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Im Auslande stellt man sich vielfach die Schweiz als eine Art Konsumverein von vierundzwanzig Kantonen vor, welcher nach sorgfältiger Berücksichtigung der berühmten Zürcher Wetterprognosen im Frühjahr seine Netze nach den Fremden auswirft, im Herbst aber, am ersten Tage des Winterfahrplans, feierlich vor versammeltem Nationalrat den Kassenrapport der Gasthofbesitzer entgegennimmt, um je nach der Bilanz den Staatshaushalt einzurichten. Lief das Geschäft, so veranstaltet man patriotische Umzüge, streicht die Tellskapelle frisch an, baut Sträßchen und Eisenbahnen, spendet den Guiden neue Hosen und setzt Prämien für Zuchtstiere aus. Denn die Einkünfte werden, wie billig, auf sämtliche Departemente verteilt. Nach einem Regensommer dagegen schmelzt man Kanonen zu Fünffrankentalern, reduziert die Gehälter der Briefträger und vermietet das Bundesratshaus an stille, ordentliche Familien, am liebsten ohne Kinder. Daß wir alle mit den Gebrüdern Hauser unter einem Saldo stecken, versteht sich von selbst; die Herren von Salis liefern den Wein, die Herren Bodmer das Gemüse; und wenn unsere Kantonsräte nicht eigenhändig den Fremden das Gepäck auf den Urirotstock schleppen, wozu sie von Natur einen unüberwindlichen Drang verspüren, so geschieht das bloß aus Vorsicht, um nicht von den Berufsführern zuschanden geprügelt zu werden. Alljährlich leiht die Basler Musikschule ihre besten Zöglinge den Ätti von Grindelwald zum Alphornblasen; der Erlös fällt zur Hälfte der Stadt Basel, zur andern Hälfte dem Kanton Bern anheim; in Streitfällen über die Beute entscheidet das Bundesgericht von Lausanne.
Du lieber Himmel! Hätten die Leute nur eine Ahnung davon, wie schlimm es mit dem Verhältnis der öffentlichen Stimmung zu unsern vermeintlichen Beauftragten, nämlich zu den Felsen- und Schneewirten bestellt ist, wie schwer sich gerade der Schweizer mit der augenfälligen Stellung derselben verständigt! Der ganze Luxus, den der Fremdenbesuch in unsere Gebirgswelt gezaubert hat, erscheint ja unserm Volke ungemütlich, ja unheimlich; die Pracht nährt zwar einen kleinen Teil, aber ärgert einen größern und blendet alle. «Man ist da im eigenen Lande nicht mehr zu Hause», hört man seufzen und klagen. Vor dem Worte ‹Rigi-Kaltbad› schaudert der Eingeborene wie einst vor der Zwingburg Geßlers, und unwillkürlich hält er die Taschen zu; wenig fehlte, so würden wir die Besitzer der Fremdengasthöfe des Verrates anklagen. Dagegen bei dem Anblick eines Festkantinenpächters, da geht uns das Herz auf, und in den Busen der Rößliwirte schütten wir unsere Tränen. Beides nebeneinandergehalten und durcheinanderverrechnet ergibt ein allgemeines Mißverhältnis. Wir taxieren in Wort und Tat den Gastwirt entweder zu hoch oder zu tief, selten richtig; entweder wir ernennen ihn zu unserm Beichtvater, wählen ihn in den Begierungsrat und schmücken ihn mit Wagenladungen von Lorbeer, oder wir schleudern patriotische Bannstrahlen auf sein Haupt. Den Unterschied aber begründet das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Kegelbahn.
Von der Ansicht geleitet, daß sich bei einigem Nachdenken zwischen Lorbeer und Dornenkrone eine unserm Klima angemessene Kopfbedeckung für den Gastwirt werde finden lassen, erlaube ich mir, einige Grundsätze aufzustellen, welche meines Erachtens mancher Enttäuschung und vielem Ärger vorzubeugen imstande sind.
Das Wirtschaftspatent ist kein Fähigkeitszeugnis für politische Ämter; und damit, daß einer Wein verzapft und sein Haus zum Korridor für den Kanton eröffnet, hat er noch keine volkstümliche Gesinnung, sondern einfach die Absicht, Geld zu verdienen, bewiesen. Es können selbstverständlich auch aus diesem Stande wie aus jedem andern patriotische und begabte Staatsmänner und Volksführer hervorgehen, allein die Erscheinung, daß in einigen Gegenden die Eröffnung einer Pintenwirtschaft einer Kandidatur für öffentliche Ämter gleich erachtet wird, ist eine angeheiterte Erscheinung. Unsere Politik beruht auf Bundesbruderschaft, nicht auf Trinkbruderschaft.
