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17.

So sah sie es an einem Nachmittage, als sie sich anschickte, in das Dorf zu gehen, um die Anne zu besuchen, die seit gestern so viel kränker geworden war, daß der alte Doctor, den Rose gerufen hatte, das Schlimmste befürchtete. Sie war heute Vormittag schon dort gewesen, wo sie die Kranke wieder besser gefunden hatte; sie wollte aber doch der Sicherheit wegen gleich noch einmal nachsehen. Mit einem Korbe unter dem Arm, in welchem sie einige Wäsche trug, die sie für die Kranke bestimmt hatte, machte sie sich auf den Weg. Das Dorf war wie ausgestorben; in dem Bache gurgelte und plätscherte das braune Wasser, hier und da hörte man aus den Höfen das dumpfe Klopfen der Drescher auf den Scheundielen, oder das melancholische Krähen eines Hahnes – sonst war Alles still wie auf einem Kirchhofe. –

Rose ging auch schnelleren Schrittes, als sonst schon ihre Gewohnheit war. Sie fürchtete, der Regen möchte wieder anfangen; außerdem trieb sie eine Unruhe, die fast zur Angst sich steigerte, und die sie sich, da sie die Anne verhältnißmäßig so gut verlassen hatte, nicht erklären konnte. Als sie von der Hauptstraße in die schmalere Seitengasse gebogen war, in welcher Klaus Weber wohnte, kam ihr ein Mann entgegen, welcher die Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, und, nach seinem schwankenden Gange zu urtheilen, betrunken sein mußte. Rose wich so weit als möglich auf die Seite, aber der Mann taumelte ihr entgegen und sie erkannte zu ihrem Schrecken den Wirth zum Rothen Hirschen, den Einzigen im ganzen Dorf, von dem sie wußte, daß er ihr und dem Vater feindlich war, der noch dazu erst ganz vor Kurzem mit heftigen Worten vom Vater zum Hause hinausgewiesen war. Der Mensch blieb stehen, spreizte die Beine, steckte die Hände in die Taschen und stierte sie mit seinen trunkenen Augen an.

»Lassen Sie mich weiter gehen,« sagte Rose, »oder ich rufe um Hülfe.«

Des Trunkenen häßliches Gesicht wurde durch ein zorniges Grinsen noch mehr entstellt.

»Aristokratenbrut,« knirschte er durch die Zähne, »wollt', ich könnt' einmal an Euch! aber ich thu's auch noch!«

Und sich mit der Schulter gegen die Wand lehnend, um einen Stützpunkt zu haben, schüttelte er die geballte Faust gegen Rose.

Rose sah, daß sie für den Augenblick von dem Elenden nichts weiter zu fürchten habe; sie ging deshalb, die Augen fest auf ihn gerichtet, schnell an ihm vorüber und eilte die Gasse hinab, ohne sich umzusehen. Der Mensch stierte ihr nach, so lange er sie sehen konnte. Dann richtete er sich mühsam auf und taumelte weiter. »Ich thu' es,« murmelte er, in der Luft fingerierend, »ich thu' es, thu' es, heute noch thue ich's.«

Als Rose an Claus Weber's Hütte kam, sah sie ein paar alte Weiber vor der Thür stehen, die, sobald sie das Fräulein erblickten, zu lamentieren und Gebehrden zu machen begannen.

»Ach, da kommt Fräulein Röschen! – Gott der Herr vergelt' es Ihnen!«

»Was ist's? ist die Anne wieder kränker?« fragte Rose, erschreckt durch das Heulen der Frauen.

»Kränker! ach, Du lieber Gott! todt ist sie – das arme Wurm! – Seit einer Stunde, und der Doctor ist auch schon dagewesen und ist jetzt nach Bolau gefahren und hat gesagt: er könne nicht mehr thun und man solle nur zu dem Fräulein Röschen auf den Hof schicken. Die würd' schon sprechen, was geschehen soll.«

Rose trat, ohne ein Wort zu erwidern, in das Haus. Links von dem Flur, wo eine kinderreiche Familie wohnte (die Mutter hatte zwischen den Frauen auf der Gasse gestanden) war großer Lärm und Schreien; rechts war Alles still. Rosen pochte das Herz. Sie hatte als Kind von sechs Jahren, wo sie kaum wußte, wie ihr geschehen war, ihre Mutter in weißen Schleiern, mit Blumen geschmückt, im Sarge gesehen; sonst keinen Todten. Sie hatte immer ein Grauen bei der Vorstellung gehabt, in plötzliche Berührung mit dem Tode zu kommen; sie empfand das Grauen auch jetzt. Ihr Athen ging schwer, ihre Hände waren kalt. Aber es war nur ein Augenblick; dann drückte sie leise die unverschlossene Thür auf und trat in die Stube.

