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Die Zeit der Ausflüge ist wieder gekommen, und Wegweiser werden, wenn schon von manchen als überflüssig, doch von niemand als lästig empfunden. Wer nicht in Wirklichkeit derjenigen Richtung folgt, welche dem jedesmaligen Ratgeber besonders verlockend und empfehlenswert scheint, begleitet ihn immerhin gern mit der Phantasie. Hundert Reiseziele zu erwägen und in Gedanken zu versuchen, um schließlich ein einziges auszuführen, das heißt den Sommer hundertfach auskosten; denn was man in der Phantasie liebevoll angeschaut hat, das hat man auch erlebt und genossen.
Wenn es sich darum handelt, die schönsten Ziele zu bezeichnen, so könnten wir alle unsere Worte sparen; denn es gibt keinen Schweizer, der sie nicht im Traum zu nennen vermöchte. Das Berner Oberland und der Vierwaldstättersee mit allem, was darum und darob hängt, stehen nun einmal über der Konkurrenz; das sind unsere klassischen Gegenden, das heißt solche Gegenden, deren Eindruck auf den Menschen nicht erst Stimmung oder besonderen Natursinn voraussetzt, sondern die zu jeder Zeit auf jeden Menschen überwältigend wirken und die durch keine Wiederholung des Besuches an Reiz verlieren.
Aber man kann auch auf Unbekannteres aufmerksam machen, Vergessenes in Erinnerung rufen und Unterschätztes nach Gebühr preisen. Und in dieser Hinsicht bietet unsere herrliche Schweiz dem Wegweiser tausend Aufgaben. Wer ist aber zum Wegweiser berufen? Jeder, der etwas Entzückendes genossen hat und möchte, daß der Genuß seinen Mitmenschen ebenfalls zuteil würde. Glück macht mitteilsam, und von allen Geschwätzigkeiten darf wohl der Jubel die leidlichste heißen.
Zufall und Laune wollten es, daß ich im vergangenen Herbst in den letzten fleckenlosen Tagen binnen einer einzigen Woche die Täler des Vierwaldstätterseegebietes aufsuchte, und nun vermag ich sie nicht mehr zu trennen, sie gehören in meinem Erinnerungsbilde zusammen; ich muß sie aneinanderhalten und vergleichen. Wie die meisten der tiefern und größern Alpentäler, zum Unterschied von den Juraschluchten, eignen sie sich nicht in ihrer ganzen Ausdehnung zu Fußpartien, teils wegen des zu großen Zeitaufwandes, teils wegen der Ermüdung und Erhitzung, womit ein längerer Fußmarsch auf der Landstraße selbst den rüstigen Fußgänger belästigt. Das Ideal wäre für diese Strecken die Fahrt im offenen Privatwagen in Verbindung mit auserlesenen Spaziergängen und Abstechern. So wurde ja auch ursprünglich die Schweiz von den Fremden aufgesucht und auf solche Kombinationen ihr Ruhm aufgebaut. Ich teile die Meinung unserer Vorfahren, daß die Wagenfahrt von Tal zu Tal, über Berg und Paß ihre besondere und unersetzliche Poesie hat, namentlich in angenehmer Gesellschaft. Da jedoch die Schweizerreise im Privatwagen aus guten Gründen, vor denen ich mich wie jeder andere schleunigst beuge, für die Praxis des Inländers außer Betracht fällt, so muß man innerhalb der größern Täler erst die wirklich lohnenden Punkte kennen und diese dann von der richtigen Post- und Eisenbahnstation angreifen. Auf diese Weise läßt sich in unglaublich kurzer Ausflugszeit eine unermeßliche Summe von Schönheit sammeln, während man bei fortlaufendem, anstrengendem Marsch halbe Tage der kostbaren Ferienzeit ohne entsprechenden Gewinn ausgibt.
Das Brünigtal, einst eine Fremdenverkehrsstraße ersten Ranges, wie der Gotthard und der Hauenstein, ist gegenwärtig so vereinsamt, wie man sichs kaum vorstellen würde. Zwar lasse ich mich belehren, daß in den Fremdenmonaten noch mancher Wagen über den Brünig steuere, aber, was ich selbst bei wiederholtem Besuch während der leuchtendsten Sommertage getroffen, ist majestätische Bergesstille, Einsamkeit. Auf eine Stunde Weges kaum eine Begegnung, und dann am ehesten ein armer, humpelnder Handwerksbursch oder ein rennwütiger Velojüngling mit dem Tannenzweig als Radschuh. Die Einsamkeit gewinnt durch die prächtige Landstraße, dieser sprechendsten Erinnerung an alte Herrlichkeit, noch Verstärkung, ähnlich wie zum Beispiel die alte Poststrecke von Bern nach Solothurn. Von allen Grabmonumenten kenne ich keine malerischeren als vergangene Volksstraßen.
