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Der Herbst zeigte, daß er nun Herr im Lande sei. Regen und Sturm, Sturm und Regen einen Tag wie den andern. Die Sonne war verschwunden als wollte sie die Verwüstung nicht sehen; nicht sehen wie die Felder, welche noch vor Kurzem in goldenen Aehren gewogt hatten, eine weite trostlose sumpfige Oede waren, wie die Blumen im Garten umgeknickt und umgebrochen an dem nassen Boden verrotteten, die halbkahlen Aeste der Bäume wie im Wahnsinn durcheinanderfuhren und die dürren Blätter wie toll in der Luft herumwirbelten. Von den Thieren hatte sich verkrochen, was nur irgend Schutz finden konnte; in dem Park war kein Vogellaut zu hören, als das jetzt fast ununterbrochene Krächzen der Krähen, die der Sturm aus den Nestern und von den schwanken Zweigen schüttelte und hoch oben zwischen den graulichen Nebeln wie schwarze Flocken hin und her schleuderte. Die Atmosphäre war mit feuchtkaltem Wasserdunst getränkt. Von Zeit zu Zeit fiel ein dichter eisiger Regen, welcher die Strohdächer durchweichte, den Putz von den Scheunen und Bauernhäusern herunterschlug und nach und nach den hellen freundlichen Bach, der das Dorf durchplätscherte, und von dem es seinen Namen hatte, in einen Strom verwandelte, der seine dunklen, schmutzigen Fluthen wie in lautem Zorn dahinwälzte. Es war eine traurige, trübe Zeit, die Keinem so leicht etwas Gutes brachte.
Nicht zum mindesten trüb und traurig für die Bewohner des Hofes. Das alte Herrenhaus mit seinem überhängenden Dache, den stets verschlossenen Jalousien und den kahlen schmucklosen Wänden, welchen Sturm und Regen übel genug mitgespielt hatten, glich einem Manne, der bessere Tage gesehen hat, und nun, da sie kommen, von denen man sagt, sie gefallen mir nicht, den Hut ins Gesicht zieht, den Rock fest zuknöpft und dem Unglück Trotz bietet. Und so öde und freudlos, wie das Aeußere seines Hauses, war auch das Leben des alten Herrn von Weißenbach. Der Schatz, den er für unermeßlich gehalten, war erschöpft; der letzte Schimmer von Freude in seinem Leben war erloschen; der Stab, auf den er sich fest und immer fester gestützt hatte, war zerbrochen; die süße Nahrung seiner Seele war bitter geworden und verdorben – die Liebe seiner Tochter zu ihm war nicht mehr. Zwar gab sie ihm keine direkte Ursache zur Klage; sie war ihm am nächsten Morgen mit thränenlosem Gesicht, ja mit einem Lächeln auf den bleichen Wangen entgegengetreten; keine der unzähligen großen und kleinen Aufmerksamkeiten, an die sie ihn gewöhnt hatte, war von ihr vergessen; sie hatte des Grafen Namen nicht wieder genannt, ihres Verhältnisses zu ihm mit keiner Sylbe erwähnt; sie war ihren Beschäftigungen nachgegangen, ganz wie sonst – aber es war doch Alles ganz anders wie sonst. Keine Veränderung scheinbar, und doch Alles umgewandelt; und der Vater spürte nach dieser Wandlung und bemerkte jeden kleinsten Zug derselben mit jener fieberhaften Neugier, mit welcher ein Hypochonder die Fortschritte seiner Krankheit beobachtet. Er hatte es nicht vergessen, wie die Starke, Stolze an jenem Abend zusammengebrochen war wie ein schwankendes Rohr; er sah noch immer ihre Locken und ihren schlanken Körper zittern; er hörte noch immer ihr krampfhaftes Schluchzen – das war ihr wahrhafter Anblick; was er jetzt sah – dies bleiche, gleichmäßig freundliche, aufmerksame Mädchen – das war Verstellung, Lüge, ihn demüthigende Entsagung. Was konnte ihm ihr Lächeln sein, wenn er unter ihrer Zeichnung auf dem Reißbrett die deutlichen Spuren frischgeweinter Thränen fand? – Sie liebte den Grafen nach wie vor; sie that, was sie that, aus Pflichtgefühl, aus Großmuth.
