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Volk


Die ‹Entweihung› der Alpen

So oft die Nachricht von dem Projekt einer neuen Bergbahn auftaucht, geraten die Gemüter in peinliche Aufregung, und die Presse gibt den Gefühlen eines lebhaften Bedauerns Ausdruck. Begreiflicherweise! Die Alpen sind jedermann teuer, sie sind vielen eine Stätte der Erholung und Sammlung, manchen sogar eine Heimat geworden. Wenn aber Bekanntes und Liebgewordenes verändert wird, so erscheint die Veränderung dem Herzen unter allen Umständen als eine Verletzung und in persönlicher und privater Beziehung als eine Entweihung. Erlebnisse, Erinnerungen, Sehnsuchten verknüpfen sich mit bestimmten Örtlichkeiten, die Weihe der erstem teilt sich den letztern mit; wer in die letztern neuernd eingreift, zerstört uns die Grundlage der erstern. Es ist ferner nichts als gut und schön und billig, dem Scheidenden einen Gruß nachzurufen und dem Dahinsterbenden eine Träne zu schenken. Über ein kleines würde ich ebenfalls eine Nänie auf den allmählichen Schwund des Talfriedens und der Alpenstille abfassen.

Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn statt des reinen, tendenzlosen Stimmungsausdruckes ein feindlicher Wille zu Tage tritt, wenn das Bedauern in Kanzelzorn umschlägt, wenn von ‹Entweihung› in objektivem Sinne geredet wird, als hätten die Alpen ein heiliges Anrecht auf Unberührtheit und als wäre die Einführung der modernen Verkehrsmittel in das Alpengebiet eine lästerliche, schändliche Handlung, wenn man allen Ernstes unternimmt, einer Bergbahn im Namen der Natur polizeiliche Hindernisse in den Weg zu legen, wenn man in nüchterner Prosa die Frage aufwirft, ob ein Jungfrauprojekt erlaubt werden dürfe. Da gerät die an sich löbliche elegische Stimmung in große Gefahr, den Verstand zu vergessen, der Verstand aber ist bekanntlich auch für das Gelingen von Elegien gänzlich unentbehrlich.

Kein Wunder, wenn solche grimmige Proteste ihrerseits den Widerspruch wecken und wenn aus Einspruch und Widerspruch schließlich ein kleiner trojanischer Krieg um die schöne, kalte Dame entsteht. Immerhin wollen wir hoffen, der Krieg dauere keine zehn Jahre; ohnehin führt ja das Scharmützeln niemals zu einem Ziele, sondern reibt nur beide Teile nutzlos auf; liefern wir uns daher lieber gleich eine mutige Hauptschlacht. Der Anlaß ist vorhanden, denn wenn die Jungfrau dem Verkehr anheimgegeben wird, fallen mit höchster Wahrscheinlichkeit die übrigen Berge widerstandslos nach, gleich untergeordneten Bastionen nach Erstürmung des Hauptturmes. Die Jungfrau – der Name tut hier viel zur Sache – besitzt nun einmal einen besondern Nimbus.

In ehrlichem Kriege gilt es vor allem, Farbe zu bekennen; so schreite ich denn vor den Augen des Lesers als ein überzeugter Anhänger jeder Art von Verkehrserleichterung salutierend vorüber, für die Alpen wie für die Ebene oder das Wasser, ja für die Alpen noch weit mehr, weil ich das Bedürfnis darnach hier am dringendsten empfinde. Ich gehöre nämlich zu den bedauernswerten Menschen, welche von den Herren Virtuosen des Bergsportes unter die Invaliden gerechnet werden. Mit einem Marsche von acht bis zehn Stunden erkläre ich mich reichlich zufrieden; ich spaziere ebenso gerne in einem grünen Wald als auf einer senkrechten Eisplatte; zur Abkühlung im Juli genügt mir ein Spritz Brunnenwasser, ich bedarf nicht, daß mir die Zehen abfrieren; ich bewege mich endlich lieber auf eigenen Beinen, als daß ich mich an gespanntem Seile in der Luft herumschwenken lasse wie ein Hampelmann. Aus diesen Gründen sehe ich mit so viel mathematischer Sicherheit, als ich bei meiner antimathematischen Natur aufbringen kann, voraus, daß ich auf dem ordentlichen Krabbelwege bis an der Tage Ende niemals auf ein weißes Eis gelangen würde; folglich begrüße ich den, der mir verspricht, mich rasch, sicher, mühelos und billig hinaufzubefördern, als einen Wohltäter.