Einer der schönsten Spaziergänge, die ich überhaupt kenne, beginnt gleich bei der Eisenbahnstation Brünig, talabwärts, entweder gegen den Glutkessel des Brienzersees, mit den Gletschern und Wasserfällen als Horizont und mit einer üppigen, heißen Vegetation und Insektenwelt zur Seite, oder noch besser gegen Lungern. Aussicht gibt es auf dieser Seite zwar nicht, aber eine Hochwaldlandschaft von unvergleichlicher Stimmungsgröße. Jeder Schritt ein Genuß. Den Abstieg vom Brünigbahnhof nach Lungern möchte ich Tag für Tag wiederholen. Zu Fuß wohlverstanden; ein bis zwei Stündchen.
Ein zweites nicht zu verachtendes Ausflugsziel des Brünigtales ist der Marsch längs dem Lungernsee, auf der hier ganz ebenen Landstraße. Der Weg läuft am buschigen Bergeshang, ist aber sonnig, weswegen er sich nicht für die mittleren Tageszeiten empfiehlt; auch gehen die Reize der hübschen Wasserspiegelungen und Wasserfärbungen bei grellem Tageslicht verloren; aus diesen Gründen sowie wegen meiner Abneigung gegen mehrstündige Märsche auf der Landstraße vermeide ich es, den Spaziergang längs dem Lungernsee mit dem Abstieg von Brünig nach Lungern zu verbinden, obschon sich beides in der Natur aneinanderschließt.
Und nun das dritte, das schönste: der Kaiserstuhl. Kaum hat man den Lungernsee verlassen, so schwingt die Straße um, und die Welt fällt unvermutet in jähe Tiefe. Unten liegt eine lachende Landschaft mit Kirche und Dorf Giswil. Zur Linken rauscht in einer verborgenen Bergschlucht ein mächtiger Wasserfall, eine steile, mit Hochwald bestandene Halde führt zu Tal. Und kein Mensch und außer dem Wasserfall kein Ton. Aber das läßt sich nicht beschreiben, das muß man sehen. Und glücklich, wer es sehen kann. Das ist eine der klassischen Schweizerlandschaften, wie sie vor Zeiten Europa erträumte und ersehnte, ehe das Hochgebirge allein und einseitig die Aufmerksamkeit in Beschlag nahm. Es liegt neben aller erhabenen Größe eine ruhige, innige Seligkeit über diesem Bilde, Herz, Augen und Nerven erquickend. Etwas, in das man sich nicht tief genug hineinschauen kann, von dem man sich fast nicht zu trennen vermag und das man nie vergessen wird. Ich könnte mir einen Menschen denken, der eine Reise von Stockholm nach der Schweiz unternähme, nur um ein paar Stündchen oben aus der schattigen Halde des Kaiserstuhls ins Tal hinunterzublicken und dem Wasserfall zu lauschen. Den Menschen könnte ich mir um so leichter denken, als ich selbst jener Mensch wäre, wenn ich in Stockholm wohnte.
Ich glaube nicht, daß ich mit der Phantasie in jenes Bild hineintrage, was nicht darin ist. Denn ich pflege meine Eindrücke zu prüfen und meine Besuche zu wiederholen, ehe ich es wage, eine Gegend oder Örtlichkeit zu preisen. Nun, ich habe immer den Ausblick von Kaiserstuhl groß, innig und traumhaft wiedergefunden.
Geht man dann endlich, mühsam sich trennend, den steilen Stutz hinunter, so erwartet einen unten eine neue Überraschung: eine Waldallee mit Bäumen von fabelhafter Höhe, dazu ein Baumschlag vom vornehmsten Adel. Ich hatte bisher die Wälder und die Parkgänge Dänemarks als das Ideal eines buschigen Baumschlages betrachtet; seit ich aber das Brünigtal und im besondern den Giswiler Wald wiedergesehen, tritt jene Erinnerung zurück. Die Buchen von Dänemark und Holstein werden wohl weicher und üppiger sein, ihr Geäst bildet einen volleren, größeren Mantel, bis auf die Erde hangend; aber hier entschädigt im Übermaß das riesige Säulenwunder. Man traut seinem Auge nicht, wenn es den staunenden Blick messend zu diesen prächtigen Laubdächern erhebt.