Die beiden Fensterchen waren mit den weißen Gardinen, die Rose der Anne geschenkt hatte, verhängt; in dem niedrigen Zimmer herrschte bei dem trüben Tageslicht eine halbe Dämmerung. Die Todte lag der Thür gerade gegenüber in dem Bette. Ihr Gesicht war mit einem weißen Tuche bedeckt. An dem Tische saß Claus Weber, den man von der Arbeit gerufen hatte, das Gesicht in den breiten braunen Händen begraben; das Kind schlummerte in seiner kleinen Wiege.

Der Mann hob den Kopf empor, als er Geräusch vernahm; er blickte Rosen mit verwirrten Mienen an, deutete auf das Bett, und legte dann, als sei damit Alles gesagt, das Gesicht wieder in die Hände.

Rose trat an das Bett. Das Grauen von vorhin kam wieder über sie; aber eine stärkere Kraft lenkte die Hand, die langsam das weiße Tuch abstreifte.

Arme Anne! – Sie hatten zusammen gespielt als Kinder, Fräulein Röschen vom Hofe und Jürgen's Anne, um den alten Brunnen, wenn die Sonne warm schien und die Schwalben zwitscherten, und draußen auf den Wiesen im Park, wo die langen Gräser nickten und die Schmetterlinge sich über den bunten Blümlein wiegten. Hernach war Rose mit dem Vater in die Stadt gezogen, Anne war im Dorf geblieben, und als sich die Jugendgespielinnen nach fünf Jahren wieder sahen, hatten sie Mühe, sich zu erkennen. Aber Rose hatte die alte Freundschaft nicht vergessen und hatte es durchgesetzt, daß die Anne, die keine Eltern mehr besaß und ganz arm war, ihren Schatz, den Claus Weber von Bolau, der eben so arm war, wie sie, heirathen konnte. Sie hatte aus ihrer Sparbüchse die funfzig Thaler hergegeben, die der Claus aufweisen mußte, wenn er sich im Dorfe niederlassen wollte; sie hatte für Anne's schmale Aussteuer gesorgt, und daß der Claus, der gut arbeiten konnte, wenn er wollte, hie und da einen bessern Lohn bekam. Aber trotz alledem hatte es mit der neuen Wirthschaft nicht recht gehen wollen.

Die Anne, die nie recht kräftig gewesen war, hatte während ihrer Schwangerschaft viel gelitten und wenig oder nichts verdient; der Claus, ein heftiger, leichtlebiger Mensch, wollte nicht geheirathet haben, um den Krankenwärter zu spielen, wurde mürrisch, fand, wenn er von der Arbeit kam, den Weg ins Wirthshaus näher, als nach Hause zu seiner kranken Frau; und die kinderreiche Mutter, die auf der anderen Seite wohnte, sagte, daß er, wenn er betrunken sei, die Anne mißhandle, obgleich die Anne immer versicherte, daß sei eine schändliche Lüge, er habe sie noch nie anders als freundlich berührt. Das mochte nun sein, wie ihm wollte; aber die Anne wurde täglich blasser und blasser und nach ihrer Entbindung noch kränker, als sie schon vorher gewesen war und immer kränker – und da lag sie nun todt.

Rose schaute in das blasse, abgemagerte, stille Gesicht. Die Augen waren nicht ganz geschlossen und die Oberlippe war ein wenig in die Höhe gezogen, daß man etwas von den weißen Zähnen (die Anne hatte immer so schöne Zähne gehabt) sehen konnte. Rose dachte an die Sommermorgen im Park, und wie die schlanke Anne mit ihr hinter den Schmetterlingen hergesprungen war und gelacht und gesungen hatte – und sie beugte sich nieder und küßte die bleichen Lippen. Dann deckte sie sanft das Tuch wieder über das stille Gesicht.

Sie trat an die Wiege. Das schöne Kind schlummerte so sanft, die Wänglein leicht geröthet. Die Kleine war ihrer Mutter Ebenbild, feine schmale Züge und große mandelförmige Augen. Sollte sie auch weder Glück noch Stern haben, wie die Mutter? Ein Unglück war ihr schon gewiß: sie sollte ihr Leben lang der Mutter entbehren; Rose wußte, ob dies ein Unglück war.

Rose wunderte sich, daß eine Frau aus dem Dorf, welche sie zur Pflege der Anne und zur Wartung des Kindes angenommen hatte, sich nicht sehen ließ. Sie ging zu Claus Weber, der noch in derselben Stellung verharrte, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte nach jener Frau.

»Sie ist fort,« antwortete Claus, »sie wollte nicht bleiben, sie – sie fürchtete sich, und – ich, ich fürchte mich auch, Fräulein Röschen; ich kann nicht mit ihr allein bleiben, die lange Nacht, wenn die Fenster klappern und es im Schlot poltert,« – und der große starke Mann zitterte und wurde blaß durch seine braune Gesichtsfarbe hindurch.

