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Welches ist die schönste Jahreszeit?

Es sind die Herren Pädagogen und Dichter, welche uns den Standpunkt zur Beurteilung der Jahreszeiten verschoben haben.

Die erstern durch ihren grundsätzlichen Optimismus, der sämtliche Erscheinungen der Natur als wohltätige voraussetzt, damit sie alles Übel dem Menschen in die Schuhe schieben können, und der sie in unserm Falle dahin führt, alle Jahreszeiten gleichmäßig mit Vorzügen zu schmücken, was sich für deutsche Aufsätze köstlich verwerten läßt. Diesen pädagogischen Standpunkt bekennt außer dem Berufserzieher übrigens auch das Volk, dieser unermüdliche Spruchpädagoge, wie es denn keine populärere Weisheit gibt, als allen Dingen eine tröstliche Verteilung von Licht und Schatten nachzurühmen. «Es hat alles seine Licht- und Schattenseiten.» «Es ist kein Unglück so groß, es ist ein Glück dabei.» «'s ist nichts so schlimm, wenn mans bedenkt.» Solche temperierte Kernwahrheiten verfehlen niemals ihre Wirkung in Volksstücken und Volksbüchern, in den Spinn- und Trinkstuben, auf dem Acker und auf der Landstraße.

Umgekehrt verfährt der Dichter parteiisch, indem er seit undenklichen Jahrhunderten beharrlich in eine einzige bevorzugte Jahreszeit hinein dichtet, nämlich in den Frühling; so sehr, daß allgemein der ‹Lenz› (unter uns gesagt, ein abscheuliches Wort) für die poetische Jahreszeit gilt. Dabei fußt aber der Dichter nicht auf seiner eigenen Anschauung, weswegen ihn die Erfahrung nicht im mindesten in seinem Enthusiasmus stört. Mag auch keiner persönlich einen wonnigen Mai erlebt haben – ein wonniger Mai ist ja in unsern Gegenden so selten wie ein wonniger November –, das schadet nichts; jeder schmiedet immer von neuem munter seine Frühlingslieder darauf los.

Diese Lenzbolderei hat verschiedene Ursachen: Erstens die süße Überlieferung, welche breite, verführerische Geleise bietet. Ehe man sichs versieht, ist ein Frühlingsgedicht fertig. Zweitens gewisse wohlklingende, nicht allzu schwierige Reime: ‹Frühlingsluft – Blumenduft›. ‹Lenzeskosen – Frühlingsrosen›. ‹reine Liebe – junge Triebe› und namentlich ‹im Maien – im Freien›. Wie gesagt, es hindert nicht, daß man im Maien im Freien wollene Strümpfe und Unterhosen braucht, mitunter sogar den Winterüberzieher, es reimt sich, und das ist Beweis genug. Drittens eine mehr oder weniger geistreiche Allegorie, welche in Ermangelung anderer Vorzüge denjenigen der Leichtverständlichkeit besitzt. Das holde Knäblein Lenz, das den alten, griesgrämigen Winter mit einem Besen aus dem Hause kehrt (›Haus – treibt aus‹), die Schneeglöcklein, welche im Frühlingskonzert lieblich klingen (›klingen – singen‹), oder gar die Bäume, welche ‹ausschlagen› und ins Laub ‹schießen›. was für ein wertvolles, unerschöpfliches Arsenal für den Herrn Feldmarschall Ohnewitz, geborenen von Kalauer! Hiebei ist manches kostbare Material noch unbenützt geblieben, welches wir angehenden Frühlingsdichtern lebhaft empfehlen. Die ‹Schwämme› des Waldes zum Beispiel eignen sich vortrefflich, damit der Lenz dem Winter sein bemoostes Angesicht wasche (›Schwämme – kämme‹).

Viertens in der Stimmungssymbolik, die das Wesen eines Hauptteils der neueren Lyrik ausmacht. Nicht was der Frühling ist und gibt, sondern was er in der Übersetzung, im Bilde bedeutet, interessiert den Dichter. Das Wiedererwachen der Natur dient zum Symbol der Hoffnung, darum bevorzugt der Poet das Frühjahr. Hierin liegt indessen kein ästhetisches Urteil über den wirklichen Schönheitswert des Frühlings als einer Jahreszeit enthalten, so wenig wie der Skarabäus auf ägyptischen oder der Schmetterling auf christlichen Grabmälern besagen will, der Käfer oder der Schmetterling wären die schönsten Tiere. In allen drei Fällen wird nicht die Sache selbst gepriesen, sondern eine fremde Vorstellung, welche vermittelst einer seelischen Umdeutung der Sache im Menschen erweckt wurde. Wie wirksam aber die Macht der Symbolik selbst in nüchternen Zeiten sich betätigt, beweist der Umstand, daß die Mehrzahl von uns, durch den symbolischen Gesang der Dichter bezaubert, allen Ernstes Jahr für Jahr den Mai der Poeten erwartet, obschon wir längst wissen könnten, daß derselbe in der Regel nur beim Buchhändler erhältlich ist.

Genau dieselbe Operation, nur diesmal in negativer Form, sehen wir die Dichter mit dem Herbst vornehmen. Nicht, wie der Herbst unser Auge und unser Gefühl direkt anmute, sondern zu was für Gleichnissen er sich eigne, bestimmt seine Auffassung. Weil nun im Herbst die Blätter welken und die niedern Tiere sterben, gilt ihm der Herbst als Symbol der Vergänglichkeit, mithin als die melancholische Jahreszeit; während in Wirklichkeit ein warmer, goldener Sonnenschein und ein wahres Paradies von frohen Farben uns entgegenstrahlt, nicht selten als einzige Entschädigung für einen legendarischen Lenz und einen illusorischen Sommer.

Das Bedürfnis, solchergestalt die Natur zu symbolischen Kunststücken zu verwerten, liegt tief im menschlichen Wesen begründet; sonst träte es ja auch nicht so allgemein auf. Es ist dasselbe Bedürfnis, das uns das Gleichnis des Absterbens bei abnehmenden Tagen, dagegen das Gleichnis des Erwachens bei zunehmenden eingibt, obschon die Beobachtung lehrt, daß durchschnittlich unsere günstigsten, erträglichsten Monate in die zweite Hälfte des Jahres fallen.