Der Stolz des alten Mannes wand und krümmte sich unter diesem Gedanken. Er war ein Bettler, der von den Brosamen lebte, die von dem reichen Mahl der Liebe abfielen, welche seine Tochter an den Grafen verschwendete. Nacht um Nacht nahm er sich vor, einem Zustande ein Ende zu machen, der ihn in seinen Augen beschimpfte; seiner Tochter zu sagen, daß sie den Grafen heirathen möge, heute lieber als morgen; aber wenn sie am nächsten Morgen ihm mit ihrem sanften Lächeln entgegentrat, hatte er nicht den Muth, das Wort, das sie trennen sollte, zu sprechen, und verschob die Ausführung seines Entschlusses auf den nächsten Tag. Vielleicht erlebte er den nächsten Tag nicht, vielleicht ereilte den Schlaflosen, Fiebernden ein plötzlicher Tod, und befreite so mit einem Schlage ihn und sie. Ja, der alte Herr würde in diesen Tagen Hand an sich selbst gelegt, und ein Leben, das ihm zur Qual geworden, zerstört haben, wenn der fromme Kinderglaube, an welchem eine Seele noch immer festhielt, einen solchen Schritt für ihn nicht zu einer moralischen Unmöglichkeit gemacht hätte. Ueberdies war in seinen Augen Selbstmord gleichbedeutend mit Feigheit. Seine Religion und eine Ehre hießen ihn, sein Kreuz noch weiter tragen.
War doch selbst in den Augen der Menschen auf Erden seine Rechnung noch nicht abgeschlossen; sollte er doch, wie es schien, erst noch den Beweis liefern, daß der letzte Weißenbach, der Letzte eines Geschlechts, auf dem kein Makel haftete, kein gemeiner Betrüger sei. Der Prozeß der aufgelösten Kreditbank war in die letzte Instanz getreten und hatte eine immer größere Ausdehnung angenommen. Neue Beweisaufnahmen hatten stattgefunden; verschiedene Personen, in welchen der erste Untersuchungsrichter nur Betrogene und keine Betrüger gesehen hatte, waren bereits eingezogen worden; Andere wurden als solche bezeichnet, denen dasselbe Schicksal im weiteren Verlaufe des Prozesses noch bevorstände. Unter den letzteren wurde auch der Name des Herrn von Weißenbach genannt. Der Advokat, welcher seine Sache führte, verschwieg ihm das nicht; ja er bat seinen Klienten dringend, bei Zeiten auf Herbeischaffung einer Kaution, deren wahrscheinliche Höhe er angab, bedacht zu sein.
Daß diese Angelegenheit den alten Herrn fortwährend auf das schmerzlichste beschäftigte, konnte, wer ihn genauer beobachtete, gar wohl bemerken, obgleich er selbst sich den Anschein gab, die Sache leicht zu nehmen. An eine Kaution denke er nicht; er selbst könnte eben so gut mit seinen eigenen Händen den Weißenbach rückwärts leiten, als sie aus eigenen Mitteln zahlen, und er wolle auf seine alten Tage nicht zum Borger werden. Warum habe er seinen ehrlichen Namen zu dem modernen Schwindel hergegeben? Ein solcher Frevel werde mit ein paar Jahren Einsperrung nicht zu schwer gebüßt: Er habe freilich bisher immer gedacht, Gefängnisse seien nur für Spitzbuben und Schelme; aber andere Zeiten, andere Sitten. Er hoffe nur, den Herren vom Gericht nicht den Gefallen zu thun und so lange zu sitzen, als es ihnen beliebte. Er sei ein alter Mann, der das Leben herzlich satt habe, und so könnte es wohl geschehen, daß der Tod ein Einsehen hätte, und den gestrengen Herren einen Strich durch die Rechnung machte.
In der That hatte seine Gesundheit, die schon seit dem Ende des Sommers wankend gewesen war, in der letzten Zeit sichtlich abgenommen. Die fortwährende seelische Erregung, welche durch die Schlaflosigkeit seiner Nächte noch vermehrt wurde, zehrte an seinen Kräften. Seine bis dahin noch so feurigen Augen hatten ihren Glanz verloren und waren tief in ihre Höhlen zurückgesunken; in seinem grauen Haar zeigten sich immer mehr silberweiße Streifen; seine Stimme war heiserer und mürrischer geworden; er war, wie mit einem Male, was er sich bis dahin eigentlich immer noch in halbem Scherz genannt hatte: ein alter Mann.