Ob ich jedoch just zum Herold der Invalidenpartei berufen bin, kommt mir äußerst fraglich vor; ja, ich habe sogar besonders triftige Gründe, zu schweigen, vor allem die Klugheit und die Kameradschaftlichkeit. Während ich nämlich eben erst zum Laden abprotzte, sind schon Granaten in einer andern Richtung geflogen gekommen, und als ich mir die Kanoniere durch das Glas näher ansah, bemerkte ich Bein von meinem Bein darunter. Ich habe deshalb auch wieder aufgeprotzt und die Stücke ins Zeughaus zurückgefahren. Da lenkt ein tückischer Zufall meinen Blick auf eine Meldung, daß allerneuestens das Jungfrauprojekt vom ‹ethischen› Standpunkte verhandelt werde. Das ist mir zu viel; jetzt trommle ich Generalmarsch. Den ästhetischen, den poetischen, den pathetischen Standpunkt habe ich stillschweigend erduldet, bei dem patriotischen und bei dem sentimentalen habe ich nicht gemuckst, aber daß man das moralische Roß besteigt, um Lokomotiven zu exkommunizieren, diese Kavallerie erträgt mein Auge nicht; da blase ich zum Angriff.

 

Zu jeder Entweihung gehören zwei Dinge, erstens etwas Heiliges und zweitens etwas das Heilige Befleckendes. Der Begriff einer Naturentweihung setzt also vor allem die Heiligkeit der Natur voraus. Was versteht man unter ‹Natur›? Ja, wenn sich jeder das nur einigermaßen klar machen wollte, so käme man leicht überein. Aber gerade die Unklarheit eines Begriffes bildet seine Stärke; denn an ungeprüfte Schlagwörter lassen sich unfertige Gedanken viel bequemer ankleben als an deutliche Begriffe; und das wächst dann lawinenartig weiter bis zur anspruchsvollen, keine Kritik duldenden Phrase. Suchen wir aus dem verworrenen Knäuel, indem wir auf sophistische Wortklauberei verzichten, die Meinung des Gegners heraus. Unter ‹Natur› versteht derjenige, der von einer ‹Entweihung› derselben durch Verkehrsneuerungen redet, erstens einen Gegensatz, nämlich den Gegensatz zur städtischen Kultur; zweitens eine zu poetischen und malerischen Stimmungen geeignete Landschaft, genauer gesagt, eine Hochgebirgslandschaft, denn bekanntlich fängt seit einigen Jahrzehnten die Natur erst tausend Meter über der Erdoberfläche an; drittens die Einsamkeit. Was nun den ersten Punkt, den Gegensatz zur städtischen Kultur betrifft, so entsteht die Frage, was für ein Maß von Unkultur der Stadtmensch zu seiner Erholung und Abspannung schließlich nötig hat, ob wirklich das überarbeitete Gehirn, die überspannten Nerven, die hungrige Phantasie und das nach Ruhe dürstende Gemüt eine absolute Unkultur, mit einem Wort die Wildnis begehren. Ich behaupte nein; das begehrt weder der Körper noch das Gemüt und der Geist, das begehrt allein die Mode, und die Mode begehrt es, weil das achtzehnte Jahrhundert aus dem Extrem der pedantischen Naturverachtung plötzlich in das andere Extrem der gespensterscheuen Kulturflucht übersprang. Daß die Sehnsucht nach absoluter, von keiner menschlichen Hand berührter Natur selber ein Symptom der Unnatur ist, daß ein natürlicher, unblasierter Mensch sogar zu seiner Erholung und Abspannung der menschlichen Gesellschaft und vor allem des Anblicks menschlichen Fleißes bedarf, das lehren tausend und tausend Erfahrungen. Es lehrt es vor allem die Geschichte, da bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, also bis zur Entstehungszeit eines akuten krankhaften Kulturekels kein Mensch zu seiner Erholung die Wildnis aufsuchte. Es lehrt es ferner die Erfahrung jedes einzelnen. Zu Anfang der Ferien mag wohl mancher schwören, den hintersten Alpenwinkel aufzusuchen, wo kein anderer menschlicher Fuß hingerate; das beweist nicht mehr für sein wirkliches Seelenbedürfnis, als es für das körperliche Nahrungsbedürfnis beweist, wenn jemand nach einer festlichen Völlerei alle Heiligen zum Zeugen nimmt, er werde sechs Tage lang keinen Bissen anrühren. Der Mensch hat eben auch eine ‹Natur›, und diese seine Natur ist dermaßen kulturfreundlich, daß er nicht einmal im Zustande eines akuten Kulturekels die Abwesenheit des Anblickes menschlicher Kultur wochenlang zu ertragen vermag. Der folgende Satz ist ein Erfahrungssatz: Nur solche Gegenden, welche Spuren einer hochentwickelten Kultur aufweisen, beruhigen das Gemüt und stimmen Herz und Seele.