Ein Festkantinenwirt ist kein Horatius Cocles, dem das Vaterland Dank und Verehrung schuldet. Er hat mit dem Patriotismus nicht mehr zu schaffen als der Schuhmacher, der den Schützen die Stiefel, oder der Schneider, der den Turnern die Jacken liefert. Im Schweiße seines Angesichts wie andere auch bedient er mit seiner Schwadron von Kellnern und Kellnerinnen die Kunden, und es wäre oft angenehmer, wenn der Schweiß des Angesichts geringer wäre. Es ist also ungereimt, den Festwirt in Reden und Zeitungsberichten auszuzeichnen, ja es ist sogar schon ungehörig, ihn zu nennen. Denn der Wirt ist hier eine Nebenperson; je geräuschloser, anonymer und bescheidener er seinen Auftrag erfüllt, desto besser für die Gäste; ihn hinter seinem Büfett hervor an die Öffentlichkeit zu zerren, um die eidgenössische oder kantonale Fahne über seinem Haupt zu schwingen, verstößt gegen die Würde des Festes.
Überlandfliegende Privatvereine sollen so gut wie ein einzelner dem Wirt, bei welchem sie einkehren, die Rechnung in barem Geld bezahlen und sich nicht einen Rabatt durch eine in Aussicht gestellte oder erwartete öffentliche Empfehlung erhandeln. Ich gebe zu, daß der Handel meistens stillschweigend, ja unbewußt, in vielen Fällen sogar gegen den eigenen Willen geschieht, dennoch bleibt es ein Handel. Wie ungehörig aber derselbe ist, wie unbedacht derjenige vorgeht, der aus reiner Begeisterung über die ‹reelle, preiswürdige Kost› und die ‹liebenswürdige Bedienung› dem Wirt im Zeitungsbericht ein Kränzchen flicht, das könnte die einfachste Erwägung lehren. Man kann nicht in zwei Wirtshäusern gleichzeitig schmausen; dagegen gibt es gottlob in unserm zivilisierten Vaterlande auch in dem kleinsten Örtchen wenigstens zwei Wirtshäuser, mithin Konkurrenz. Indem nun der Cäcilienverein oder der Veloklub den Bären vor dem Hirschen mit seinem Besuch bevorzugt, soll er überdies noch den Hirschen zum zweitenmal schädigen, indem er dem Bären nachträglich einen Heiligenschein um den Kopf windet? Um über Vorzüglichkeit des einen vor dem andern Geschäft öffentlich zu entscheiden, dazu braucht es reife Erprobung und genaue Kenntnisse, namentlich auch ein feines Gewissen; warum sich unberufen in diese Galeere begeben? Aus Menschenfreundlichkeit, um den Nachfolgenden einen Dienst zu erweisen? Allein das besorgen gegenüber den Gasthöfen die Reisebücher und gegenüber den Wirtschaften die Bewohner des Ortes. Und ist es denn schließlich eine so über alles wichtige Sache, ob ein Verein bei einem Ausflug Neftenbacher oder Goldwändler zu trinken erhält? Ganz abgesehen davon, daß die Leute, welche ein Gebräu von einem guten Wein zu unterscheiden vermögen, gerade bei Gewohnheitstrinkern äußerst selten sind. Den besten Koch und Kellner bringt man glücklicherweise bei Spaziergängen selber mit. Deshalb halte ich dafür, daß in Berichterstattungen über Vereinsausflüge der Wirt, bei welchem man einkehrt, nicht gerühmt und, wenn es ohne Pedanterie tunlich ist, überhaupt gar nicht erwähnt werden soll. Kann mans durchaus nicht lassen, so unterstreiche man gefälligst nicht den Namen, damit die Reklame nicht gar so unleidlich stark aus dem Artikel herausriecht.
Soll man indessen nicht für außerordentlich liebenswürdige Pflege einem Wirt Dank abstatten dürfen? Gewiß, indem man möglichst lange bleibt, den Herrn öfters wieder aufsucht, nicht aber durch ein gelegentliches öffentliches Urteil. Die Meinung, Tüchtigkeit und Zuvorkommenheit seitens eines Wirtes erheische öffentlichen Dank, enthält eine Beleidigung des ganzen Standes; denn was man auszeichnend rühmt, soll ja keine Ausnahme, sondern die Regel bilden.