Trotzdem darf es weder ein vernünftiges noch ein glückliches Verfahren heißen, dermaßen seine gesamte Naturbetrachtung unter das Zeichen der Symbolik, das heißt der Analogie aus dem menschlichen Leben, zu stellen. Denn schließlich ist ja alles und jedes auf Erden ein Symbol der Vergänglichkeit, nicht bloß die Jahreszeit, sondern der Monat, der Tag, die Stunde; ja, wenn man will, und man hat es oft genug schon gewollt, kann man sogar den Sekundenzeiger als erschreckendes Memento mori benützen. Da ist es denn allerdings schauerlich anzusehen, wie schnell dieser kleine lebhafte Tod um das Zifferblatt hüpft, um uns einzuholen. Allein ein denkender Mensch braucht keine Erinnerung an die Vergänglichkeit; er läßt sich noch weniger die Erinnerung durch äußerliche Dinge vorschreiben oder verbieten. Periodisch nach dem Kalender im Frühlinge jubelnde Lebenslust zu verspüren, um einige Monate später mit den abnehmenden Tagen und den welkenden Blättern wehmütig dem Tode nachzusinnen – und solches Jahr für Jahr um die nämliche Zeit von neuem –, diese astronomische Rotation der Gefühle um die Sonne mag für die Bewohner des Tierkreises Berechtigung haben, dem vernünftigen Menschen steht sie nicht wohl an. Mit einiger Virtuosität in dieser Kunst kann man es dahin bringen, sich das Leben damit zu verleiden. Überlassen wir daher die Symbolik der Jahreszeiten der Lyrik und ermannen wir uns, die Jahreszeiten daraufhin zu betrachten, was sie sind und was sie bieten, nicht, was sie etwa bedeuten oder bedeuten können. Wer unsern herrlichen Herbst allen Ernstes mit wehmütigen Blicken begrüßt, weil er an das absterbende Jahr und den nahenden Winter denkt, handelt wie Till Eulenspiegel, der jammerte, wenn es bergauf ging, weil er da keinen Atem fand, aber noch mehr jammerte, wenn es bergab ging, weil es dann bald um so sicherer wieder bergauf gehen werde. Du lieber Himmel! Zum Jammern ist immer Anlaß, im Frühling wie im Winter, namentlich wenn man zu den gegenwärtigen Übeln noch die zukünftigen eskomptiert. Der Lebensmut indessen bewährt sich darin, die spärlichen Geschenke einer flüchtigen Gegenwart dankbar zu fassen. Der Lebensmut aber ist eine Tugend, vor allem eine Familientugend.

 

Wollen wir im Gegensatz zu diesen erträumten oder pädagogisch zurechtgelegten Schätzungen den wirklichen Wert der Jahreszeiten finden, so müssen wir unser Urteil auf folgende zwei Grundlagen stützen: in erster Linie auf die ästhetische, das heißt auf die Ziffer der Schönheitssumme, die uns jede Jahreszeit bietet, in zweiter Linie auf den Lebenswert derselben; so zwar, daß das letztere Moment nicht von dem ersteren getrennt werden kann. Denn die Erfahrung lehrt und die moderne Ästhetik hat diese Lehre erkannt und bewiesen, daß unsere Wertschätzung des Schönen von unseren Lebensinteressen nicht unabhängig ist, daß vor allem unsere Existenzsicherheit und unser Wohlbefinden als die erste Bedingung für unsere Fähigkeit, eine Natur- oder Kunstschönheit zu genießen, gelten muß. Eine Gebirgslandschaft erscheint dem Reisenden nicht schön, wenn Räuber oder Wölfe drohen, und die Wirkung einer Beethovenschen Symphonie geht augenblicklich verloren, sobald im Konzertsaale Feuer ausbricht oder auch bloß der Stuhl unter uns aus den Fugen weicht.

Aus diesem Grunde kann eine Jahreszeit, die einem ans Leben oder an die Gesundheit geht oder die ein unleidliches Übermaß von körperlichem Unbehagen mit sich bringt, von denjenigen, die darunter leiden, nicht als ‹schön› genossen werden, mag sie im übrigen eine noch so große Summe von prächtigen Bildern erzeugen. So der Sommer im Süden und der Winter im Norden, das heißt, vom allgemein irdischen Standpunkt betrachtet, unser Winter. Unser Winter ist keine Jahreszeit, sondern eine Kalamität. Nur diejenigen, die seine Gefahren nicht kennen, vor allem also die Kinder, sehen ihm gleichmütig oder gar fröhlich entgegen. Wer dagegen Grund hat, für sich selber zu fürchten, wie die Schwachen und Kranken, oder für seine Angehörigen zu bangen, wie jedermann, weiß dem Winter nur das eine Gute nachzurühmen, daß er schließlich auch vorübergeht, wenn schon langsam genug. In den höheren Breitegraden der gemäßigten Zone, um den sechzigsten Grad herum, lebt das Gefühl hievon im Bewußtsein des ganzen Volkes, während in unseren Gegenden die klimatische Möglichkeit einiger Erquickungspausen mitten im Winter eine schwankende oder widersprechende Schätzung erzeugt. Immerhin wird wohl jede genauere Beobachtung in dieser Beziehung ein pessimistischeres Ergebnis zur Folge haben.

Daß der Winter an sich nicht alles landschaftlichen Reizes entbehrt, wer wollte das bestreiten? Ein einziger Blick auf die herrlichen Winterlandschaften, welche in den Schaufenstern unserer Kunstmagazine ausgestellt sind, belehrt uns hierüber zur Genüge, wobei indessen zu bemerken bleibt, daß diese Winterlandschaften, im Sommer oder neben dem warmen Kaminfeuer betrachtet, merkwürdig gewinnen, genau wie der Anblick der Gletscher im Juli inniger erfreut als im Februar, während der Seegfrörne. Der höchste Grad landschaftlicher Schönheit, deren der Winter fähig ist, entsteht übrigens unter dem Einfluß der erwachenden Mittagssonne, im März, wenn nach plötzlichem, üppigem Schneefall, der die Bäume krönt, die Flocken stieben und die Kristalle tröpfeln, wodurch auf einen Augenblick Farbe und ein Schein von Bewegung in die starre Monotonie des Todes hervorgezaubert wird. Die Reize des eigentlichen Frostes dagegen bekommt jeder erstaunlich rasch satt, und wäre er der leidenschaftlichste Schlittschuhläufer.