Gemach! Ich weiß, Sie wollen mir Ihre Erfahrungen in den Alpen entgegenhalten. Aber gerade die Alpen bestätigen jenen Satz; denn einer der aller wichtigsten Vorzüge der Schweizer Alpen besteht in dem Vordringen einer ansehnlichen Kultur bis nahe an die Schneegrenze. Das wird uns Schweizern nur nicht so bewußt, weil wirs als etwas Selbstverständliches hinnehmen; wir meinen, es könne gar nicht anders sein, als daß in jedem Tal Pappeln und Nußbäume, Kornfelder oder gar Weinberge gedeihen, daß auf jedem Hügel ein Acker liegt, daß steinerne Kirchen und Dörfer bis auf tausend Meter hinauf stehen, daß dicht unter der Felsenwüstenei auf grünen Wiesen bunte Herden weiden, behütet von jauchzenden Hirten, die dort oben zweitausend Meter hoch in ziegelnagelneuen, saubern, freundlichen Häusern wohnen. Das alles kommt uns Einheimischen kaum zum Bewußtsein, aber wir spürens doch; denn wenn es uns anderswo fehlt, wie zum Beispiel in den norwegischen oder kaukasischen Bergen, dann geht uns auf einmal ein Licht auf! Der Schönheits- und Erholungswert der Schweizeralpen gründet sich nicht zum wenigsten auf die beispiellose Kultur des Gebirges und der umliegenden Gegenden. Denken wir uns einmal die Ufer des Vierwaldstättersees und des Zugersees, die Täler und die schweizerische Hochebene gänzlich wild, also unkultiviert, so würde die Aussicht vom Rigi kaum mehr Reiz auf uns ausüben als auf unsere Vorfahren; und die Alpennatur würde trotz ihrer Massengröße ähnlich auf uns wirken wie die norwegische Alpennatur, nämlich entmutigend, niederdrückend, trostlos. Daraus, daß die lachenden, belebten und bebauten Talschaften und Hügelketten den Naturgenuß in unsern Alpengegenden befördern, folgt aber auch die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung dieses Genusses durch weiteren vermehrten Anbau. Weit entfernt daher, den Erholungswert zu verlieren, werden voraussichtlich unsere Alpen durch den mittelbaren Einfluß der modernen Verkehrsmittel an Freundlichkeit und dadurch an ruhe- und friedenspendender Kraft gewinnen.