Auch ein einzelner sollte nicht Preisermäßigungen seitens eines Wirtes unbesehen annehmen, so wenig man sich einen Taler in die Hand drücken läßt. Man bestehe im Gegenteil auf dem Rechte, so viel zu bezahlen wie jeder andere. Denn, wie man auch eine ausnahmsweise persönliche Ermäßigung auslege, so ergibt sich immer eine Ungehörigkeit. Ist sie nämlich zwecklos, so enthält sie ein unmotiviertes Geschenk, das den Empfänger moralisch und den Geber ökonomisch schädigt. Hat sie dagegen einen Zweck, so kann derselbe bloß in einer verschämten, respektive unverschämten Bitte um Reklame beruhen. Indem einer sich nun die persönliche Ermäßigung gefallen läßt, leistet er damit stillschweigend das Versprechen auf Erfüllung der Bitte. Also wiederum ein Handel, bei welchem der Gast den Gasthofagenten spielen soll. Überhaupt verrät die Praxis, einem zwischen Tür und Keller zuzuflüstern: «Ihnen mach ichs billiger», eine gewisse Entsittlichung auf beiden Seiten; denn der Verkäufer bekennt damit oder gibt sich wenigstens den Anschein, als ob er die übrigen übervorteilte; der bewußte Empfänger aber streicht schmunzelnd einen Teil des angeblichen Diebsgewinns als persönlichen Rabatt in die Tasche. Einerlei Preis für die nämliche Ware oder Leistung, das soll man nicht bloß dulden, sondern nötigenfalls sogar fordern. Der Zonentarif, nach welchem eingeborene Gemeindebewohner im Punkt der Billigkeit Nummer 1, Kantonsangehörige Nummer 2, Eidgenossen Nummer 3, ‹Fremde› Nummer 4 und Engländer Nummer 5 notiert werden, ist ein treuherziges Überbleibsel aus der Strauchperiode. Bei diesem System wird der ‹Fremde› in der Tat noch ‹geplündert›. da er ja nicht bloß, wie es sich gehört, dem Wirt einen kleinen Profit liefert, sondern überdies noch den Nummer 1 bis Nummer 3 den Hallauer mitbezahlen hilft, wofür kein vernünftiger Grund vorhanden ist. Also ein gemeinsamer, wohltemperierter Preiskurant für alle, ohne Rabatt für Zeitungskorrespondenten und ohne Zuschlag für Engländer. Damit möchte ich natürlich nicht das mindeste gegen diejenige Tarifverschiedenheit einwenden, die sich auf Leistungsunterschiede gründet. Zu den Leistungen aber rechne ich, beiläufig bemerkt, auch die Geduld.
Obschon ein Gastwirt durch das Aushängeschild jedermann ohne Ansehen der Person in sein Haus einlädt, obschon er ferner dies nicht aus überquellender Menschenliebe tut, sondern um des Gewinnes willen, ist doch sein Haus keine Allmend, sondern bleibt sein Privateigentum. Dem Hauseigentümer schuldet aber derjenige, der sich als Gast in das Haus begibt, die achtungsvollste Höflichkeit auch dann, wenn er die daselbst erhaltene Bewirtung bezahlt. Es ist eine rohe Ansicht, als ob die Bezahlung den Zahlenden der Höflichkeitspflicht entbände, als ob der Käufer sich wie ein Vorgesetzter des Verkäufers gebärden dürfte. In einem Gasthof den befehlenden Herrn spielen zu wollen, ist nicht schicklicher, als wenn einer in einem Hypotheken-Bankhause herumregieren wollte, weil er dort einen Hundertfrankenschein zu deponieren gedenkt. Die Gasthofhöflichkeit beruht wie jede andere Höflichkeit auf Fiktionen; der Wirt tut aus Artigkeit, als ob er uns zu Befehl stände, wozu er weder die Verpflichtung noch den Willen hat. Der Gast seinerseits hat sich in einem Gasthause zu benehmen, als ob er aus reiner Freundschaft gratis traktiert würde. Bloß des Dankes enthebt die Bezahlung, nicht aber der Rücksicht und des Respektes. Wer dem Wirt selbst einen Auftrag gibt, was übrigens nur ausnahmsweise geschehen darf, hat dies stets unter der Form eines Gesuches, niemals unter derjenigen einer Forderung zu tun. Den Unterangestellten gegenüber ist der Befehl erlaubt, weil der Herr eines öffentlichen Gasthauses den Gästen seine Autorität über das Dienstpersonal leiht; nötig ist er selbst hier nicht; eine freundliche Bitte bewirkt denselben, sogar einen bessern Dienst, und man vergibt sich hiemit nicht das mindeste. Anderseits versteht sich von selbst und liegt dies auch in der Meinung des Wirtes, daß der bloßeste Schatten einer Unehrerbietigkeit des dienenden Personals gegenüber einem Gaste sofort exemplarisch bestraft werden soll. Dünkt sich zum Beispiel so ein geschniegelter Zahlkellner dergestalt über die Maßen schön, daß er in deiner uneleganten Gegenwart den Drang verspürt, ein Liedchen vor sich hin zu trällern, so biete ihm ohne Zaudern ein Trinkgeld für die liebliche musikalische Unterhaltung an, dann wird der Kerl hinfort mit tausend Bücklingen einen javanischen Hüftetanz um dich herum aufführen. Lakaienfrechheit ist nicht auf das Konto des Wirtes zu schreiben, da selbst die beste Disziplin in einer albernen Seele nicht den Ausbruch eines akuten Pomadenwahnsinnes zu verhindern vermag. Hier muß man sich eben selber helfen; und das Kunststück ist um so leichter, als ja im Grunde so ein befrackter Schlingel trotz seinem lordsmäßigen Angesicht ein armer Teufel ist, den der bescheidenste Gast durch eine Verzeigung im Bureau zu sprengen vermag. Bei schwerem Respektsvergehen scheue man davor nicht zurück; denn Frechheit verdient kein Mitleid.