Der Winter erscheint dem Gemüt und der Phantasie um so leidlicher, je weniger das Auge an denselben erinnert oder, was im Grunde dasselbe ist, je mehr die Aufmerksamkeit von der Natur abgelenkt wird. Darum gedeiht unter seinem Druck das gesellige Leben so vorzüglich, darum ist er die Jahreszeit der Konzerte, Bälle, Feste und Theater, darum flieht auch die Menschheit vor ihm in die Städte. Der Versuch, aus hygienischen Gründen dem Winter rüstige Vergnügungsspaziergänge abzutrotzen, gelingt nur ausnahmsweise; man rühmt sich dessen als einer Tat und, ohne daß mans wahrhaben will, läßt man die Wiederholung bei dem ersten einigermaßen plausiblen Vorwand bleiben. Ich möchte beileibe nicht in Konflikt mit den geehrten Herren Ärzten geraten, welche uns einen tüchtigen Marsch «bei jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter» dringend empfehlen. Ich erlaube mir bloß, bescheiden zu konstatieren, daß, wer bei Schneegestöber oder Hudelwetter oder scharfem Nordwind auf den Ütliberg steigt, schwerlich einem Arzt begegnet. Natürlich wird hinzugefügt: «Außer wenn es gar zu schlecht ist». Das erinnert mich an einen berühmten Professor, der einen Tuberkulösen im Winter nach Petersburg schickte, allwo er täglich ausgehen müsse, «außer wenn mehr als dreizehn Grad Frost herrschen sollte». Sei dem, wie da wolle, jedenfalls überwiegt beim winterlichen Naturgenuß die Leistung das Vergnügen.

Aus dem angeführten Satz, daß der Winter um so leidlicher ausfällt, je mehr man ihn zu vergessen vermag, erklärt sich auch jene Beobachtung, die wohl jeder schon unwillkürlich angestellt hat. Nämlich so lange die Tage abnehmen, also während die Nacht den Tag überwiegt, ertragen wir den Winter zu unserm eigenen Erstaunen vortrefflich. Weihnachten fährt uns stets mit dem Blitzzug entgegen. Deshalb, weil wir beim Scheine des Gases oder der Elektrizität an die Natur gar nicht denken. Die Last des Winters beginnt mit dem Januar und steigert sich von da bis gegen den Mai zu nervöser, gereizter Ungeduld. Nicht etwa wegen der bittern Kälte, dieselbe ist im November oft ebenso bitter – wir können davon erzählen! –, sondern wegen des wachsenden Tages und des blendenden Lichtes, welches durch unbewußte Ideen Verbindung in uns die Natursehnsucht weckt, um sie fortwährend zu täuschen. Jene gleißenden, wolkenlosen Februarwochen, in denen schon um sechs Uhr morgens die Sonne glänzt, während ein eisiger Nordwind jeden warmen Hauch vorwegstiehlt und Wolken Staubes aufjagt, das ist der Winter in seiner schlimmsten Gestalt, in der Gestalt der Lüge. Einem falschen Sonnenschein, der nicht wärmt und nicht Leben bringt, sondern bloß hinauslockt, um zu erkälten oder gar zu töten, zieht der Erfahrene das unfreundlichste Strubelwetter vor. Um die ganze Tücke dieser bösartigen Naturkombination innezuwerden und in den Nerven zu behalten, muß man sich noch ein bißchen weiter nach Norden bemühen. Dort, angesichts der in schwindelnder Schnelligkeit wachsenden Tage, wird man nicht mehr im unklaren darüber bleiben, daß die Unleidlichkeit des Winters proportional mit der Lichtfülle wächst, eben weil diese Lichtfülle verspricht, was sie nicht hält, weswegen sie schließlich als Hohn empfunden wird. Getäuschte Hoffnung wirkt überall schmerzlicher als dumpfe Ergebung. Wer daher Primeln und Anemonen unter dem Schnee hervorsucht, als vermeintliche Frühlingsboten, verlängert sich selbst den Winter, wie ein Reisender, der vor Ungeduld, in Luzern anzukommen, sehnsüchtig die Stationen Hedingen und Mettmenstetten abliest.

 

Wenn ich an den Frühling denke, so unterscheide ich den Kalender von der Wirklichkeit, den Garten mit dem bebauten Ackerland von der ungepflegten Natur, die Blume vom Kraut, den trockenen, warmen Frühling vom nassen und kalten und noch manches andere. Das zu unterscheiden aber lehrt mich die Beobachtung.

