«

Das Kind schluchzte noch immer auf dem Lager, welches den beiden für diese Nacht gestreut war, bis der Korrektor eine der kleinen Hände in die seine faßte. Da wurde das Kind still. Aber wenn er dachte, nun wäre es entschlummert, und er wollte seine Hand zurückziehen, sogleich kehrte des Kleinen Furcht zurück, bis er seine Hand wieder in der seines Beschützers fühlte.

So saß Ludwig Zirbel am Lager des Kindes lange Zeit und hatte reichlich Muße, in der verödeten, ausgeplünderten, ach, alles dessen, was er hier wiederzusehen gehofft hatte, beraubten Stube sich umzuschauen; aber über das alles umfing ihn nicht mehr, wie wohl sonst geschehen war, lichtlose Trauer; sondern eine süße Freude wallte ihm im Herzen: er hielt die Hand eines Kindes in der seinen, das nicht schlafen konnte, wenn er sie losließ! –

Und er blickte hin nach dem kleinen Schläfer.

»Sieh, er lächelt,« flüsterte er leise, »gewiß, nun träumt er wieder seinen ersten Traum.«


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