Trinkgelder gibt man besser voraus als hinterdrein, damit man den Gewinn davon, nämlich bereitwilligere Bedienung, noch bei Lebzeiten genieße. Um der Unsicherheit hinsichtlich der Größe derselben enthoben zu sein, schreibe man sich ein für allemal einen festen Tarif vor. Für die Bedienung bei Konsumationen gibt es einen solchen Durchschnittstarif, welcher von erfahrenen Reisenden als probat, nämlich als billig und anständig befolgt zu werden pflegt, nämlich zehn Prozent der Rechnung. Erhält man also zum Beispiel für Frühstück, Mittagessen und Nachtessen eine Rechnung von Fr. 8.40 zugestellt, so gebührt demjenigen, der uns diese Rechnung zur Zahlung überbringt, ein Trinkgeld von 85 Centimes. Hat man sich einmal solch einen Tarif zum Gesetz gemacht, so wird man aller lästiger Zweifel enthoben.
Auf die Person des Wirtes hat ein Gast nicht den mindesten Anspruch. Empfängt der Hauseigentümer einen Ankommenden persönlich, so bedeutet das eine freiwillige Zuvorkommenheit, für welche man nicht verfehlen soll, durch Hutabnehmen zu danken. Jede Zitierung des Wirtes seitens des Gastes ist eine Belästigung und, wenn nicht gewichtige Ausnahmegründe vorliegen, zugleich eine Ungehörigkeit. Beschwerden gehören zu den Ausnahmegründen nur in dem Fall, daß kein Gasthofbureau vorhanden sein sollte; sonst formuliere man sie dort. Die Angestellten des Bureaus sind nicht zum Dienstpersonal zu rechnen, sondern verdienen die Höflichkeit, die man einem Bankbeamten nicht versagt. Also: in großen Gasthöfen den Wirt gänzlich, in kleinen so viel als tunlich ungeschoren lassen, so wird man willkommen sein; wer beständig nach dem Wirt ruft wie ein Kind nach seiner Amme, der macht sich lästig und bekommt es zu fühlen.
Selbst im Falle persönlicher ‹Freundschaft› (lies: Bekanntschaft) mit dem Wirt unterläßt man es besser, ihn rufen zu lassen. Und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens kann man auch einem Freunde unbequem werden, wenn man ihm nämlich zur Unzeit kommt. Man kommt aber einem Wirt zur Unzeit, indem man ihm zumutet, sich neben einen zu setzen und die Familienchronik zu erzählen. Denn deine Ferien sind seine Arbeitszeit; du erscheinst in Ausflugsstimmung, er berechnet indessen mit Sorgen das Wetter und seine Bücher; nötigst du ihn zu einem Jaß, so hat er Seele und Herz und Gedanken an einem ganz andern Orte. Die gleißende Fröhlichkeit, die dir sein Gesicht weist, ist eine Geschäftsmiene, welche ihn sauer genug kostet. Um den Wirt als Freund zu genießen, suche man ihn überall auf, nur nicht in seinem Geschäft. Der zweite Grund ist noch gewichtiger. Es gibt der Leute so viele, welche aus der Freundschaft Bettelbriefe zu stilisieren wissen, daß derjenige, der als ‹Freund› einen Gasthof betritt, in den Verdacht gerät, seine Liebkosungen wären auf die Rechnung gemünzt. Das gibt dann eine erbauliche Liebesszene zwischen Jonathan und David, welche einander stürmisch in die Arme fliegen, während sie beide mit den Augen auf die Addition schielen! Es genügt, seinen Namen ins Fremdenbuch zu schreiben; hat dann der Wirt Lust und Zeit zu einem lyrischen Schäferstündchen, dann wird er dich schon aufsuchen, in dem Moment, da du ausgegangen bist. Sogar dann, wenn einer Grüße und Aufträge an einen Wirt übernommen hat, vergesse er dieselben bis nach Bezahlung der Rechnung, damit sein Kommissionseifer nicht als ein Attentat auf Bougie und Service ausgelegt werde.