Daß die Mehrzahl der Frühlinge fehlschlägt, das heißt nicht mit unsern Hoffnungen oder Begriffen sich deckt, gesteht wohl jedermann, und die letzten Jahre haben es uns eindringlich zu Gemüte geführt. Einem solchen fehlgeschlagenen Frühling läßt sich nicht viel Rühmliches nachsagen. Er ist ein verlängerter Winter, nur grün gefärbt, was aber ein zweifelhafter Gewinn heißen muß, da es nichts Trostloseres gibt, als jener unter Wasser gesetzte Naturspinat, über welchem kalte, graue, bleierne Wolken hangen. Aber auch der normale Lenz kann unmöglich alles das leisten, was man von ihm erwartet, deswegen weil man irrtümlicherweise manche Geschenke vom Frühling verlangt, welche nur der Sommer geben kann. Unter Frühling verstehen wir in unsern Vorstellungen tatsächlich den Frühsommer. Der Frühling selbst ist eine Übergangsperiode, welche nur durch willkürliche Zutaten der menschlichen Phantasie poetischen Jugendwert erhält, an sich jedoch, das heißt mit dem Auge des Malers geschaut, mehr das Gepräge des Unfertigen als dasjenige der Jugend trägt. Die Ursache hievon liegt in dem vereinzelten Auftreten des neuen Lebens, verbunden mit der Langsamkeit, mit welcher die verschiedenen Gruppen einander folgen. Die Mobilisation – um einen militärischen Ausdruck zu gebrauchen – erstreckt sich über mehrere Monate, und wenn der Aufmarsch vollendet ist, haben wir auch schon den Sommer. Namentlich enttäuschen die langen Pausen, welche sich zwischen dem Erblühen der Gartenpflanzen und dem Erwachen des Waldes hinstrecken. Eine wahre Ewigkeit scheint zwischen dem ersten, unvergleichlichen Samt der Saaten und dem endlichen Aufleben der Buchen zu liegen. Während wir in unsern Städten längst schon die berauschenden Akaziendüfte der exotischen Flora atmen, steht am Horizont der Wald öde und leer wie eine Versammlung von Besen. Und meint man, endlich alles beisammen zu haben, so zaudern noch die herrlichen Nußbäume, fröstelnd und mißtrauisch mit ihren spärlichen rostbraunen Blätterbüscheln in die Welt schauend.

Wenn wir nun eine längere Reihe von Jahren überblicken und die Bilder vergleichsweise aneinander halten, um sie genauer zu prüfen, ergibt sich, daß das Blumenparadies, welches wir vom Frühling erwarten, sich nur dann einstellt, wenn ein ausnahmsweise trockener März und April die Gartenblumen frühzeitig zum Vorschein lockt, bei noch winterlicher Beschaffenheit der unbebauten Natur. Dann ergibt sich eine duftige Abtönung der kahlen Landschaft durch grüne Saaten, blühende Obstbäume, braune Ackererde vor dem roten Walde, während auf dem schwarzen Grunde der Gärten die Kulturpflanzen satte, leuchtende Farben liefern. Die Bedingung hiezu ist allemal das relative Überwiegen der Blume vor dem Kraut. Sobald die große Masse der Pflanzen in die Blätter schießt, überwuchert das Grün jede übrige Farbe, und die Blumen wirken für das Auge nur mehr aus nächster Nähe, also vereinzelt. Im letztern Fall wird der Frühling vorzugsweise mit der Nase genossen, deren Befugnis zu künstlerischen Urteilen von jeher in nicht allzu hohem Kredit gestanden hat. Es sind nervöse Genüsse, von berauschender Seligkeit, die jedoch keine deutlichen Erinnerungen zurücklassen, außer etwa in lyrischen Gedichten. Das Frühlingsgrün der Blätter aber – und dies ist ein Hauptmoment – ist nicht individualisiert; ziemlich rohe, entweder gelbgrüne oder blaugrüne Palettfarben sind über Wald und Feld verschwommen hingepflastert wie von einem Flachmaler. Hiemit bildet der Frühling den geraden Gegensatz zu seinem malerischen Bruder, dem Herbst, welcher jeden Strauch anders und doch in sich selbst vollkommen färbt. Darum zerstört auch ein regnerischer April und Mai, der den Blättern vor den Blüten das Übergewicht verleiht, unfehlbar die ganze Frühlingswonne.

Vom Frühling sprechen, ohne der ‹Vögelein› zu erwähnen, wäre ein grobes Versäumnis. Nun, ich muß gestehen, daß ich in der Frage der Belebung, welche eine so unendlich wichtige Rolle im Naturgenuß spielt und deren Mangel im Herbst so schwer empfunden wird, den Insekten den Vorrang über die gefiederte Welt zusprechen muß. Nicht bloß deshalb, weil die Ordnung der Insekten in jeder Beziehung die zahlreichste ist, also die Natur dichter und vollständiger belebt, sondern weil sie inniger an Wärme und Sonne gebunden ist, mithin wohligere Vorstellungen erweckt, die beißenden natürlich ausgenommen, von welchen übrigens die unleidlichsten, die Stechmücken, sich mit Vorliebe unter dem ‹duftenden Flieder›, das heißt unter den Lilabüschen hervorschwingen. Das Gros der Insekten nun, darunter namentlich die Schmetterlinge, regt sich erst im Sommer. Den Frühling erfüllen die Vögel mit ihrem Gesang. Da niemand Bedenken trägt, Opernsänger zu kritisieren, wird wohl ein subjektives Urteil über unsere gefiederten Natursänger ebenfalls erlaubt sein. Unter den drei berühmten herumreisenden Solisten des Frühlings, der Amsel, der Nachtigall und der Lerche, stellt die Amsel unsere Primadonna vor. Sie ist sowohl hinsichtlich der Zeit wie der musikalischen Qualität die erste; ihr verdanken wir die Belebung der schönsten Frühlingsepoche, des Vorfrühlings. Wie bekannt, hält sie sich in denjenigen Gegenden, in welchen sie vernünftigerweise geschützt wird, am liebsten in den Gärten auf, gleich der Nachtigall; weswegen wir ihre Konzerte in der Stadt öfter und schöner zu hören bekommen als draußen im Freien. Die Nachtigall spielt die Rolle der sentimentalen Liebhaberin, deren wahrhaft erstaunliche Leistungen hinsichtlich des Schmelzes und der Kraft niemand ahnt, der sie nicht selbst gehört hat. Im klassischen Lande des Nachtigallengesanges, nämlich in den Gegenden des Mittelrheins, Heidelberg, Schwetzingen und so weiter, vernimmt man ihre Liebesseufzer von einem Berge zum andern mit Leichtigkeit. Leider ist das Gebiet des Nachtigallengesanges ein eng begrenztes, oder vielleicht richtiger gesagt, der echte Nachtigallengesang ist so selten wie der Belcanto auf der Bühne. Es hilft wenig, wenn ein Ort sich rühmen darf, Vögel zu besitzen, welche der Naturforscher als Nachtigallen definiert. Von dem Quarren und Schnalzen dieser Stümper bis zu den herrlichen Traditionen der Heidelberger Sänger ist ein Unterschied wie zwischen einem Dilettanten und einem Virtuosen. Die Lerche, diese jubelnde Koloratursängerin, gehört mehr dem Sommer als dem Frühling an; wenigstens stimmt sie über dem goldenen Ährenfeld besser zum Gesamteindruck als über der grünen Saat. Das übrige ist Chorgesang, nicht zu verachten, aber auch nicht zu überschätzen. Ich weiß nicht, wie es andern geht, auf mich macht der unaufhörliche Finkenlärm auf den kahlen Bäumen einen etwas zudringlichen, vorlauten Eindruck. Die lieblichen Herrschaften, die beständig von dem Frühling singen, der noch nicht da ist, lügen. Den Sperling charakterisiert am besten sein litauischer Name: Schwirblis; ich empfehle dieses Wort dem Gedächtnis. Bei dieser Gelegenheit sei noch die nicht eben poetische, aber dafür um so possierlichere Benennung der Nachtigall im Litauischen mitgeteilt: Lakstingelis. Ich würde dem Leser noch allerlei Litauisches aus der Vogelkunde zum besten geben, wenn nicht die fürsorgliche russische Zensur mir meine litauischen Bücher wegstibitzt hätte. Nämlich das Litauische ist verboten, wie das Kleinrussische. Was ist überhaupt in Rußland nicht verboten? Das Kartenspielen, das Reiten und das Zigarettenrauchen.