Das nämliche gilt von dem landschaftlichen Schönheitswerte der Alpen. In dieser Hinsicht deuten schon zwei auffallende, einander ergänzende Erfahrungsgruppen auf den Weg der Wahrheit. Die Hochalpennatur verhält sich merkwürdig spröde gegen malerische und poetische Liebeswerbungen; umgekehrt liefern die Ebene und der Hügel, der Wald und das Feld, das Schloß und das Dorf auf Schritt und auf Tritt stimmungsvolle Motive. Worauf beruht das? Es beruht auf einem Geheimnis, welches feindenkende Künstler und Kunstkenner längst verraten haben: Der Begriff einer Landschaft in ästhetischem Sinne, also im Sinne eines einheitlichen Stimmungsbildes, verträgt nicht bloß Spuren menschlichen Daseins und menschlicher Kultur, sondern er setzt dieselben als erste, strengste Bedingung voraus, so sehr, daß ohne solche Spuren nur eine seelenlose Agglomeration von Gegenständen, niemals ein Bild entsteht. Diese Wahrheit wird täglich neu erprobt, in der Kunst wie im wirklichen Leben. Wer jemals einen Urwald oder einen Ursee gesehen hat, weiß hievon zu erzählen. Ein unvernünftiges, unordentliches Gewühl tritt vor unser Auge; da, wo im Urwalde ausnahmsweise eine schöne, eindrucksvolle Gruppierung auftaucht, da ist auch sicher eine menschliche Wohnung verborgen. Stimmungsbilder des Meeres verlangen ein Schiff oder ein Wrack oder ein Ufer, der Wald wird erst durch den Weg oder durch die Brücke oder durch den durchschimmernden Rauch eines Hauses zur Waldlandschaft; selbst der größte Meister vermag nicht, ein wertvolles Gemälde aus jungfräulichem Dickicht herzustellen. Und so weiter durch die ganze Kunst; die eifrigsten Naturdichter des vorigen Jahrhunderts, dieselben, welche mittelbar unseren modernen Eisblockenthusiasmus ins Leben riefen, verlegten ihre eigenen poetischen Primitivszenen in die bewohnte Hügelwelt. Aus diesem fundamentalen, den scholastischen Naturschwärmer desorientierenden Grundsatz erklärt sich nun ferner die überraschende und tröstliche Erfahrungsregel, daß alles, was der Mensch zu andern als ästhetischen Zwecken in der Natur arbeitet und herstellt, den ästhetischen Wert der Landschaft, wofern bloß die Arbeit zweckentsprechend ausfällt, nicht vermindert, sondern erhöht. Luzern ist keineswegs von einem Verschönerungskomitee erbaut worden, und Neapel verdankt sein Dasein einer höchst prosaischen kaufmännischen Spekulation; dennoch verunziert Luzern nicht den Vierwaldstättersee, sondern schmückt ihn; und Neapel tut dem Vesuv und dem Meerbusen wahrlich keinen Abbruch. Wenn auf der Wengernalp eine Stadt entstünde, so würde diese Stadt nicht die Wengernalp verpfuschen oder ‹entweihen›, sondern dieselbe herrlich krönen wie Bergamo. Längst schon ist der Schönheitswert eines Pfades, eines Karrenweges, einer kräftigen Poststraße von Künstlern und kunstsinnigen Laien anerkannt; dieser Schönheitswert beruht zum kleinen Teil auf rein malerischen und geometrisch-proportionalen, zum größern Teil auf symbolischen Ursachen, ich meine, auf den Anspielungen an menschliche Gegenwart. Schiffe jeglicher Art, unter ihnen auch Dampfschiffe, haben sich das Ehrenbürgerrecht in der Kunst und Ästhetik errungen, und nun sollte einzig und allein der eisenbeschiente Weg und die Lokomotive eine Landschaftsschänderei verüben? Das ist zum vornherein unwahrscheinlich und hintendrein einfach unrichtig. Eine Eisenbahnlinie beseelt den Berg, indem sie ein sichtbares Symptom dafür, daß hier menschlicher Geist waltet, herstellt; sie wirkt auch unmittelbar erquickend für das Auge, durch ihre Windungen, durch ihre Böschungen, durch ihre Tunnels und tausend andere malerische Motive. Was belebt, das verschönert auch; das klingt einfach, es wird aber dennoch wahr bleiben. So gut die Gondeln von Venedig, die bunten Schiffchen von Stockholm, die Salondampfer von Zürich und Luzern das eintönige Wasser, indem sie es beleben, aufheitern, ebenso gut werden die Zahnradmaschinen und Wagenzüge dem landschaftlichen Eindruck des Berner Oberlandes zum Vorteil gereichen.