Rose sann einen Augenblick nach. Sie kannte von den Frauen im Dorf – und sie kannte sie beinahe alle – keine einzige, der sie das Kind hätte anvertrauen mögen. Sie hatte der Anne versprochen: sie wolle dem Kinde Mutter sein. Ihr Entschluß war gefaßt.

»Wo will Er bleiben, Claus Weber, wenn Er sich hier fürchtet?«

Claus nannte eine Familie, von der er glaubte, daß sie ihn ein paar Tage beherbergen werde.

»Gut,« sagte Rose, »das Kind nehme ich mit mir. Ich und die Frau Wenzel wollen es schon pflegen; es soll ihm an nichts fehlen. Und jetzt gleich will ich es haben.«

Rose nahm das kleine Geschöpf aus der Wiege, hüllte es in mehrere Tücher ein, nahm den Mantel der Anne um und schlug das Kind hinein, nach der Sitte der Frauen jener Gegend. Sie kannte die Handgriffe ganz gut; sie hatte ihre Puppen oft genug so eingewickelt.

Der Claus sah ihr mit Erstaunen zu. Er hatte noch gar nicht an das Kind gedacht, wenn aber das Fräulein es mit sich nehmen wollte, so war das gewiß für ihn das Beste. Er brauchte dann nicht gleich wieder zu freien, und wenn er die schwarzäugige Christel, die ihn so gern hatte, heirathen wollte, war ihm das Kind nicht im Wege. Er warf einen scheuen Blick nach der verhüllten Gestalt auf dem Bette, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen. Der Claus war tapfer genug und nahm es in einer Wirthshausschlägerei mit Zweien auf; aber mit der todten Anne in einer Stube, noch dazu, wenn man solche Gedanken im Kopf hatte, das war doch ein eigen Ding. Es fiel ihm wie eine schwere Last von der Seele, als er den Schlüssel von der Stube in der Tasche hatte und das Fräulein mit dem Kinde davongehen sah.

Rose vermied die Hauptstraße des Dorfes (obgleich es auf derselben heute leer genug war) und schlug einen wenig betretenen Nebenweg ein. Leicht und schnell schritt sie mit ihrer ungewohnten Last dahin. Es begegnete ihr keine Seele, bis sie dicht vor dem Hofe war. Dort aber stand Jemand, der schon den Thürgriff in der Hand hatte und sich jetzt nach der Kommenden umwandte. Es war der Pastor. Rose erschrak; aber an ein Ausweichen war nicht zu denken, und die Kleine in ihrem Arm begann unruhig zu werden. So schritt sie denn muthig weiter, an dem Pastor, der unwillkürlich die Thür weit aufsperrte und ein sehr verblüfftes Gesicht machte, vorüber, in den Hof, die Treppe hinauf in's Haus.

Auf dem Flur kam ihr der alte Wenzel entgegen, der, als er seine junge Herrin mit einem Kinde auf dem Arme erblickte, seine kleinen grauen Augen verwundert aufriß.

»Wo ist der Vater?« fragte Rose athemlos.

»Auf seinem Zimmer,« stotterte der Alte ganz erschrocken.

»Ich wünsche ihn zu sprechen. Sagen Sie es ihm doch; aber vorher schicken Sie mir Ihre Frau herauf. Sie möchte doch sogleich kommen.«

Der Pastor, der es nicht gewagt hatte, zugleich mit dem Fräulein ins Haus zu treten, stand auf der Estrade, als der alte Diener aus der Thür kam.

»Aber mein Gott, lieber Herr Wenzel, was geht hier nur vor?« fragte der Pastor.

»Was soll vorgehen?« erwiderte der Alte mürrisch, »des Claus' Frau ist todt und das Fräulein nimmt das Wurm zu sich; ich dächte, das wäre klar.«

»Ja, aber, lieber Herr Wenzel; das ist denn doch – und zumal in diesem Augenblick – was wird der gnädige Herr dazu sagen?«

Der Alte schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht,« brummte er, »es geht seit einiger Zeit hier Alles in der Quer; Niemand weiß, wer Koch oder Kellner ist. Entschuldigen der Herr Pastor; ich soll die Alte herüberschicken.«

Damit hinkte er von der Treppe über den Hof nach dem Nebenhause. Der Pastor nahm den Knopf seines Stockes an die Lippen und sog daran in großer Nachdenklichkeit. Endlich mußte er zu einem Entschlusse gekommen sein. Er nahm den Hut ab, strich sich mit einer kleinen Taschenbürste das spärliche Haar hinter die Ohren, blickte in das runde Spiegelchen der Bürste, setzte den Hut wieder auf und trat in das Haus.



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