Über die ‹Freundschaft› der Wirte gibt sich übrigens das Volk gewaltigen Illusionen hin. Wer das nicht glaubt, dem weiß ich ein einfaches Mittel, um ihn zu überzeugen: Versuche nur einmal, in einem Gasthofe zu sterben; nachher gehen einem die Augen gewiß auf!
Ein Wirt ist nicht der Hanswurst seiner Gäste. Wer seinen Wein mit Possenbegleitung trinken will, der bringe sich seinen Clown mit.
Ein großer Teil der Menschheit hat eine erbarmungswürdige Gespensterfurcht vor Überforderungen seitens der Gastwirte. Mit angstverzerrten Mienen erkundigen sich die Ärmsten zum voraus nach den Zimmerpreisen, nach dem Tarif des Frühstückes, des Abendessens, nach allem und jedem, und wenn sie endlich fertig sind, drückt sie trotzdem der Argwohn, es möchte aus irgendeinem heimtückischen Winkel der Rechnung unversehens eine grauenhafte Zahl hervorspringen. Der Honig beim Kaffee erschreckt sie; nach dem Fisch verweigern sie das Wechseln von Gabel und Teller, als kämen sie dadurch billiger weg; Zuvorkommenheiten des Dienstpersonals wehren sie so scheu ab, daß dieses die Absicht einer Ersparung des Trinkgeldes wittert und darnach handelt, während hintendrein gewöhnlich anständigere Trinkgelder abfallen als von manchem anspruchsvollen Junker. Diese Furcht ist grundlos und nutzlos. Grundlos, weil die Klugheit dem Wirte rät und die Konkurrenz ihn zwingt, dem Gaste billige Preise zu berechnen. Nutzlos, weil der Wirt, wenn er will, trotz allen erdenklichen Schutzmaßregeln doch einen Posten findet, wo er das mühsam Abgefeilschte wieder einholt. Alles, was man mit solchem ängstlichen Gebaren erzielt, ist, daß man sich selber sehr viel vergibt, daß man an Ansehen verliert, daß man schlechter bedient wird und daß man den Wirt durch sein Mißtrauen beleidigt. Man schuldet einem Gastwirte das nämliche Zutrauen zu seiner geschäftlichen Redlichkeit wie jedem andern Geschäftsmanne. Will ich damit befürworten, in ein Wirtshaus einzutreten, ohne sich im mindesten nach irgendwelchen Preisen zum voraus zu erkundigen? In unserem Klima: Ja. Und ich wage vorauszusagen, daß man dabei genau so billig wegkommt wie die andern, überdies weit angenehmer.
Der Moment des Bezahlens ist einem gebildeten Wirte unangenehmer als dem Gaste. Die Einrichtung eines Zahlkellners oder eines Kassiers enthebt beide Teile aller Unbequemlichkeiten der Feinfühligkeit. In keinem Falle stürze man sich auf die Rechnung mit gespannter Erwartung, denn eine Gasthofrechnung ist kein Sensationsroman. Sie nennt einem einfach und ruhig, was man dem Wirt schuldet, und ebenso einfach und ruhig berichtige man seine Schuld. Will man sehr höflich sein – und man sollte eigentlich immer sehr höflich sein wollen –, so empfiehlt es sich, eine Banknote respektive ein Goldstück, kurz einen Geldbetrag, welcher die erwartete Schuldsumme weit übersteigt, zugleich mit der Forderung der Rechnung einzureichen, um sich den Überschuß mit dem Schriftstück einhändigen zu lassen. Überall da, wo der Wirt persönlich zur Zahlungsentgegennahme erscheint, liegt diese Höflichkeit besonders nahe. Bei manchem stammt übrigens der ängstliche Eifer, sich vor dem Gastwirt als Einheimischer zu legitimieren, einfach aus der harmlosen Befürchtung, vielleicht aus Versehen für einen französischen Grafen oder russischen Fürsten gehalten zu werden. Diese Befürchtung ist in den meisten Fällen gegenstandslos.
Eine ausnehmend zuvorkommende und liebenswürdige Bewirtung ist kein Geheimnis; man darf von ihr sprechen, aber nicht in der Zeitung, weil unsere werte Person und ihre Abenteuer nicht die Öffentlichkeit interessieren, sondern privatim. Einen dankbarem Zuhörer aber kann man nicht finden als den Wirt selber. Anstatt bei der Ankunft mit Halli und Hallo nach dem Wirt zu rufen, ziehe man stumm ein und spreche dafür beim Abschied seine Anerkennung aus, wo dieselbe verdient ist.