Überhaupt gilt mir das Brünigtal als das Riesental, teils wegen seiner ruhigen Liniengröße, die an den Traum eines Giganten erinnert, teils wegen der überwältigenden Höhe seiner Wälder. Schon um der Bäume willen verdient jene Gegend den Besuch.
Die gänzlich ebene Talsohle von Giswil an gegen Alpnach eignet sich besser für die Wagenfahrt als für den Fußmarsch. Was für eine Menge lieblicher Punkte übrigens auf den Höhen, an den Bergflanken und in den Seitentälern liegen, das wissen die zu erzählen, die dort einen Sommeraufenthalt machen, und die sind zahlreich und werden jährlich noch zahlreicher. Auch habe ich beobachtet, daß die Sommerfrischler öfters die nämlichen bleiben, mit andern Worten, daß sie gerne wiederkehren, was immer die beste Empfehlung bleibt. Auf die ganz eigentümliche Färbung der Sarner Alpen ist, wie ich vermute, wohl schon oft aufmerksam gemacht worden, da sie einem sofort auffällt; es ist eine heitere, fröhliche Aquarellfärbung, in welcher jeder dunkle Ton und jede starke Schattierung fehlt; das ganze Gebirge von oben bis unten leuchtend und lachend, wie eine Appenzellerlandschaft, nur daß hier noch das schöne Seespiegelbild und die große, einfache Linienführung hinzukommt.
Nun noch einige praktische Notizen, das Brünigtal betreffend. Wer mit der Eisenbahn von Luzern über den Brünig fährt, kann sich und seinen Begleitern eine entzückende Attrappe bereiten, wenn er bei der Station Giswil, während die Zahnradwagen gerüstet werden, um das Haus herum auf die Landstraße tritt. Da schauen die Wetterhörner plötzlich riesengroß und silberweiß über den Wald herunter. Das ist der erste überwältigende Gruß aus dem Berner Oberland. Und zwar sind die Gletscher immerhin noch ferne genug, um keine dunklen Flecken zu zeigen.
Oben auf dem Brünig, in der Bahnhofrestauration, wird, wenigstens nach meiner Erfahrung und meinem Urteil, ungewöhnlich guter Tisch geführt, so daß es sich empfiehlt, seinen Hunger oder Appetit dort zu stillen. Die Entfernung des Brünig von Luzern wird gewöhnlich im Inland, wo wir noch ein bißchen die alten Posterinnerungen im Gedächtnis haben, überschätzt. Man kann zum Morgenkaffee auf dem Brünig ankommen und das ganze obere Tal bis Giswil zu Fuß in einem starken halben Tag zurücklegen oder nach Brienz zu Fuß hinuntersteigen, dort zu Mittag essen und gar noch nach dem Gießbach fahren und am frühen Abend wieder in Luzern zurück sein. Schließlich noch eine Wiederholung zur bessern Bekräftigung: Um dem Lungernsee den Reiz abzugewinnen, den er hat, muß man ihn am frühen Morgen oder noch besser am späten Abend, bei untergehender oder eben untergegangener Sonne, besuchen. Der Kaiserstuhl im Gegenteil verlangt klaren, vollen Sonnenschein, den prächtigen Brünigwald gegen Lungern wird man zu jeder Tageszeit und fast bei jedem Wetter stimmungsvoll finden.
Ich übergehe das Engelbergtal, welches durchaus die Wagenfahrt heischt und welchem einst eine Eisenbahn gut bekommen wird. Nur die letzte Partie, der Anstieg von Grafenort nach Engelberg, eignet sich zum Spaziergang, und zwar sowohl der Fahrweg wie der Fußweg. Über den Engelbergerboden und Dorf Engelberg als Kurort und Hochgebirgsausflugsstation kann in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein. Da jedoch Ratschläge keinen andern Zusammenhang erheischen als den Vorteil des Lesens, so möchte ich hier beiläufig auf Wolfenschießen wegen seiner Heilkraft für schwindsüchtige Geldbeutel hinweisen. Einfach gesagt: Wolfenschießen habe ich bei mehrmaliger flüchtiger Einkehr auffallend billig gefunden; wem also Engelberg zu teuer sein sollte, der kann sich in Wolfenschießen einnisten und, falls er ein rüstiger Fußgänger ist, von dort aus das eine oder das andere Mal Engelberg und die Engelberger Höhen besuchen; abgesehen von den nächsten Bergen und lieblichen Pässen gegen den Vierwaldstättersee hin und dem Stanserhorn, dessen einladendere, freundliche Rückseite sich von Wolfenschießen leicht ersteigen läßt. Die Dörflerinnen und Kurgäste spazieren aufs Stanserhorn, als wärs ein Uetliberg.