 

Der Sommer ist der König der Jahreszeiten, weil Sommer und Leben das nämliche bedeutet. Schon rein körperlich geschätzt – und wir haben ja gesehen, daß das körperliche Wohlbefinden in der ästhetischen Beurteilung eine große Rolle spielt –, bewirkt er Freude, eine Freude, die unsern ganzen Organismus fortwährend beseelt. Die atmosphärische Luft in jedem Augenblick zur schmeichelnden Freundin statt zur Feindin zu haben, das ist schon ein unermeßlicher Gewinn, den auch jener, der ihn nicht mit dem Bewußtsein ermißt, mitempfindet. Der Kranke in seinem Bett vermag an dem Geschenk mit dem Gemüt teilzunehmen, der Genesende darf sich jetzt ohne Besorgnis der Naturfreude im Freien hingeben, der Arme verspürt seine Entbehrungen minder, da sie nicht durch solche Ausgaben kompliziert werden, welche nur dazu dienen, die Atmosphäre zu korrigieren und den Tag zu ersetzen: ich meine das Holz und das Licht. Wohl bringt auch der Sommer Belästigungen, die Hitze kann drückend und, was unleidlicher ist, blendend werden, Regen kommt nur allzu häufig, und ab und zu kann man sogar ein wenig frösteln. Allein, was will das alles im Vergleich zu den andern Jahreszeiten sagen! Die Hitze zahlt bei uns mehr, als was sie verschuldet, indem sie die Schatten, diese prächtige Projektion aller Dinge, kräftig zeichnet, vorab im Waldesschatten einen der köstlichsten Lebensgenüsse gewährt. Bloß die Hitze bei umwölktem, dunstigem Himmel ist unerträglich und zugleich unschön, weil das zerstreute Widerlicht dem Glast das Übergewicht über die Farbe verleiht; unter weißlichem Himmel eine schmachtende Landschaft ohne Schlagschatten, das belästigt uns wie ein blendender See bei Tageslicht; der See will während des Sommers durchaus am Abend genossen werden, weil nur der Abend die Blendung in Farbe verwandelt.

Unserm eigenen Aufleben entspricht die Lebensfülle in der äußern Natur, vorab die tierische. Es mag einer noch so wenig Interesse an der direkten Beobachtung derselben zu fühlen meinen, mittelbar spürt jeder die wohltuende Rückwirkung des wunderbaren Ereignisses, daß nunmehr draußen im Freien Millionen von Tieren ihr Wesen treiben. Wir spüren es namentlich daran, daß mehr als sonst jeder Spaziergang zu einem Abenteuer wird, eine Tatsache, für welche Kinder und Hunde am empfänglichsten sind, welche jedoch uns Erwachsene ebenfalls unwillkürlich erlabt. Die Neugierde, mit der wir im Sommer einen Spaziergang beginnen, die Sättigung des Geistes, die wir mit nach Hause bringen, beruht nicht zum mindesten auf dem Mitspielen der Tiere, vornehmlich der Insekten. Dieses Spiel ist zwar im Grunde ein tragisches; allein eines der Fundamentalgesetze will, daß Leben unter allen Umständen dem schauenden Geist Bedürfnis ist, Gewinn bringt und Lust erweckt. Man beobachte das innige Entzücken eines Kindes, das zu erzählen weiß: «Wir haben ein Eichhörnchen» oder meinetwegen auch «eine Schlange gesehen», um die ursprüngliche Größe dieser Lust zu schätzen. Wir Erwachsenen haben nun zwar so ziemlich alles bereits gesehen, können daher diesen Abenteuer- und Entdeckermut nicht mehr kräftig nachempfinden. Dennoch kommt er auch in uns auf, wofern wir ausnahmsweise etwas Seltenes erblicken, zum Beispiel einen Fuchs oder einen Raubvogel oder einen auserlesenen Schmetterling.

