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Wo ist die Winterlandschaft zu suchen?

Nehmen wir an, ein Westeuropäer, versehen mit den Augen eines Malers oder eines natursinnigen Dilettanten, reise anfangs Februar, wo im Norden strenge Kälte und fast beständiger Sonnenschein herrscht, gegen den sechzigsten Breitegrad oder darüber hinaus und präge sich die dortige Winterlandschaft ein.

Da wird ihm zunächst gegenüber den heimischen Erinnerungen die Blässe und Eintönigkeit der Farbe auffallen. Der Himmel zeigt sich beim hellsten Sonnenschein nicht blau, sondern weißlich, wie mit Nebel bedeckt, so daß es oft schwer hält, zu unterscheiden, ob eine freie oder eine umwölkte Atmosphäre vorliegt. Unten auf der Erde ist alles ununterbrochen weiß, von der Sonne verglastet, aber nicht gemalt. Da gibt es kein Fleckchen braunen Ackers oder gelben Weges, keine Saat, kein dürres Blatt, keinen sprudelnden Brunnen, keinen laufenden Fluß; sogar der Wald färbt nicht, sondern liefert nur dunkle Flecken; ein Büschel Unkraut am Wegesrande würde wie eine Garteninsel sehnsüchtig bestaunt werden.

Außer der Farbe wird ferner unserem Beobachter etwas fehlen, wovon er sich zunächst kaum Rechenschaft geben wird, was ihm aber, sobald er es ins Bewußtsein gefaßt, für sich allein schon die Landschaft verleiden muß: es gibt im nordischen Winter keine deutlichen Schatten, vor allem keine Schlagschatten. Beim gleißendsten Sonnenschein wandeln die Menschen umher wie die Peter Schlemihl, indem ihre Dichtigkeit auf dem Schnee bloß eine hellgraue, kaum merkliche und schlecht abgegrenzte Trübung hinterläßt; ein gleichmäßiges Blendlicht umspielt die Gegenstände rund herum. Meine Beobachtungen in dieser Beziehung sind mir von einem hervorragenden Physiker wissenschaftlich bestätigt und erklärt worden; das zerstreute Licht, so lautete seine Erklärung, die ich hier einfach wiedergebe, erreiche im Norden gegenüber dem direkten Sonnenlicht eine überwiegende Bedeutung. Was für einen Verlust aber das heißen will, eine Landschaft ohne markige Schatten, errät jeder Naturfreund.

Indessen, haben wir es überhaupt mit Landschaften zu tun? Selbst das ließe sich für einen großen Teil des Nordens, nämlich für die sarmatische Ebene, bestreiten. Ohne uns in eine Erörterung des schwierigen Begriffs einer Landschaft im ästhetischen Sinn des Wortes einzulassen, dürfen doch Gruppierung und Einheitlichkeit als wesentliche Grundbedingungen einer ‹Landschaft› gelten. Davon kann jedoch in vollkommen flachen Strichen, zumal bei unordentlicher Abgrenzung von Feld und Wald, nur ausnahmsweise die Rede sein. Und zwar werden die Ausnahmen am ehesten im Sommer stattfinden, wo Farben und Düfte scheiden und vereinigen und das mannigfache Himmelsbild mit den irdischen Flächen und Wellen Stimmungsverwandtschaften eingeht. Selbst die Poesie winterlicher Einsamkeit und Trübseligkeit verlangt die Anwesenheit irgendeines wärmeren Motives, das wir in südlichen Schneelandschaften auf Schritt und Tritt, in nördlichen nur ausnahmsweise finden.

Endlich läßt auch noch die Zeichnung der Einzelheiten zu wünschen übrig. Unsere winterlichen Wälder bieten uns, abgesehen von ihrer Farbenpracht, schon durch die bloße Form ihrer entlaubten Äste eine Fülle von herrlichen Abwechslungen. Die gewaltigen Fichten und Edeltannen, die schlanken Pappeln, die mächtigen Stämme der Eichen und Buchen, dann wieder die unendlich verschiedenen Formen der Obstbäume, das alles erscheint demjenigen, der von Norden kommt, mitten im Winter wie ein Paradies. Dort bestimmen nur zwei ewig wiederkehrende Hauptgestalten den Wald: die traurige Birke, deren weißer Stamm in der allgemeinen Blässe der Umgebung natürlich nicht jene prächtige Kontrastwirkung hervorbringt, wie in unseren mitternächtigen Parkgängen, und die kümmerliche sibirische Tanne, deren Armseligkeit schon aus der nordischen Redensart hervorgeht, daß Tannenwälder keinen Schatten gäben. Kiefern, denen man auf sandigem Boden am ehesten in der Nähe von Wohnungen begegnet, sind schon erfreuliche Oasen, und ein entlaubter Apfelbaum mutet uns wie eine Zierpflanze an.

Und nun vergleiche man damit unsere mitteleuropäische Schneelandschaft, zumal in Gebirgsgegenden! Der Schnee mag noch so tief liegen, an den Abhängen der Hügel und Berge leuchtet es von den Äckern in allen Tönen des Braun bis zum Gelb und Schwarz, grüne Saaten blicken hervor, die Buchen- und Eichenwälder prangen im wunderbarsten Rot, ein azurblauer Himmel schaut auf uns herab, blau sprudeln die Quellen und rinnen die Flüsse, während trägere Wasser in tausend herrlichen Motiven, unter welchen ein plötzlich erstarrter Wasserfall mit seinen Nadeln und Zapfen wohl das entzückendste sein mag, für einige Stunden oder Tage Brücken bilden. Die im grimmigsten Winter noch kräftige Mittagsonne malt die Landschaft mit Silber und Gold und tuscht die Schatten mit samtenem Schwarz; sie erweist sich stark genug, nach den strengsten Nächten die obersten Schneedecken zu schmelzen und von den stattlichen Linden und Buchen den kristallenen Schneeduft wie Blütenregen herunterzufegen, untermischt mit wuchtigen Bescherungen, die uns oft plötzlich von sämtlichen Zweigen gleichzeitig zugedacht werden, den Atem vor kühler Wonne und diamantenem Glanz benehmend. Dazu endlich noch der majestätische Hintergrund der Alpen und das klassische Profil der zunächstgelegenen Hügelkette, die durch den Schnee sich noch gewaltiger zu erheben scheint.

Von dem Reichtum an Schönheiten, welche eine Schneelandschaft in den österreichischen oder schweizerischen Voralpen dem Auge bietet, hat der Nordländer keine Ahnung, der Norweger nicht ausgenommen. Wer deshalb davon träumt, einen Winter im Norden zuzubringen, möge es eiligst tun, damit er die unabsehbaren ästhetischen Genüsse unseres Winters schätzen lerne; es sei denn, daß er im Norden dasjenige antreffe, was zwar in Wirklichkeit nicht dort ist, was jedoch sein Glaube mit hingebracht hat: ein keineswegs schwieriges, sondern recht gewöhnliches Kunststück. Der ästhetische Genuß einer Winterlandschaft, so lautet also meine Überzeugung, gerät am höchsten an der südlichen Schneegrenze, in den bewohnten Alpen.


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