Wer dagegen mehr die Zeit als die Finanzen zu sparen hat, dem sei in Erinnerung gebracht, daß man von Luzern aus bequem in einem Tage Engelberg besuchen kann, hin und zurück. Es bleibt sogar noch Zeit für einen einstündigen Spaziergang am kühlen Bach und längs den nächsten Waldhöhen vor dem Mittagessen und nach dem Mittagessen, wenn man zeitig aufbricht, zum Fußmarsch nach Grafenort hinunter, wo man die Post zur Rückfahrt findet. Auch kann einem diese Eilfertigkeit nicht zum Vorwurf gemacht werden, da, wenigstens nach meinem Urteil, die Herrlichkeit des Engelberger Tales sich auf einen einzigen Punkt konzentriert, die Schwenkung oben über dem Wald nach dem Dorf, wo der Titlis zum erstenmal auftaucht. Aber, wie gesagt und wie natürlich, gestaltet sich solch eine Geschwindfahrt zu einem teuren Sonntagsvergnügen.
Dagegen möchte ich dem wenig begangenen Muotatal hier das Wort reden. Warum dieses Tal von den Fremden nicht eben häufig aufgesucht wird – immerhin verhältnismäßig noch häufiger als von uns Schweizern –, erklärt sich leicht, da es weder zu einem bequemen und beliebten Paß führt noch Kurstationen und komfortable Gasthöfe aufweist; das Muotatal stellt sich mithin dem Fremden wie eine entlegene Sackgasse dar, in die man nur dann, wenn man zufällig in Brunnen weilt, eine Spazierfahrt unternimmt. Solche Spazierfahrten geschehen übrigens mit überraschender Regelmäßigkeit, da man im Muotatal stets Equipagen und Fiakern mit Fremden begegnet. Ein Beweis, daß das Muotatal sich im Auslande eines guten Rufes erfreut; aber bei uns? Die wenigsten haben es je betreten; viele wissen überhaupt nichts von ihm, als daß die Muota hindurchfließt, eine Tatsache, welche bei dem Namen Muotatal sich mit großer Wahrscheinlichkeit voraussetzen läßt.
Ich bekenne für das einsame und einförmige Muotatal eine ausgesprochene Vorliebe. Wenn ich mich aber frage, worauf sie sich stützt, so denke ich zu allererst an den wonnigen Eintritt ins Tal, von Schwyz her, an die ersten Windungen der Landstraße über der Bachschlucht, an die Stille, an die imposante Höhe der Straße über dem kräftig brausenden Wasser, an das finstere Grün der Wälder, da bei der Enge des Tales stets die Hälfte des Bildes in tiefem, schwärzlichem Schatten liegt, an den schmalen Ausschnitt Himmel zwischen den Bergen, an die schwindelhafte Höhe des gegenüberliegenden Stoos, dessen Belvedere wie ein Adlernest auf einen herunterblickt. Dieser erste Teil, also der Ausgang des Tales gegen Schwyz, lohnt den Fußmarsch reichlich. Immerhin benütze man, falls irgendwie Gelegenheit vorhanden ist, für die nicht eben lange, aber heiße Strecke von Schwyz bis zum Eingang des Tales die Post oder ein anderes freundliches Vehikel.
Nach einer halben Stunde, vom Eintritt ins Tal gerechnet, führt ein Seitensträßchen im Dreieck abwärts über eine Brücke nach dem andern Ufer, in der Richtung nach Stoos, Morschach und Brunnen. Das Sträßchen sieht einladend aus, hält aber nicht, was es verspricht; die Landstraße von Schwyz her läuft höher und großartiger. Dagegen die paar Schritte zur Brücke hinunter soll man jedenfalls gehen und dort weilen, so lange man Zeit hat; denn es ist ein zauberhafter Punkt, nach meiner Meinung das Beste im Muotatal. Sei es nun die jähe Riesenwand des Stoos, welche bolzgerade darüber steht, oder das wilde Brausen der Muota, welche tief unter der Brücke im schäumenden Wasserfall dahinschnellt, oder das wechselnde Spiel der Sonnenstrahlen in dem finstern Tal zwischen den weichen Baumgruppen, jedenfalls ist es ein Bild ersten Ranges, wenn man den Wert nach der poetischen Stimmung schätzt. Freilich bedarf es einiger Zeit, bis das Bild einem alles mitteilt, was es enthält.