«Die Einsamkeit geht verloren.» Ich möchte doch einmal erfahren, wieviel Quadratkilometer Einsamkeit eigentlich ein einzelner Mensch für sich beansprucht, damit er sich zufrieden gebe. Der Mensch hat fünf bis sechs Fuß Höhe und ein bis zwei Fuß im Durchmesser; und dieser Knirps begehrt für seine Ferieneinsamkeit nicht etwa bloß, daß ihm auf seinen Spaziergängen niemand begegne, nein, er verlangt gleich ein paar Dutzend Gebirgsstöcke von je viertausend Metern Höhe und je zwanzig Stunden im Umkreis für sich allein. Ich begreife die Einsamkeit und liebe sie; ich kann sogar äußerst lebhaft mitfühlen, daß es kein Genuß ist, sich mit den Ellenbogen stoßen zu lassen oder auf Schritt und Tritt einem Mitmenschen auszuweichen. Allein, was es mir schaden sollte, wenn ich, auf der Walliser Seite der Jungfrau über das Eis kletternd, weiß, daß auf der Berner Seite, weit außerhalb meines Horizontes, in einer Entfernung von zwei Tagereisen, eine Partie von einigen hundert Passagieren im Dampfwagen hinauffährt, das begreife ich nicht. So weit das Auge reicht, keinen Menschen zu sehen, das ist schon eine ganz annehmbare Einsamkeit; die Forderung, es sollten keine vorhanden sein, so weit der Gedanke denkt, wird wohl etwas unbescheiden heißen dürfen. «Die bloße Vorstellung davon verleidet mir die Alpen.» Unter uns gesagt, das ist eine ziemlich griesgrämige Vorstellung. Es gibt ja unter den Menschen nicht bloß Engländer, es gibt auch ganz leidliche, ja sogar äußerst liebenswürdige Herren und Damen. Warum sich gleich das Schlimmste vorstellen? Und wenn denn einer so galligen Temperaments ist, daß er nicht einmal in Gedanken einen andern auf zwanzig Kilometer Entfernung dulden mag, so verkrieche er sich meinetwegen in eine Höhle des Finsteraarhorns. Zu verlangen, daß wir ihm die ganze Gebirgskette überlassen sollen, damit er sein Leberleiden darauf kuriere, das ist etwas viel. Und dann, ebenso gut wie ihn die bloße Vorstellung davon ärgert, daß eine fröhliche Vergnügungsbande mit der Eisenbahn lustig nach dem Jungfraugipfel kutschiert, könnte die Vergnügungsschar ihrerseits daran Anstoß nehmen, daß ein Brummbär auf dem Finsteraarhorn lungert, welchen die bloße Vorstellung eines Vergnügungszuges nach der Jungfrau schon ärgert. Sollen sich nun beide Teile gegenseitig von den Gipfeln hinunterärgern? Wahrlich eine bizarre Feindseligkeit! Und ein kindischer Anlaß! Der Kampf ums Dasein hat einen Sinn; denn wenn zwei nicht nebeneinander Platz finden, so stößt eben einer den andern von der Stelle; allein der Kampf ums Dortobensein, herbeigeführt durch die Anmaßung, daß im Umkreis von zwölf Gletscherkegeln niemand anders sich aufhalten dürfe, ist einfach lächerlich. In diesem Krieg werden übrigens die Gebirgseremiten jämmerlich unterliegen; denn es ist in der Welt so eingerichtet, daß die Herde den Bock und nicht der Bock die Herde ausstößt. Mit der Einsamkeit ist es eben bestellt wie mit den übrigen Gütern; wenn viele Menschen der Einsamkeit teilhaftig werden wollen, so müssen sich eben alle in eine Teilung derselben fügen. Und das läßt sich ja über die Maßen leicht bewerkstelligen. Welche Begriffe macht man sich denn eigentlich von den räumlichen Verhältnissen des Menschen zu den Bergen? In dem einzigen Kanton Graubünden könnte man die Bevölkerung der ganzen Schweiz derart verteilen, daß jeder einzelne nicht bloß Einsamkeit, sondern überdies noch ein gerütteltes Maß von tödlicher Langeweile erhielte.