Die Pflanzenwelt hat sich inzwischen ausgebildet; die Bäume haben ihre individuelle Form angenommen, die sie im Frühling nur erst andeuteten, nämlich die Form von je einer kleinen Welt mit lauschigen Verstecken für allerlei Getier und für zahllose Schatten- und Lichtspiele. Jetzt erst sind die Kronen der Eichen, der Buchen und der Nußbäume völlig abgerundet, mit der Abrundung zugleich farbig abgetönt. Dem Baum gebührt im Sommer der erste Preis, der zweite dem Saatfeld, der dritte den blumigen Wiesen und Waldbüschen. An nervöser, symbolischer Wirkung steht diese Herrlichkeit dem Blütenduft des Frühlings nach, an Farbenglut dem Herbst, allein das warme Licht der Sonne, mithin der Verbindungstöne, die edle Zeichnung der scharfen Schatten im Verein mit dem überall ohne Lücke pulsierenden Leben verleiht dem Sommer einen hohen, edlen, tiefsinnigen und doch ruhigen, ja fast frohen Wahrheitsernst. Der Sommer ist wahrer als jede andere Jahreszeit; was man in ihm erlebt, erlebt man eindrücklicher und unvergeßlicher. Zwei allgemeine, bedeutsame Tatsachen legen außer der persönlichen Erfahrung hievon Zeugnis ab. Jeder Mensch sehnt sich mit der Phantasie nach derjenigen Gegend zurück, in welcher er die sommerlichsten Bilder, das heißt das meiste Leben und das intensivste Licht geschaut hat. Diese Bilder bedeuten fortan für ihn Maß und Norm. Trotz aller Heimatliebe, trotz den unliebsamsten Erfahrungen in der Fremde vermag dem Schweden, welcher Süddeutschland, dem Schweizer, welcher Italien oder Ägypten, dem Italiener, welcher Brasilien kennen gelernt hat, fortan die heimatliche Natur nicht mehr zu geben, was er verlangt. «Die Sonne scheint mir nicht hell, der Himmel nicht völlig blau», so lautet fortan sein Urteil. So spricht die eine Beobachtung. Die andere spricht noch deutlicher: Alle diejenigen Künste, die mit der Erscheinung des Menschen innerhalb der umgebenden Natur zu tun haben, also die epische Poesie und die Malerei, werden unwillkürlich, ganz absichtslos, die umgebende Natur regelmäßig als eine sommerliche darstellen, und zwar mit dem Erfolg, daß die größere Sommerglut zugleich vermehrte innere Leuchtkraft, größere Phantasie- und Bildinnigkeit bewirkt. Raffinierte Kunst und absonderlicher Wille mögen ausnahmsweise auch Winter- und Frühlingshintergründe zwingen, und zwar der Maler noch leichter als der Dichter; indessen erscheint diese Aufgabe so spröde, daß immer wieder zur Regel zurückgekehrt wird. Der Sommer als Hintergrund jeder Handlung erscheint uns für die Erzählung so selbstverständlich, daß wir bei jedem Epos, bei jedem geschichtlichen Ereignis, wofern nicht ausdrücklich das Gegenteil gemeldet wird, den Sommer voraussetzen, so gut wie wir uns Tag und nicht Nacht, Sonnenschein und nicht Regen dazu malen. So groß ist die Abhängigkeit unseres Vorstellungs- und Erinnerungsvermögens von Licht und Wärme, aber auch vom Pflanzenleben. Eine Landschaft ohne Pflanzendecke ist für die Phantasie tot. Die imposanteste Hochalpenwelt, wenn man mitten drin steht, das überwältigendste Meer, falls es nicht im Durchblick durch ein Küstenidyll geschaut wird, weckt weder einen künstlerisch-schöpferischen Gedanken, noch will es sich selber zum Stoffe der Darstellung fügen. Während anderseits ein einfacher grüner Rain, dessen Horizont sich gegen den blauen Himmel abzeichnet, ein wahres Sprungbrett der Phantasie bedeutet. Darum entstehen die großen Künstler und Dichter in der überwiegenden Mehrzahl in Flügelländern. Da wirkt eine unergründliche Symbolik oder, wenn man will, eine Seelenverwandtschaft zwischen Pflanze und Mensch mit, deren x und y am einfachsten in die Gleichung gefaßt wird: Der Mensch ist ein Landtier.

Vom Sommer gilt, was vom Wein: daß er an seinen Grenzen die edelsten Qualitäten erreicht. Die vordere Grenze freilich, der Juni, pflegt uns im eigensten Sinne des Wortes verwässert zu werden; dagegen erhalten wir im August den Sommer im Extrakt und in der Potenz. Ein paar schöne Augusttage, entschlossen benützt, vermögen für Monate schlechten Wetters zu entschädigen. Der Vorzug des Augusts vor dem Juli beruht in erster Linie auf der beruhigenderen Verteilung von Tag und Nacht. Das völlige Verschwinden der abendlichen Dunkelheit während der Monate Juni und Juli reizt allmählich die Nerven wie eine unaufhörliche Musik, wie ein allzugrelles Kleid, so sehr, daß in dieser Zeit sogar ein Regentag ab und zu als Beruhigungsmittel willkommen geheißen wird. Einen zweiten Vorzug bezieht der August aus der merklichen Vergilbung einzelner Baumgruppen, welche deutlicheres Farbenspiel in die Landschaft einführt. Was innerhalb des Sommers der August, das leistet innerhalb des Tages die zweite Hälfte des Nachmittags. Einen sonnigen Augustnachmittag möchte ich als den ästhetischen Zenit des Jahres bezeichnen.

Jedermann fühlt den wesentlichen Unterschied zwischen einem Herbsttag und einem Sommertag von gleicher Wärme und Klarheit. Dagegen ist es durchaus nicht leicht, die Merkmale dieses Unterschiedes zu erkennen. Das Folgende bedeutet einen Versuch in dieser Richtung.

Wenn wir einen Augustmonat im Tal, ich meine zum Beispiel auf unserer schweizerischen Hochebene, zubringen, gänzlich in sommerlichen Gedanken und Gelüsten befangen, erscheint ohne jede Ankündigung eines Morgens die lokale Farbengebung anders, nämlich satter, voller, leuchtender, reiner, während gleichzeitig die Luftperspektive durch einen Azurschleier selbst dem ungeübtesten Auge wonnig auffällt. Es ist, als ob ein Maler über Nacht eine wärmere, goldenere Palette gerüstet und in der Morgendämmerung die Welt neu gefärbt hätte. An demselben Morgen wird wahrscheinlich auch der erste, wiewohl noch kaum sichtbare Nebel sich gebildet haben. Von da an verschwindet der Glast aus der Natur; den Himmel überzieht fortan nie mehr der weißliche Hitzenebel, und eine Reihe von kristallreinen Tagen oder, ja, Wochen, dieses schönste Vorrecht des Herbstes, kann folgen, ohne dem sommerlichen Störefried, dem Gewitter, zu rufen. Es muß sich also der Herbst vom Sommer in erster Linie durch atmosphärische Kombinationen unterscheiden, welche von dem Verhältnis von Tag zu Nacht, von mittäglicher Wärme und nächtlicher Kühle, von Feuchtigkeit und Trockenheit abhangen. Näher darauf einzugehen, verwehrt mir das Orakel von Delphi, das bekanntlich denjenigen für den Weisesten erklärte, welcher weiß, daß er nichts weiß. Ich begnüge mich mit der optischen Tatsache: Im Herbste erblickt man alle Gegenstände in Verklärung, wie durch eine Glasglocke, wie durch eine Träne.