Rose sah das Alles mit einem Schmerze, der um so grausamer war, als sie ihn gegen Niemand, am allerwenigsten gegen den Vater zeigen konnte, der jeden Versuch, sich ihm in der alten vertraulichen Weise zu nähern, mit kalter Höflichkeit zurückwies. Ihre Angst kannte keine Grenzen, sie war der Verzweiflung nahe. Sie sah den wahrscheinlichen Termin, bis zu welchem der Vater die Kaution zu stellen haben würde, herankommen, ohne daß irgend eine Vorkehrung von seiner Seite getroffen wurde. Gefängniß und Tod aber – das wußte sie – waren für den Vater gleichbedeutend. Er, der Zeit seines Lebens sich jeden Tag stundenlang in der freien Luft bewegt, der schon, als sie in einer der hellsten Straßen der Stadt wohnten, über die beklemmende Enge und Eingeschlossenheit geklagt hatte – er sollte, vielleicht Monate lang, die dumpfe Luft eines Gefängnisses athmen! Rose war überzeugt, daß acht solcher Tage hinreichen würden, den Vater zu tödten. Sie hatte ohne sein Wissen den alten Landarzt, der schon seit vielen Jahren in Weißenbach wohnte, dem Vater aber wegen seiner ausgesprochenen demokratischen Gesinnungen unbequem war und deshalb nur in den dringendsten Fällen auf »den Hof« gerufen wurde, konsultiert, und wenn dieser auch von einer so acuten Wirkung nichts wissen wollte, so stellte er doch nicht in Abrede, daß die Sache immerhin bei einem Mann von dem Alter, der Konstitution, dem Temperament und der Gemüthsart des Herrn von Weißenbach sein Bedenkliches habe. Die arme Rose zermarterte ihr Gehirn, einen Ausweg aus dieser Noth zu finden. Aber was konnte sie thun? an wen sollte sie sich wenden?
Endlich schrieb sie – mit schwerem Herzen und äußerstem Widerstreben – an die Herzogin. Sie schilderte ihre Lage; sie bat nicht um Hülfe, nur um Rath, um Trost. Es dauerte länger, als Rose geglaubt hatte, bis die Antwort kam – eine wenig tröstliche Antwort. Es waren die alten Phrasen von einer Freundschaft, die keine Standesunterschiede kennt, von einer Liebe, die auf Wahlverwandtschaft gegründet ist; aber es waren eben Phrasen. Rose sah dies zum ersten Mal mit dem Scharfblick des Unglücklichen und Hülfsbedürftigen, dem statt des Brotes ein Stein gereicht wird. Sie dachte sich in die Lage der Herzogin gegenüber einem armen verlassenen Mädchen, das sie wirklich liebte, wie sie die Sache dieses Mädchens zu der ihren machen würde. – »Ich habe mit dem Herzog gesprochen,« schrieb die Herzogin, »er sagte mir, daß er in dieser Sache leider weniger als irgend ein Anderer thun könne. Der Fiskus sei bei den durch das Fallissement der Bank herbeigeführten Verlusten sehr bedeutend betheiligt; die Opposition werde in der bevorstehenden Diät Hier in der Bedeutung »Sitzungsperiode des Parlaments«. – Anm.d.Hrsg. ihren Hauptangriff gerade nach dieser Seite richten. Das ist so ungefähr, was ich von der Sache verstanden habe. Sie wissen, liebes Röschen, wie schwerfällig mein Kopf in diesen Dingen ist. Aber Sie dürfen die Affaire nicht so verzweifelt ernst nehmen, liebes Röschen, und ihr wackrer Vater darf es ebenfalls nicht. Dies schreckliche Wetter erzeugt allerlei melancholische Gedanken; ich selbst leide mehr als je an meiner Migraine. Sie müssen wirklich kommen, und mir wieder Ihre schöne weiche Hand auf die Stirn legen. Das half mir immer so gut. Fräulein von Maxdorf's Hand ist zu mager und hat nicht die milde wohlthuende Wärme Ihrer Hand. Wirklich, Sie fehlen mir recht sehr, liebes Röschen …«
Rose ließ diesen Brief in ihren Schooß sinken, und blickte in schmerzlichem Nachdenken lange vor sich nieder. Das war also die gütige, gnädige Freundin! In einem Augenblick, wo sie wußte – wissen mußte, wenn sie Augen zum Lesen und ein Herz zum Fühlen hatte, daß es sich für Rose um Alles, um Tod und Leben ihres geliebten alten Vaters handle, konnte sie vom Wetter, von ihrer Migraine und von der magern Hand einer Hofdame sprechen … Rose knitterte den Brief zornig zusammen und warf ihn in die Flamme des Kamins. – »Er hatte Recht, ironisch mit den Achseln zu zucken, als ich von meiner intimen Freundschaft mit der Herzogin sprach. Intime Freundschaft! Ja wohl! intim, wie die Hand mit dem Handschuh ist, so lange sie ihn brauchen kann!«