Das Munterste an der ganzen Aufregung ist, daß am lautesten über die ‹Entweihung› der Alpen diejenigen sich empören, welche selber mit allen Kräften die Alpen unsicher machen: die Bergfexe, die Felsenkraxler, die Gipfelstürmer, vorab die geehrten Herren vom S.A.C. Machen sichs die Herren da oben bequem, gucken in jede Gletscherspalte, legen sich quer über die Schründe, pendeln an ihren Piken, wippen sich am Seile in die Abgründe, schaukeln auf den Felsgräten, ein Führer im Norden und der andere im Süden hangend, stampfen Schneewächte hinunter und bröckeln Steinlawinen los, setzen sich auf ihre Salva venia und rutschen auf den Hosen ins Tal wie die Schulbuben, errichten Triumphzeichen und Siegesmale, verstecken Flaschen und Salami in die Höhlen, streichen die Felsen rot an, teilen die Alpen unter sich in Sektionen wie einen Osterfladen und jammern nachher über ‹Entweihung› der Alpen! Damit sie da oben gänzlich unter sich wären, sollen die andern unten bleiben; damit der Sport sich voll entfalte, soll der Verkehr seine Triebknospen und seine Säfte unterdrücken. Gerade so, als ob ein Yachtklub uns die Passagierdampfer und Handelsschiffe des Ozeans verwehren wollte, weil diese die Regatten störten. Da erlaube ich mir, einmal den Spieß umzukehren und zu sagen: Von allen Auswüchsen der Kultur ist einer der unnatürlichsten der Sport, von allem Unästhetischen und Unpoetischen ist das poesiewidrigste ein Klub, und von allem Nüchternen ist das Nüchternste ein Protokoll. Gegen diese zünftige, systematische, statutenmäßige Sportstelzerei ist der industrielle und kommerzielle Verkehr die reinste Ilias und Odyssee. Denn der Verkehr ist etwas Natürliches, etwas Großes; der Sport dagegen ist etwas Trainiertes und etwas Kleinliches; jener zeugt Leben und Freiheit, dieser ist exklusiv und hochmütig; jener weckt allerorten die Phantasie der Völker, von den Argonautenzügen bis zu den Luisiaden, dieser mündet von überall her in Oxford, endet mit einer Krawatte und schließt mit einer englischen Kapelle. Darum ist die rauchigste Lokomotive und die steifste Telegraphenstange Poesie im Vergleich zu der Sektionierung, Protokollierung und Ehrenmitgliederisierung der Alpen, und gegenüber einer Klubhütte darf ein Gasthof als ein Naturtempel gelten.

Nachdem ich dermaßen den Spieß umgekehrt, mache ich den Vorschlag, Frieden zu schließen, und zwar unter den bereits angegebenen Bedingungen: gleiches Anrecht auf die Alpen für alle, keine Monopole und Patente für den Naturgenuß. Entweder es darf überhaupt niemand auf die konsekrierten, sakramentierten Faulhörner, ausgenommen natürlich die Herren Apollo vom Käse mit ihren heiligen Apis, und die Steuerbeamten, welche den Apollo die Apis pfänden – in diesem Fall möge der S. A. C. gütigst die Gletscher räumen. Oder aber sie stehen jedermann frei; dann ist auch jedermann erlaubt, auf seine Weise hinaufzugelangen. Die einen mögen nach wie vor darauf halten, an Seilen hinaufgewippt zu werden wie eine verunglückte Ziege; gut, wohl bekomme es ihnen! Die andern werden Drahtseile vorziehen. Auch gut und vielleicht noch besser; und niemand unterstehe sich, es ihnen zu wehren. Bei diesem gegenseitigen Duldungssystem wird es einst auf den Alpen ähnlich zugehen wie jetzt auf dem Zürchersee, wo Dampfschiffe, Barken, Segelboote, Gondeln und allerlei Klubzeug friedlich nebeneinander vorbeifahren, ohne daß dadurch der Naturgenuß des einzelnen beeinträchtigt oder das Wasser entheiligt würde.