Dies ist ein Umstand, und ein sehr wichtiger. Es kommen noch mehrere hinzu. Unternehmen wir während desselben Monats jede Woche einen Ausflug nach dem nämlichen Ort, wobei wir für sämtliche untadelhaftes Wetter voraussetzen wollen. Ohne daß wir den mindesten Unterschied der Wärme oder der Luftbeschaffenheit bemerken, wird plötzlich einer der vier Ausflüge, nämlich der dritte, spätestens der vierte, Wald und Feld ausgestorben finden. Alle die Billionen von Insekten, die vorher uns erfreuten oder auch belästigten, sind wie mit einem Schlage vernichtet, bis auf wenige Arten oder verspätete Individuen. Beim zweiten Spaziergang hingen auf jeder Blume drei Schmetterlinge und vielleicht noch ein paar Käfer; jetzt flattern nur noch vereinzelte Nachzügler unstet und kopflos herum. Was ist geschehen? Der Tod hat gemäht, der Tod aber richtet sich in der Natur mehr nach dem Chronometer als nach dem Thermometer. Die größere oder geringere Wärme eines Monats tritt in den Hintergrund vor der chronologischen Tradition des Instinktes, welcher das Leben von Pflanze und Tier für diesen Monat bestimmt. Hiefür einige Beispiele. Die Finken erscheinen und singen Anfang März, gleichgültig, wie der März beschaffen sei, ob es schneie oder taue. Unsere Waldbäume wechseln das Kleid nur unbedeutend früher, ob auch ein Frühjahr von phänomenaler Frühzeitigkeit vorangegangen ist. Wer im April nach Italien reist, in der Hoffnung, dem Mai entgegenzureisen, fühlt sich, was die Vegetation betrifft, in der Hauptsache enttäuscht; nämlich diejenigen Baumarten, die Italien mit uns gemein hat, befinden sich ziemlich in demselben Zustande wie bei uns; die Buchen schlagen bei Genua nicht viel früher aus als bei Zürich. Kleine Zeitunterschiede sind ja ohne Zweifel zu konstatieren, allein sie stehen in keinem Verhältnis zu den gewaltigen Temperaturunterschieden. Das sprechendste Beispiel für das enorme Übergewicht der Jahreszeit vor der Temperatur für das Erwachen der Pflanzen gibt folgende Vergleichung: Unsere Obstbäume lassen sich im Februar oder März durch sechzehn Grad Wärme nicht verlocken, Blätter zu treiben; im Norden dagegen steht nach dem ersten warmen Tag die gesamte Pflanzenwelt im Trieb. Deshalb, weil im Norden die Wärme unfehlbar den Sommer einleitet, während bei uns vorübergehende Wärme auch außerhalb des Sommers erhältlich ist. Die Pflanzen aber richten sich vor allem nach dem Sommer. Etwas Ähnliches, nur in umgekehrter Form, findet nun gegen den Herbst hin statt: in der zweiten Hälfte des August, mag auch der schönste Himmel strahlen, ist das Insektenleben im ganzen und großen abgeschlossen (wobei für den Schmetterling das Verblühen der Skabiose der entscheidende Umstand zu sein scheint). Wir spazieren fortan beim herrlichsten Wetter im toten Wald.

Hiezu gesellt sich endlich das zunehmende Verwelken der Blätter, ein so auffälliges Merkmal des Herbstes, daß dessen symptomatische Bedeutung noch keinem Menschen entgangen ist. Ja, gewöhnlich wird dieser Umstand überschätzt, indem der Herbst ganz allein von ihm datiert zu werden pflegt. Den Botaniker gemahnen auch gewisse herbstliche Pflanzen daran, daß es mit dem Sommer zu Ende geht, am einleuchtendsten die Herbstzeitlose und das Weidenröschen.

Farbenpracht, Klarheit und Stille sind demnach die Haupteigenschaften der herbstlichen Natur. Die zwei ersteren aber zeigen sich in so wunderbarer, unvergleichlicher Schönheit, daß man unbedingt dem Herbst den Vorrang vor dem Sommer zusprechen müßte, wenn nicht das Leben ein so unerläßliches Erfordernis für die höchsten Stufen des Naturgenusses wäre. Weshalb auch eine Herbstlandschaft durch verspäteten Besuch aus der Zoologie sofort unendlich gewinnt, durch die Wespe, welche sich auf die Traube setzt, durch den Admiralschmetterling, der den Apfelbaum umschwebt, durch die Hasen im Weinberge und die Kühe auf der Wiese.

Den malerischen Reichtum des Herbstes auch nur übersichtlich abschätzen zu wollen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit; er übersteigt die Phantasie und das Begriffsvermögen. Nur die Ursachen desselben seien versuchsweise skizziert. Also zuerst die Luftbeschaffenheit und der Sonnenstand, welche statt des Lichtes die Farbe vorherrschen lassen, ein unermeßlicher Vorzug vor dem Sommer. An einem klaren Herbsttage gibt es keine Gegend und keinen Gegenstand, der nicht schon aus mäßiger Entfernung vollendet schön erschiene; jeder Spaziergang, wohin man sich auch wende, wird zu einem märchenhaften Sonnentraum. Dazu kommt der ununterbrochene Wechsel des Gemäldes, dank der Kürze des Tages. Es muß einer im Sommer um vier Uhr aufstehen, um den Reiz der Morgenfrische kennen zu lernen. Um neun Uhr drückt die Sonne und gleißt das Licht, welches nunmehr den Tag bis um drei Uhr nachmittags gleichmäßig und gleichfarbig regiert. Im Herbst dagegen gelangt selbst der faulste Langschläfer noch zum Morgengenuß, und der Temperaturunterschied der verschiedenen Tagesstunden bewirkt ununterbrochene Farbenveränderungen. Was im Sommer die Anziehungskraft der Sonnenuntergänge ausmacht, nämlich die Bewegung in der Beleuchtung, das haben wir an einem reinen Herbsttage von Morgen bis Abend.