Die hohe Frau hatte Rosen gebeten, über Alles, was sie aus dem Munde des Herzogs mitgetheilt, die strengste Diskretion zu beobachten; leider aber plauderten schon in den allernächsten Tagen die Zeitungen das große Staatsgeheimniß aus. Die officielle Zeitung brachte einen langen Artikel, in welchem versucht wurde, aus dem Eifer der Justiz in dem Creditbankproceß den Beweis zu liefern, wie wenig die Regierung die Kritik ihrer Handlungen scheue. Dagegen führten die Oppositionsblätter aus, wie dieses Aufhetzen der leider nicht in dem wünschenswerthen Maße unabhängigen Gerichte weiter nichts als ein plumpes Manöver des Gouvernements sei, dem großen Publikum Sand in die Augen zu streuen, und eine an sich sehr einfache Sache möglichst zu verwickeln. Besonders machte ein Artikel Aufsehen, der diese letzte Behauptung mit einer in der Presse des Ländchens ganz unerhörten Kühnheit verfocht. Die Finanzoperationen, welche das Ministerium mit Hülfe jener unglückseligen Creditbank gemacht hatte, wurden auf das schonungsloseste verurtheilt. Am Schluß hieß es: Wenn auch das Ministerium in seiner feigen Todesfurcht so weit geht, seine treuesten Anhänger rücksichtslos zu opfern, um sich noch ein paar Monate länger zu halten; es wird ihm doch nichts helfen. Mag es dem Lande immerhin das merkwürdige Schauspiel geben, daß diejenigen, welche es durch ihren Leichtsinn und ihre Unfähigkeit an den Rand des Staatsbankeruts gebracht haben, in Amt und Würden sind, während vielleicht Männer, die rücksichtslos ihr Vermögen opferten, um den Mißbrauch, den Andere mit ihren ehrlichen Namen getrieben hatten, zu sühnen, im Gefängnisse schmachten – der Tag der Abrechnung wird doch anbrechen, und die erste und heiligste Pflicht des neu zusammentretenden Landtages ist es, dafür zu sorgen, daß dieser Tag so schnell als möglich kommt.
Rose, welche jetzt, bevor der Vater zum Kaffee herabkam, die Zeitung jedesmal hastig durchlief, hatte diesen Artikel mit klopfendem Herzen gelesen. Bei dem letzten Satze schrak sie zusammen; es war ihr, als ob eine liebe, wohlbekannte Stimme die muthigen Worte gesprochen hätte. »Der Tag der Abrechnung wird doch anbrechen!« Hier in diesem selben Zimmer hatte er es gesagt vor gar nicht langer Zeit, das erste Mal, als er und der Vater auf Politik zu sprechen gekommen waren. Er und kein Anderer hatte den Artikel geschrieben! Rosen war, als ob die grauen Regenwolken sich geöffnet hätten und der blaue Himmel blickte herein. Sollte von ihm die Rettung kommen? Von wem sonst? Wer war so stark und muthig, wie er? wer liebte sie so, wie er?
Mit ängstlicher Spannung beobachtete sie die Züge des Vaters, als er bald darauf, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Artikel las. Sie sah, daß seine Hände zitterten. Sie wagte die Frage: ob er Etwas von besonderem Interesse gefunden habe? – Der alte Herr fuhr aus seinem Stuhl empor. »Da, lies selbst!« sagte er, ihr das Blatt reichend, und dann setzte er murmelnd hinzu: »das fehlte noch, so zum Gegenstand des öffentlichen Mitleids gemacht zu werden! möge die Hand verdorren, die das geschrieben!«
Damit ging er zum Zimmer hinaus. Rose's Freude war von kurzer Dauer gewesen. Ahnte der Vater so gut wie sie, wer der Verfasser war? War es der Haß gegen ihn, der ihn so fürchterliche Worte lehrte, die mit seiner sonstigen edlen Denkungsart so gar nicht übereinstimmten? Rose sollte bald aus dieser Ungewißheit gerissen werden. Der Landtag war am ersten November eröffnet worden; die Anzahl der Stimmen, über welche die Regierungspartei zu verfügen hatte, war etwas größer, als die der Opposition, dafür aber zeigte die letztere mehr Rührigkeit und eine straffere Disciplin. Daß Graf Lengsfeld zur Opposition halten werde, war den Eingeweihten längst bekannt. Die Meinungen, die man im Lande von ihm hatte, waren getheilt.