Zwischen großen und kleinen Gasthöfen herrscht hinsichtlich der Preise nicht der gewaltige Unterschied, wie ihn eine geängstigte Einbildungskraft sich ausmalt. Für den Mäßigen gibt es überhaupt keine teuren Gasthöfe. Teuer ist bloß die Luxusanforderung, namentlich das trauliche Kneipen. Für dasselbe Geld, welches der Dörfler an einem Sonntagnachmittag unten in Vitznau versausert, verjaßt und verkegelt, könnte er oben im Rigi-Kaltbad an der gefürchteten Table d'hôte königlich speisen.
Das volkstümliche Kneipen nun hat in unserm Lande einen Übelstand im Gasthofwesen zweiten und niederen Ranges hervorgerufen, der manchem Reisenden äußerst empfindlich wird. Da herrscht nämlich gemäß der lieblichen Voraussetzung, daß jeder beliebige Mensch zu jeder beliebigen Stunde jeden beliebigen Wein zu schlürfen aufgelegt sei, die Regel, den Geschäftsgewinn einzig und allein vom Getränk zu erwarten. Nahrung, Wohnung und Bedienung wird nur als Inszenierung des Pokulierens betrachtet und deshalb unverhältnismäßig niedrig angeschlagen. Dieses System der indirekten Teuerkeit führt zu gröblichen Mißverständnissen und Mißhelligkeiten, sobald jene Voraussetzung einmal nicht zutrifft. Damen vor allem werden an solchen Orten als Ballast betrachtet, desgleichen jeder mäßige Mann. Leute, denen der Wein nicht bekommt oder die ihn nicht mögen oder die an eine mildere und edlere Sorte gewöhnt sind als die üblichen, haben bei Ausflügen nur die Wahl zwischen drei unangenehmen Dingen: entweder an den lockendsten Wirtshäusern vorbeizuhungern oder aus Rücksicht für den Wirt sich den Magen zu verbrennen oder als Geizhals scheel angesehen zu werden. Saurer Wein oder saure Mienen, eine sonderbare Einladung. Die Bedingung, sich ein bißchen vergiften zu lassen, die der Wirt hier an die Bewirtung knüpft, ist für beide Teile unvorteilhaft; denn mancher, der ohne diese Bedingung gern eingekehrt wäre, ist schon vorbeigegangen. Das Problem, eines Menschen Durst zu löschen, ohne ihm gleichzeitig einen Magenkatarrh zum Andenken mit heimzugeben, ist ja kein so schwieriges; man muß es nur nicht mit der Ansicht verquicken, es wäre den Gästen durchaus um den Magenkatarrh zu tun. Lieber zahle ich für eine Tasse Tee, die mir schmeckt und die mich erlabt, zwei Franken als für eine Flasche unfertigen Weinessigs einen Franken. Jenes aber will der Wirt nicht, dieses will ich nicht, und so drehen wir uns denn entsagend die Rücken, trotz seinem verführerischen Sirenenlächeln und trotz meinem begehrlichsten Tantalusdurste. In Gasthöfen liest man zuweilen folgende Ankündigung: «Wer des Morgens kein Frühstück befiehlt, zahlt für das Zimmer einen halben Franken Zuschlag.» Etwas Ähnliches könnte hinsichtlich des Weines in allen Wirtshäusern geschehen. Dann wäre beiden Teilen geholfen.