Jene Brücke heißt im Volksmund die Suworowbrücke; ein Name, auf welchen auch die übrigen Brücken des Muotatales Anspruch hätten. Welcherlei Art gerade das Gefecht um diesen Punkt gewesen, das wird wohl schwer mit Sicherheit zu ermitteln sein; doch läßt sich eine gewisse Wichtigkeit der Örtlichkeit nicht verkennen, so daß wohl der Streit gerade hier heftig gewesen sein mag. Hierüber laufen im Volke abenteuerliche, sagenhafte Traditionen um; auch traue ich den Löchern in der Brücke, die von Kanonenkugeln herrühren sollen, nicht allzu sehr, denn das Gebälke muß ja seit der Russenzeit wiederholt und gründlich ausgebessert worden sein.
Immerhin, Suworow beschäftigt nun einmal unwillkürlich die Phantasie eines jeden, der das Muotatal besucht. So erging es auch mir, als ich zum erstenmal als Schulbub an jener Brücke saß; damals waren mir Russen und Kosaken märchenhafte Figuren, von denen ich froh war, wenn ich sie ungefähr an den richtigen Ort der Landkarte unterbringen konnte. Auch schmerzte mich sehr die Aussprache des Namens Suworow, die ich meinem Geschichtslehrer nicht recht machen konnte. Wie das übrigens so geht, kannte der Lehrer sie erst recht nicht. Denn der Name lautet auf russisch nicht Suwarow, sondern Suworow, mit dem Ton auf der Mittelsilbe und einem scharfen S am Anfang. Geschrieben sieht er in russischen Buchstaben folgendermaßen aus: Cybopobr. Seither habe ich nicht nur die Russen kennen gelernt, sondern auch einen Enkel des berühmten Marschalls gesehen, einen General Suworow, der in Fellenbergs Institut erzogen worden war und mit gemütlichem Behagen ein paar Brocken Bernerdeutsch zum besten zu geben liebte.
Damals, als Schulbube, blickte ich auch scharf in den Klöntalersee, ob ich vielleicht der Glückliche wäre, der die versenkte Kriegskasse entdecke. Jetzt laß ich das bleiben, denn ich bin felsenfest davon überzeugt, daß das Geld, vorausgesetzt, daß solches sich überhaupt in der Kasse befand, was bei Kriegskassen keineswegs selbstverständlich ist, den Weg in die Taschen und nicht ins Wasser genommen hat.
Aber noch andere, nähere und wichtigere historische Phantasien suchen mich hier wie in den benachbarten Iberger und Schwyzer Tälern heim: hier ist unser eigenstes, politisches Vaterland. Mögen andere nach solchen Punkten wallfahrten, welche die poetische Sage verklärt, ich halte es mit der ernstern, tiefern Poesie der Geschichte, und meine Andacht versenkt sich daher auf das Gebirge und Tal und Volk und Sitte und Sprache der Urschweiz.
Unmittelbar hinterhalb der Suworowbrücke bietet die Landstraße noch manches stimmungsvolle Motiv, bis sich das Tal muldenförmig ausweitet, womit die Landstraße aus dem Bereich der überschattenden Berge tritt und der Fußmarsch sein natürliches Ende findet, um der Post- oder Wagenfahrt zu weichen. Man erkennt dem Innern des Muotatales wenig Reizendes zu; ich kann dem Urteil nicht widersprechen, muß es aber einschränken. Das Labyrinth von Kuppen und Zacken, welches den Horizont abschließt, hat etwas ganz Eigenes, und bei günstigem Licht, zum Beispiel beim Abendrot oder bei Mondschein, gewährt die schimmernde Muota mit ihren breiten Ufern und ihren Tannenbeständen das Vorbild einer Calameschen Landschaft.