Einige, die ihm näher getreten waren, rühmten seine Energie und seine Kenntnisse; Andere nannten ihn stolz und hochmüthig und erwarteten wenig Ersprießliches von ihm; Alle aber waren äußerst begierig, zu sehen, welche Rolle er in dem bevorstehenden Kampfe übernehmen würde. Die Entscheidung ließ nicht lange auf sich warten. Schon nach wenigen Tagen brachte ihn eine Interpellation in der Finanzfrage, die er selbst in seiner Partei beantragt hatte, auf die Rednerbühne. Sämmtliche Minister hatten der Reihe nach Veranlassung, bleich zu werden; besonders die Minister der Justiz und der Finanzen, als der Graf speciell auf die Angelegenheit der Credit-Bank zu sprechen kam. Er stellte schließlich dem Ministerium die Alternative, entweder in der letzten Stunde seine Sünden so weit als möglich wieder gut zu machen und dann in ein wenig ehrenvolles Grab der Vergessenheit zu steigen, oder einer Anklage gewärtig zu sein.
Der moralische Triumph der Opposition war vollständig gewesen; die ausweichenden, schiefen und halben Antworten der Minister hatten den Unwillen selbst der gouvernementalen Partei hervorgerufen; nichtsdestoweniger hatte die letztere einen Uebergang zur Tagesordnung durchgesetzt und so das Ministerium für dies Mal noch gerettet.
Die Rede des Grafen machte das allergrößte Aufsehen weit über die Grenzen des Ländchens hinaus. Noch nie waren dem Scheinconstitutionalismus solche Dinge gesagt worden, und dabei in so einfachen, kühlen Worten. Man wunderte sich, woher ein so junger Mann die Kenntnisse hatte, und war nicht abgeneigt, anzunehmen, daß er sich die Rede von einem alten parlamentarischen Taktiker habe ausarbeiten lassen, als zur rechten Zeit ein handelspolitisches Werk erschien, das von Kennern als vorzüglich, ja einzig in seiner Art gerühmt wurde. Von diesem Augenblicke an galt des Grafen Name in politischen Dingen als eine Autorität. Seine Partei, die stolz auf ihn war, wurde nicht müde, ihn zu verherrlichen. Der Pastor von Lengsfeld hatte Recht gehabt, wenn er sagte, daß der Graf sich weniger an die Opposition, als vielmehr die Opposition sich an den Grafen halten werde.
Es war auffallend, welche Aufmerksamkeit in jüngster Zeit der Pastor der Politik und überhaupt den öffentlichen Angelegenheiten zuwandte. Er hielt sich nicht nur die reactionäre officielle Landeszeitung, sondern auch das in der Residenz erscheinende Oppositionsblatt, ja selbst einige Zeitungen des großen Nachbaarstaates. Er hatte stets die neuesten Nachrichten; besonders aber verfolgte er die politische Laufbahn des Grafen, seines Patrons, mit der äußersten Genauigkeit. Was der Graf bei dieser und jener und der dritten Gelegenheit in der Kammer, in Ausschußsitzungen, in öffentlichen Versammlungen gesagt hatte – der Pastor wußte es nicht nur; er konnte es schwarz auf weiß zu Herrn von Weißenbach auf den Hof tragen. – »Etwas Neues von unserm Freunde, wenn ich mir erlauben darf, meinen gnädigen Patron so zu nennen. Sie wissen, Herr von Weißenbach, wie ich in diesem Punkte denke; wie wenig ich vor Allem Ursache habe, mich über seinen letzten Ausfall gegen die Kirche und ihre Diener zu freuen; aber dennoch! welch' ein Talent! welch' ein naturwüchsiges Genie! Ich sage Ihnen: es vergehen keine zwei Monate und der Graf ist allmächtiger Minister. Er ist ein Joseph. Die Standesgenossen, seine Brüder, werden sich vor ihm zu beugen haben.«
»Ich hatte Sie gebeten, das Kapitel, das mir peinlich ist, nicht wieder zu berühren,« sagte Herr von Weißenbach, die Karten, welche der Andere ihm während dessen gegeben hatte, mit nervöser Heftigkeit ordnend.