Es ist nicht fein, mit seinem Schweizernamen in Gasthöfen Handel zu treiben und seinen Heimatschein dem Wirt für bares Geld feilzubieten. Diese brüderlich-patriotische Bettelei – ebenso ungereimt, als wenn einer die Eisenbahnkarte auf Grund des Konfirmationszeugnisses billiger haben wollte – ist die Hauptursache, warum «der Schweizer in Schweizer Gasthöfen weniger angesehen wird als der Fremde». Es mag rührend sein, in Tibet einem Landsmanne zu begegnen, allein zu Hause, wo es deren, Gott sei Dank, einige Millionen gibt, darf man vernünftigerweise nicht erwarten, daß die Überraschung, einen Eidgenossen mit leiblichen Augen zu sehen, den Wirt bis zu einer Kontoermäßigung erweiche. Und warum soll nur gerade einzig der Wirt das Opfer der Brüderlichkeit entrichten? Warum nicht ebensogut der Regenschirmverkäufer oder der Zementfabrikant? Das gäbe einen gemütlichen Geschäftsverkehr, wenn jeder Konsument einen billigeren Handel für sein Ich erbetteln wollte! Da müßte jedenfalls zuerst der Staat mit dem guten Exempel vorangehen, so daß zum Beispiel eine Briefmarke den Einheimischen billiger zu stehen käme als den Fremden; nur fürchte ich, der Fremde würde dann am Postschalter ebenfalls angesehener sein als der Einheimische. Und schließlich gehören zu aller Brüderlichkeit zwei Brüder, und zur Einhelligkeit gehört Zweiseitigkeit. Damit, daß einer auf Grund der Verwandtschaft von andern Geschenke beansprucht, beweist er nur höchst unvollkommen seine Herzlichkeit; er würde den Bruder weit schlagender von seiner lieblichen Gesinnung überzeugen, wenn er damit begänne, ihm erst selber etwas zu schenken. Wäre ich ein Gastwirt, und ein Besucher flüsterte mir zärtlich zu, er wäre mein Landsmann, so würde ich ihm mit lebhaftem Händeschütteln antworten: «Nein, wie sich das zuweilen doch auf Erden wunderbar fügt! Ich bin nämlich, stell dir vor, auch dein Landsmann! Und nach dem Wert zu schließen, den du auf die Landsmannschaft zu legen scheinst, verspürst du offenbar eine unbezwingliche Sehnsucht, mir mehr zu zahlen als ein Fremder. Sei ganz ohne Sorgen: Meine Table d'hôte kostet sonst vier Franken; dir rechne ich sie als Vergünstigung zu sechs Franken an.» Ernsthaft gesprochen: Dem Wirt als Geschäftsmann ist es vollkommen gleichgültig und darf ihm auch gleichgültig sein, woher seine Gäste stammen. Erheben die Landesbewohner in dieser Beziehung unbillige Forderungen an ihn, so haben sie sichs nur selber zuzuschreiben, wenn sie unwillkommen erscheinen.
Wer Rabatt hoffen darf, das ist nicht der Staatsbruder, sondern der Arme und der Dürftige. Vielen Leuten macht es Vergnügen, mit Geld um sich zu werfen, noch viel mehr Leuten aber macht dies durchaus kein Vergnügen. Zur Unterscheidung beider Menschenklassen dient dem Wirte das Fremdenbuch und in demselben mehr noch die Rubrik ‹Stand› als die Kolonne ‹Herkunft›. denn es gibt auch reiche Schweizer. Wenn einer eingeschrieben hat: Musiker oder Lehrer oder Gerichtsschreiber oder gar Schriftsteller, so braucht der Wirt keinen weiteren Kommentar, um zu begreifen, daß der Betreffende schwerlich in einer möglichst hohen Rechnung eine Befriedigung suchen werde.
Es reimt sich nicht schön zusammen, auf grüner Alp vor geköpften Flaschen mit abwesenden Königen und Kaisern umzuspringen, als wärens Kaninchen, und eine Stunde darauf an der Table d'hôte sich von dem ersten schlechtesten Börsenbaron imponieren zu lassen, daß man kaum die Augen aufzusperren wagt; hier ist Rhodus, hier benehme man sich richtig.
‹Table d'hôte!› Es ist schwerlich eine Übertreibung, wenn ich sage, der größte Teil des Unbehagens, mit welchem unsere an gemütlichere, ungezwungenere Formen gewöhnte Bevölkerung einem ‹Fremdenpalast› naht, stammt aus den Schrecknissen der Table d'hôte. Was für ein feierliches Schweigen! was für ein vorsündflutlicher Ernst! was für Toiletten! was für ein geschraubtes Benehmen! Wenn man doch wenigstens dieses Spießrutensitzens enthoben sein könnte.
Und doch liegt der Trost so nahe. Erstens kann man sich das Essen in seinem Zimmer oder an einem besondern Tisch auftragen lassen, das ist sogar viel vornehmer; es kostet nur einen Zuschlag für die besondere Bedienung. Pompöse Herrschaften mit meterlangen Titeln speisen überhaupt nicht an der Table d'hôte, weshalb man an der table d'hôte seinesgleichen findet, das heißt anständige Leute aus allen Gesellschaftsklassen, wie auf der Straße, wie im Eisenbahnwagen. Zweitens, der Ernst und die Feierlichkeit, welche man hier trifft und vielleicht auch selber entwickelt, ist kein Gesetz, sondern im Gegenteil ein Unfug, teils aus Mißverständnis, teils aus Mangel an geistiger Beweglichkeit entsprungen. Eine Mahlzeit ist kein Gottesdienst, daß man dabei nur flüstern dürfte; in der besten Gesellschaft der Welt wird während des Essens gesprochen. Daß die Bedienung und die Aufsicht feierliche Mienen aufzieht, ist in der Ordnung, denn sie erweist den Gästen dadurch, daß sie dieselben für wichtig nimmt, eine Höflichkeit; allein die Gäste brauchen sich nicht an der Bedienung ein Beispiel und Vorbild zu nehmen; das war nicht die Meinung.