Auch der Pragelpaß scheint mir die Mißachtung, die er erleidet und an welcher wohl die primitiven Pfade eine Hauptschuld tragen, nicht zu verdienen. Für den verhältnismäßig einförmigen Aufstieg – soweit überhaupt Bergpartien einförmig sein können – entschädigt reichlich das plötzliche Auftauchen des Glärnisch und der entzückende Abstieg ins unvergleichliche Klöntal. Aber freilich, viel Zeit kostet der Pragel; und allein möchte ich ihn nicht bereisen; er will kleine, aber auserlesene und fröhliche Gesellschaft.
Was dann den Stoos betrifft, der das Muotatal beherrscht, so ist sowohl ein Ausflug dorthin empfehlenswert als ein längerer Aufenthalt. Wer an Schwindel oder Ängstlichkeit leidet, geht das hübsche Fahrsträßchen besser zu Fuß. Dabei lasse er sich nicht durch die Länge und die Vexierwindungen des aussichtslosen Waldweges entmutigen; wer hoch hinauf will, muß eben auch weit steigen. Plötzlich, wenn die lang ersehnte Orientierung und Aussicht endlich erscheint, ist man auch schon angelangt; und die immer schauerlicher werdende Höhe weitet sich zu einem bequemen grünen, freundlichen Plateau aus, ähnlich einer Rigistation, auf welchem das Kurhaus steht, ein gewaltiges, palastähnliches Chalet, ungemein wohnlich und luftig gebaut und, beiläufig gesagt, auch gut geführt. Man sage, was man wolle, oben über den Wolken anzukommen und dort blanke Zimmer und die feinsten, duftigsten, frischgebackenen Semmeln vorzufinden – das ist auch eine Kultur, und keine üble. Vermöge der gänzlichen Abgeschlossenheit des Stoos in Verbindung mit seinen bequemen Matten eignet sich der Aufenthalt namentlich für Familien und für erholungsbedürftige Kinder, falls diese gehorsam sind und unter guter Aufsicht gehalten werden. Dagegen führe man eigenwillige, stürmische Knaben wegen der immerhin recht nahen Abgründe besser an einen andern Kurort.
Meine Empfehlungen und Ratschläge machen keinen Anspruch auf Unanfechtbarkeit; vielmehr bleibe ich mir deutlich bewußt, daß sie ‹subjektiv› sind, wie man das so nennt, das heißt, ich sage, ohne zu fragen und zu vergleichen, wie andere bereits geurteilt haben, einfach, was ich selbst gesehen und empfunden, das aber sage ich mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit hinsichtlich der Genauigkeit meiner Eindrücke. Nicht unbedingte Richtigkeit, sondern peinliche Wahrhaftigkeit ist also mein Bestreben. Immerhin hege ich die Überzeugung, daß der Leser, der sich etwa durch meine Wegweisung anregen läßt, den einen oder andern der empfohlenen Punkte aufzusuchen, den Ausflug nicht als einen verlorenen zählen wird. Und ich selber werde jedenfalls, von der Erinnerung und Sehnsucht getrieben, noch manchmal das Brünigtal und das Muotatal aufsuchen, wenn nicht unvermutete Hindernisse eintreten, die jeden Menschen treffen können.
Namentlich aber möchte ich mich vor dem Mißverständnis verwahren, daß eine Empfehlung der einen Gegend als ein indirektes Wort zu Ungunsten anderer gedeutet werde. Möge niemand sich von denjenigen Örtlichkeiten abhalten lassen, die er schon als ihm besonders zusagend erprobt und liebgewonnen hat; denn die eigene Erfahrung bleibt schließlich doch der beste Berater. Da denke ich zum Beispiel an eine Talschaft in größerer Nähe von Zürich, das liebliche Iberg. Warum soll ein Zürcher, wenn er einen Alpenkurort von beträchtlicher Höhe sucht, nicht das freundliche und billige Iberg wählen?
Ich hatte mir das letzte Mal, als ich vorüberstreifend dort einkehrte, fest vorgenommen, einmal länger dort zu lagern; und noch regt sich wieder mein Wunsch in Erinnerung an das lachende Fleckchen über dem tiefen, ernsten, duftigen Tal mit dem wunderbaren Paß nach Schwyz hinunter, neben den Mythen vorbei; und noch beneide ich das fröhliche, lebenslustige Kurvölkchen, das dort auf dem engen Plätzchen zusammengepfercht mutwillig sein Wesen und Unwesen trieb. Man muß sich auch ein wenig unnütz zu machen verstehen; das gehört zur richtigen, vollen Ferienerholung.