»Verzeihen Sie,« erwiderte der Pastor, »ich hatte es ganz vergessen; aber Sie wissen, wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über. – Nicht wahr, gnädiges Fräulein?«
Rose würdigte ihn keiner Antwort. Wenn sie den Pfarrer niemals besonders hatte leiden können, so war sie jetzt auf dem Punkte, ihn zu hassen. Wäre er ihr weniger gefährlich erschienen, so würde sie ihn eben nur verachtet haben; aber, wenn sie sein Spiel auch nicht ganz durchschaute, sie hatte genug gesehen, um den täglich größer werdenden Einfluß dieses Mannes auf ihren Vater als ein Unglück zu fürchten. Wie gut er auch seine Worte zu setzen und wie geschickt er auch seine eigentliche Absicht zu verbergen wußte – das Resultat jedes Besuches, den er auf dem Hofe abstattete, war, daß der Vater düstrer und düstrer aus den tief eingesunkenen Augen unter den buschigen Brauen hervorschaute, bittrer und bittrer von den Menschen sprach, und besonders den Grafen in einem immer gehässigeren Lichte zu sehen schien. Dabei war von dem unbedingten Vertrauen, das er sonst seiner Tochter geschenkt, nicht mehr die Rede. Sie erfuhr von seinen Absichten Nichts; ein paar Versuche, die sie machte, die alte Stellung wiederzugewinnen, wurden von ihm in jener höflich kalt ablehnenden Weise, in welcher er Meister war, zurückgewiesen. Rose klagte nicht, machte ihm keine Vorwürfe; sie verdoppelte nur ihre Aufmerksamkeit; sie war sanfter, zuvorkommender, ja selbst freundlicher, als je zuvor; vor allem aber strenger gegen sich selbst. Sie trug, wie einen Talisman, die Ueberzeugung in ihrer tiefsten Seele, daß sie in dieser Prüfung nicht unterliegen werde, wenn sie sich mit aller Kraft bestrebe, gut zu sein, keinen bösen Gedanken in sich aufkommen zu lassen, geschweige denn etwas zu sagen oder gar zu thun, was sie nicht vor sich selbst verantworten könne. Sie hatte sich längst innerlich von den Dogmen der Kirche losgesagt; ja in ihrem großen und klaren Geiste hatte der dumpfe Pfaffenglaube eigentlich niemals eine Stätte gefunden. Auch jetzt erwartete sie keine Hülfe von einem Wunder, das zu ihrem Besten geschehen werde. »Ich muß es eben tragen,« sagte sie den Tag über hundert Mal zu sich.
Nicht, als ob sie unter dieser Last nicht sehr gelitten hätte! Ihr Herz war tief betrübt und manche lange nächtige Stunde drückte sie die schmerzenden Schläfen in die Kissen, ohne daß der unbarmherzige Schlaf kommen wollte. Auch ihr Aeußeres zeigte die Spuren heimlich geweinter Thränen und in Sorgen durchwachter Nächte. Ihre Augen hatten viel von ihrem früheren Glanz verloren und die Ränder der Lider waren jetzt nicht selten geröthet. Ihre Wangen waren blasser, und in ihren Bewegungen vermißte man etwas von der elastischen Kraft, durch die sie sich sonst so sehr auszeichneten. Es war die Rose nicht mehr, deren schwellende Fülle ein Symbol der Hoffnung und der Zukunft ist; es war die vollkommen erschlossene Blume, die all' ihre Süßigkeit ausgiebt, bevor der rauhe Nachtwind kommt, der sie entblättern wird.
In dem Garten gab es keine Rosen mehr; der Herbststurm hatte längst die letzten zerpflückt und verweht. Seit vierundzwanzig Stunden hatte der Regen nachgelassen; aber die Wolken zogen noch immer tief und schwer. Die Krähen, die noch schlimmeres Unwetter befürchten mochten, hatten sich weiter in den Park gezogen und kamen nur noch manchmal an Rose's Fenster einzeln vorbeigeschwingt. Es war ein trostloses Bild, das Rose aus diesem Fenster hatte: einen Theil des Hofes, auf dem sich kein lebendes Wesen sehen ließ, die verregneten Dächer der Scheunen, auf deren Firsten sich die Wetterhähne kreischend drehten, und die fast kahlen Wipfel von ein paar mächtigen Eichen, die wie Gespenster durch den grauen Nebel blickten.