Da gefallen mir jene noch besser, welche, ohne auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben auf einer Enzianenweide gestanden zu haben, Kassandratöne über die Bergbahnen zum besten geben. Das ist wenigstens psychologisch interessant. Offenbar waren die Herrschaften bisher gewohnt, wenn sie vom Weißenstein oder vom Sälischlößli die Gipfel herzählten und sich darüber stritten, ob es der Mönch oder der Eiger sei, etwas Erhebendes bei dem Gedanken zu fühlen, daß niemand dort hinaufkomme. Es war, als ob die Berge dadurch weißer ausgesehen hätten. Nun, wenn die Idee, daß niemand hinauf gelange, wirklich einen solchen wundersamen Gemütswert besitzt, so braucht man ja bloß etwas höher in den blauen Himmel hinein zu gucken. Doch wehe; da kann ja möglicherweise einmal ein Luftballon durchgefahren sein! Überall Entweihung, unten und oben! Arme Leute! Denen ist nicht zu helfen; sie haben sich im Datum geirrt; ihre Absicht war gewesen, im Ichthyosauruszeitalter zur Welt zu kommen.

Wer ist denn schließlich derjenige, der die Alpen entweiht? Einzig und allein der Mensch. Eine Dohlenfamilie, die von ihren Nestern herunter eine ganze Felsenwand weiß sprenkelt, ein Lämmergeier, der sein Lager in einen Schindanger verwandelt, eine Kuh, die dort oben verendet, entweiht die Alpen nicht. Wie gesagt, diese Kunst ist den Menschen vorbehalten. Und wodurch entweiht der Mensch die Alpen? Indem er eine Guanofabrik herstellt? indem er Talg aus Murmeltierfett raffiniert? indem er das Faulhorn zu einem Gipsbrei kocht? indem er Kirchweih, Ballett und Operette und andere frivole Lustbarkeiten da oben treibt? Nein, einfach durch seine Gegenwart, ja sogar durch den bloßen Gedanken an die Möglichkeit seiner Gegenwart. So oft ich das lese, schäme ich mich dunkelrot über meine aufrechte Haltung und meine zwei Beine. Es scheint, man muß entweder vier Beine oder gar keine haben, um des Heiligtums der Alpen würdig zu sein. Schnecken, Giftschlangen, Frösche und Ziegenböcke gehören zu den Leviten des Tempels; nur der Mensch ist unrein. Wenn das ein Iltis behauptete, so würde ich es begreifen. Aber ein Mensch, welcher dergestalt über den Menschen urteilt, kommt mir absonderlich vor. Übrigens urteilt auch niemand so, man schwatzt bloß dergleichen. Und warum schwatzt man dergleichen? Aus Phrase, weil abgestorbene, faule Fetzen aus Rousseaus menschenfeindlicher Philanthropie noch in der Luft herumfliegen und weil, wer nichts Eigenes denkt, in Ermangelung eigener Gedanken nach solchen Fetzen hascht. Daß wir es hier in der Tat nicht mit Überzeugungen, sondern bloß mit Phrasen zu tun haben, beweist die Inkonsequenz; denn Überzeugungen sind immer ganz und zielentsprechend. Gegen einen italienischen Pflästerer, der über den Gotthard humpelt, gegen den Postkondukteur, der über den Simplon rasselt, hat niemand etwas einzuwenden; wer mit Käse über die Gemmi steigt, entweiht die Gemmi nicht; weder Ästhetik noch Ethik haben das mindeste dagegen, wenn ein Senn ein neues Haus auf den Alpen baut, und eine Pintenwirtschaft wird selbst auf dem höchsten Gipfel mit Jauchzern begrüßt. Ich verstehe ja, das gehört zur ‹Lokalfarbe›, das übrige nicht. Allein, da begegnen wir abermals einem Stichwort statt eines Gedankens. Was ist das, eine ‹Lokalfarbe›? Ist das eine Farbe, welche an Ort und Stelle gewonnen wird, oder eine solche, mit welcher man Ort und Stelle färbt? Man meint das erstere; ich behaupte das letztere, und ich mache mich anheischig, meine Behauptung zu beweisen. Jede beliebige Farbe, die man wiederholt auf jede beliebige Gegend aufträgt, stimmt nach jedermanns Urteil zu dieser Gegend. Die Weinberge und Schlösser des Rheins stimmen zum Rhein; nicht wahr? Sie stimmen sogar dermaßen, daß man sich den Rhein gar nicht anders denken könnte und möchte. Es gab jedoch eine Zeit, da zum Rhein die Auerochsen stimmten; der ‹Lokalfarbe› zuliebe hätte man also die Rheinufer bis an der Tage Abend als einen heiligen Bestienpferch hegen müssen?