Erhöht wird das Farbenspiel durch den Herbstnebel, diesen zarten, wonnigen Duftschleier. Seine Schönheit kann unmöglich überschätzt, kaum hinreichend gewürdigt werden. Lange, ehe der Nebel weicht, läßt er einzelne goldene Lichtwellen durch seinen Silberstaub dringen, eine frohe Morgendämmerung mit der Siegesgewißheit der nahen Sonne. Man ahnt den prächtigen Mittag, man genießt ihn voraus. Mit seinem Schwinden entdeckt der Nebel Streifen besonnten Bodens, welche wie Farbeninseln in der echt malerischen Umhüllung eines metallischen Grau erglänzen. Steigt der Nebel senkrecht, dann entsteht zuweilen das märchenhafte Bild, daß die Erde in Licht, Farbe und Glanz strahlt, während den Himmel eine Decke verhüllt. Also eine völlige Umkehrung des Lichtstroms. Wo aber der Nebel zerreißt, da glüht eine Farbe von unvergleichlicher Innigkeit. Und während des ganzen Tages schweben Stücke des Nebelschleiers bläulich in den Talgründen. So sehr gehört der Nebel zur Vollendung herbstlicher Schönheit, daß ihn das Auge vermißt, wo es ihn nicht findet, mag auch die Gesundheit ihn gerne entbehren. Reisen wir zum Beispiel im Oktober nach Italien, so haben wir die Empfindung, daselbst einen Spätsommer zu treffen; den Herbst vermögen wir dort bei abwesendem Nebel nicht anzuerkennen. Umgekehrt verliert natürlich der Nebel allen Reiz für uns, wenn er beharrt, wenn er uns den Tag wegstiehlt. Das klassische Lied des Herbstes ist daher das Land der kurzen Nebel und des langen Sonnenscheins: die Rheingegend.

Das Vergilben der Blätter verwandelt ferner jeden Baum und Strauch zu einem Blumenstrauß, und zwar weit eindrucksvoller, weil ausgiebiger und kühner, als die Blüte das vermag. Die zarten, kleinen Blumenbilder des Frühlings müssen mit unendlichen Flächen von Grün konkurrieren, eine Konkurrenz, die sie (mit Ausnahme der Obstbäume) nicht aushalten. Im Herbst nun ist jenes plumpe Grasgrün überhaupt nicht mehr vorhanden; es hat sich zersetzt und abgetönt; dazwischen zündet ein Baum nach dem andern seine fabelhaften Farbenlichter an. Es ist eine Illumination, man kann es nicht anders nennen. Keine Kunstfarbe in der Skala rot, gelb, grün, weiß und braun, und wäre sie noch so blendend, gibt es, welche der herbstliche Wald nicht aufwiese; man denke beispielshalber an das reine Schwefelgelb der Birkenblätter vor dem weißen Stamm oder an den feurigen Purpur der Jungfernrebe, der für sich allein genügt, die Städtchen des Genfersees malerisch zu illustrieren.

Zu den Blättern gesellen sich die Früchte, eine ganze Welt von Gold und Farben, sonnengesättigt, ein Generalerbe des Sommers, sein Extrakt und Nachlaß. Ein Naturprodukt, das von der bildenden Kunst zu so intimen Stimmungsgemälden benützt werden kann, wie das hinsichtlich der Frucht der Fall ist, hat hiemit einen außergewöhnlichen Schönheitsgehalt bewiesen.

Der Herbst zählt eine ärmliche Flora gegenüber dem Frühling, aber eine kühnere, leuchtendere, in welcher namentlich das Rot reichlich vertreten ist. Frucht und Herbstflor zusammengenommen erheben jetzt das bescheidene Heimwesen des Bauers in den ersten Rang. In dem unscheinbaren Dörfchen, wo in buchsumfriedigtem Gärtchen Balsaminen, Astern, Kapuziner, Sonnenblumen und Kürbisse wachsen und die Immen hausen, dort feiert der Herbst seine schönsten Feste, still, wie das seine Art ist. Der Winter gehört der Großstadt, der Frühling der Mittelstadt, der Sommer dem Wald und den Bergen, der Herbst dem Dorfe.

Endlich wollen wir einen Vorzug des Herbstes ja nicht vergessen: er ist unsere zuverlässigste Jahreszeit, welche oft für das ganze Jahr entschädigen muß. Ein anständiger Sommer wird ihm zwar überlegen bleiben; allein wann haben wir einen anständigen Sommer? Und während wir über die geraubten Sommerhoffnungen klagen, zahlt der gute, treue Herbst fast die ganze verlorene Summe mit seiner Kleinmünze wieder aus. Müßte ich also die Frage nach der schönsten Jahreszeit beantworten, so würde meine Antwort lauten: Grundsätzlich ist es der Sommer, tatsächlich der Herbst. Lieber aber würde ich von einer guten und einer bösen Jahreszeit sprechen. Dann wären Winter mit Frühling die böse, Sommer mit Herbst die gute Jahreszeit.

Wann hört der Herbst auf? Wir sind die letzten zwei Male hierüber so deutlich belehrt worden, als gälte es ein wissenschaftliches Experiment: sobald es friert, oder genauer: sobald wir frieren, oder noch genauer: sobald wir nicht mehr von der Natur so viel Wärme erhalten, daß wir einige Stunden behaglich draußen sitzen können, ist der Herbst vorbei. Da hilft kein Glanz und keine Farbe mehr. Wenn wir uns vor der atmosphärischen Luft flüchten oder schützen müssen, haben wir den Winter. Hoffen wir nur, daß wir alle nächsten Juni vollständig beisammen sein werden! Denn vor dem Juni lobe ich den Winter nicht.


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