Die Toilette steht dem Belieben anheim. Man darf gar wohl im Reisekleid an der Table d'hôte teilnehmen, wenn man sich im Stadium der Ankunft oder der Abreise befindet, und braucht sich deswegen nicht zu schämen. Man braucht sich auch seiner uneleganten Erscheinung oder seines ungeschickten Schneiders nicht zu schämen; denn zu einer gewissen äußern Eleganz sind bloß die Angestellten des Gasthofes verpflichtet, die Gäste selber stehen über dieser Anforderung. Individuell zu sein, zu bleiben wie man ist, sich zu benehmen wie man sich immer benimmt, ist ‹vornehm›; nur die rücksichtslose Flegelei einerseits und das ‹Sichgenieren› anderseits ist nicht am Platze.
Die einzige Würde einer Table d'hôte besteht in der Anwesenheit oder in der Möglichkeit der Anwesenheit von Damen. Diese Möglichkeit oder Tatsache bestimmt das Gesetz. Folglich ist fleckenlose Reinheit der Wäsche und der Haut das erste Gebot; das zweite diejenige Zurückhaltung, die man vor fremden Damen überhaupt übt. Das ist aber auch alles.
Ein Gespräch mit den Tischnachbarn und -nachbarinnen soll nicht vermieden, sondern gesucht werden; wem es gelingt, ein solches anzubahnen, erwirbt sich Dank, denn niemand speist im Grunde gerne stumm wie ein Tier. Verschiedene Nationalitäten verhalten sich freilich verschieden. Mit Romanen und Slaven, also zum Beispiel Franzosen, Italienern und Russen leite man unbedenklich sobald als möglich ein Gespräch ein, sei der Nachbar ein Herr oder eine Dame, und zwar, ohne sich je vorzustellen; denn eine Vorstellung würde hier als prätentiös aufgefaßt werden. Der Deutsche dagegen verlangt nach den ersten Worten die Förmlichkeit des Namensbekenntnisses: «Mein Name ist Müller.» Wenn diese Förmlichkeit erfüllt ist, kanns losgehen. Einen Engländer oder eine Engländerin rede man nie, unter keinen Umständen, an, sonst riskiert man eine Grobheit. Grüße sie nicht, beachte sie nicht; sie sind überhaupt nicht vorhanden. Brennt ein Engländer beim Punsch oder bei der Zigarre, laß ihn brennen; verschluckt er eine Fischgräte, ziehe ihm die Gräte aus dem Halse, aber bekümmere dich nachher nicht weiter um ihn als vorher, denn du bist ihm nicht brieflich empfohlen.
Es hat keinen vernünftigen Zweck, mit dem Gespräch dann zu beginnen, wenn die Mahlzeit fertig ist, also mit dem Salat. Man fange lieber vorne beim Fisch an. «Peuh! Pouah! Er ist nicht von heute, dieser Fisch!» Oder: «Man merkt, daß er einen weiten Weg hatte, vom Meere den Berg hinauf.» Unfehlbar wird dir deine Nachbarin mit einem dankbaren Blick des Einverständnisses antworten: «Was wollen Sie, wir sind nicht in Ostende!»
Gasthofbekanntschaften begründen keine gesellschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen; man hat also nicht nötig, sich seine Leute auszulesen, sondern darf sich mit jedem unterhalten, den einem der Zufall an die Seite würfelt. Also zum Beispiel:
(a parte:) «Hat der Kerl eine klassische Gaunerphysiognomie! Welchem armen Teufel der Wucherer wohl das Geld abgezwackt haben mag, mit dem er sein Schweizerreischen erschwingt.»
(laut:) «Sie sind wohl Künstler, mein Herr, nach Ihrer Begeisterung für die Natur zu schließen?»
Oder:
(a parte:) «Gott! diese Trudel! Wenn ich mit der verheiratet sein müßte! Da wollte ich mich auch lieber im nächsten Tümpel ertränken.»
(laut:) «Wir haben wohl das Vergnügen, Sie bei unserm Ausflug nach dem Guggisberg zu unserer Gesellschaft zählen zu dürfen?»
Warum aber in solchen Fällen überhaupt eine Unterhaltung anknüpfen? Aus reinem Egoismus, weil die Unterhaltung dem Appetit, dem Vergnügen, überhaupt der ‹Kur› zuträglich ist. Man muß sich zerstreuen, wenn man sich erholen will. Und zur Zerstreuung ist der erste beste Nebenmensch geeignet, wenn man ihm den Mund aufsperrt.
Doch nicht von den Gästen, vom Wirte wollte ich ja sprechen. Ihm gegenüber kann ich das richtige Verhältnis in einen einzigen Satz zusammenfassen: weniger Vertraulichkeit und mehr Vertrauen.