Alles, was jetzt zu einer Gegend stimmt, hat einmal nicht gestimmt, hat einmal das Auge durch den Anstrich einer neuen, fremden Farbe beleidigt; jeder Weg, jedes Haus, kurz jedes Produkt der Kultur hat sich dieser Sünde schuldig gemacht. Allein, was einst Sünde schien, wurde Wohltat, und wenn Auge und Gefühl einer einzigen Generation darunter litten, so haben Hunderte von Generationen nach ihr die Tat gesegnet. Mit den ‹Lokalfarben› geht es wie mit den Sonnenfarben: eine löst die andere ab, und jede summiert sich zur andern, ohne jemals einen Mißton zu bilden. Die Schweizer beleidigten ja ursprünglich ebenfalls das Lokalkolorit der Alpen; ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihre Kultur, ihr Wohnbau verletzten Auge und Gefühl der ansässigen Helvetier und Römer; nichtsdestoweniger stimmen heutzutage die Schweizer mit ihren Sennhütten ganz außerordentlich zur Lokalfarbe der Alpen. Oder etwa nicht? Mit solchen zitterzimperlichen Ästhetologien, wie man sie heutzutage jeder gesunden Verkehrsentwicklung als Balken in die Radspeichen werfen möchte, wäre die Menschheit niemals über den Pfahlbau hinausgekommen. ‹Lokalfarbe› bedeutet diejenige Farbenkombination, welche die Vorstellung gewohnheitsmäßig unwillkürlich mit einer Gegend verknüpft. Wenn nun die Wirklichkeit sich ändert, wird auch die Vorstellung sich ändern; das Gegenteil zu verlangen, nämlich daß die Wirklichkeit sich nicht ändere, damit die Vorstellung sich nicht zu bemühen brauche, ist einfach töricht. Denn die Wirklichkeit hat ihre strengen und harten Forderungen; hier gilt es zu gehorchen, bei Todesstrafe. Um aber eine Vorstellung zu korrigieren, gilt es bloß, kein Pedant zu sein. Gewiß, die Lokalfarbe der Alpen war bis jetzt Armut, Entbehrung und Mühseligkeit; daher befremdet uns jeder Luxus in den Bergen und in den Hochtälern. Es bleibt aber zum Nutzen des Volkes wie zum Vorteil der Kultur und Ästhetik dringend zu wünschen, daß Leben und Blühen und Gedeihen einst auch in den Alpen zur Lokalfarbe gehöre. Energisch vorwärts arbeiten, einer geahnten höheren Kultur entgegen, arbeiten, ohne links und rechts zu sehen, das ist die Aufgabe der Völker; macht einer dazwischen einmal eine Erholungspause, so wird er bemerken, daß unterdessen die Natur nicht fortgelaufen ist, sondern daß sie unvermerkt ein neues und schöneres Kleid angezogen hat und uns darin inniger grüßt.


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