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Nur die Arbeit kann uns frei machen
Ich hatte in den zwei folgenden Jahren Gelegenheit, diesen obersten Satz der Weisheit meines Meisters nach allen Seiten hin zu erproben.
Ja, wahrlich, die Arbeit hat mich frei gemacht!
Wovon?
Zuerst von den Maschen des unredlichen Gespinnstes, in welches mich die Verbindung mit meinem Schwiegervater verwickelt, den Maschen, von denen er sich durch seinen jähen Tod Knall und Fall losgerissen, und aus denen ich mich mit unsäglicher Mühe allmälig loslösen, die ich entwirren, schlichten, ordnen mußte, wollte ich nicht Schande und Schmach auf den Namen des Mannes fallen lassen, der der Vater meiner Gattin gewesen war.
Es stellte sich heraus, daß er, wie ein verzweifelter Spieler die Partie vor der Zeit verloren gegeben. Aber freilich, das ist nicht ganz das rechte Wort. Für ihn war die Partie verloren, denn, was ihn einzig hätte retten, was ihn allein hätte frei machen können – wie es mich frei gemacht hat, der ich des Mannes Soll und Haben übernahm – die gewissenhafte, ehrliche, mannhafte Arbeit – sie war ihm unmöglich; er hatte sie nie geübt, er hatte niemals Achtung vor ihr gehabt, hatte nie an sie geglaubt und an ihre gewaltigen Resultate. Wenn ich ihm begeistert von der Zukunft sprach, der unsere Fabrik entgegenblühe, und daß von der wüsten Trümmerstätte aus, die er Jahre lang mißachtet, ein Strom des Lebens und Reichthums ausgehen werde in alle Lande – da hatte er stets nur hämisch-ungläubig gelächelt und mich einen Schwärmer, einen Phantasten gescholten, der sich noch häßlich die Finger verbrennen, oder doch höchstens für Andere die süßen Kastanien aus den Feuern seiner Hochöfen holen werde.
Und er war hingegangen und hatte weiter gespielt an der Börse, in Actien, in ausländischen Fonds, in Spiritus, in Baumwolle, der Himmel weiß, worin, wie er früher in Contrebande und unversicherten Schiffen gespielt hatte, bis die Karten so gegen ihn schlugen, daß er keinen Ausweg sah, als den grünen Tisch und das Leben zugleich zu verlassen.
Ich konnte mich nie von dem Gedanken losmachen: es habe die Scham, vor mir, gegen den er stets so groß gethan, nun so klein dazustehen, mir einräumen zu müssen, daß ich mit meiner dummen Ehrlichkeit Recht gehabt, den Mann, der keine Spur von echtem Stolz, aber eine immense Eitelkeit besaß, mit in den Tod getrieben. War es doch nun für immer vorbei mit seiner Weisheit, seiner Ueberlegenheit, war es nun doch vor Allem vorbei mit seiner Herrschaft, und – er gönnte mir die Nachfolge nicht, um so weniger, als ich ihm oft genug in Scherz und Ernst prophezeit, daß eine neue Zeit gekommen sei, eine Zeit der Brüderlichkeit, der Billigkeit, der Gerechtigkeit, der gegenseitigen Hilfsbereitschaft, und daß der Egoismus mit seinen kleinlichen Mitteln, mit seinen Praktiken und Kniffen für diese neue, große Zeit nicht mehr ausreiche.
Vielleicht, daß auch Einer oder der Andere meiner Leser findet, ich habe, indem ich also prophezeite, den Mund etwas vollgenommen, und daß jene goldene Zeit, von der ich spreche, heute noch wie damals in dem Schooße der Götter liege.
Aber ich schreibe keine Geschichte, als die meines Lebens, und da kann ich nur sagen: wenn mein Temperament sanguinisch und meine Weltanschauung demzufolge zum Optimismus geneigt ist, so haben meine individuellen Erfahrungen nach dieser Seite hin mir das leichte Blut nicht getrübt und meinen frommen Glauben an die Güte der Menschennatur und vor Allem an den wachsenden Sieg des Guten und Tüchtigen in unsrer Zeit nicht erschüttert. Ich habe aus dem industriellen und ökonomischen Gebiete nur überall da, wo der Fleiß mit der Redlichkeit einen festen Bund geschlossen, dauernde Erfolge gesehen und wenn es in der Politik hier oder da einmal anders zu sein scheint, so ist es eben wohl nur ein Schein, der für eine Zeit die Menge blendet, um über kurz oder lang zu zerrinnen und der tristen Wirklichkeit Platz zu machen.
Doch, wie gesagt, ich schreibe nur die Geschichte meines Lebens, welches mich das und nichts Anderes gelehrt hat, und in keiner Periode eindringlicher, als gerade in der, von der ich eben spreche. Und wäre ich der schlimmste Pessimist, der schwarzgalligste Menschenhasser gewesen, mich hätten die Beweise der Liebe, Güte und Hilfsbereitschaft, die mir von allen Seiten zu Theil wurden, eines Anderen und Besseren belehren müssen.
Von allen Seiten, selbst von solchen, an die ich nicht im Entferntesten gedacht hatte!
Zum Beispiel nicht an den alten Mann, den ich während des Baues der neuen Fabrik oft in Schlafrock und Pantoffeln, ein schwarzes Käppchen auf dem kahlen Kopfe und eine lange Pfeife in dem zahnlosen Munde, an dem Stacket hatte stehen sehen, welches den Bauplatz von dahinterliegenden Gärten trennte, und mit dem ich hin und wieder, ohne zu wissen und ohne zu fragen, wer er sei, ein paar freundliche Worte gewechselt hatte. Dieser alte Mann nun kam in jenen fürchterlichen Tagen, als das häusliche und geschäftliche Unglück wie mit Keulenschlägen auf mich einfuhr, zu mir und stellte sich mir als den Rentier Weber, den früheren Besitzer des Grundstücks vor, und er habe gehört, daß es mit den Angelegenheiten meines verstorbenen Schwiegervaters nur so so stehe, und da sei er denn gekommen, mir zu sagen, es habe mit der Bezahlung – mein Schwiegervater hatte mir gesagt, daß der Kaufschilling bis auf den letzten Heller bezahlt sei! – keine Eile, und er habe wohl gesehen, wie ich mich der Sache annähme, und wie ich immer wacker zugegriffen, wo es nöthig gewesen. Dem alten Herrn würde er keinen Thaler geliehen haben, aber für strebsame, junge Leute, wie ich, habe er schon noch ein paar tausend Thälerchen liegen, so ein zehn oder zwanzig, je nachdem, und wenn ich die brauchen könne, so möge ich nur zum alten Maurermeister Weber kommen, ich würde ihn zu Hause finden.
Und ein paar Tage später kam ein Brief in einer großen kindischen Hand und mit den wunderlichsten orthographischen Fehlern von dem guten Hans: daß von dem Vermögen seiner Mutter, über welches er frei disponiren dürfe, trotz alledem noch immer ein bedeutender Rest übrig sei, der mir bis auf den letzten Pfennig zur Verfügung stehe. Weil er aber nicht allsogleich an dies Geld kommen könne, habe er vorläufig in allen seinen Röcken und Schubladen eine sorgfältige Suche angestellt mit überraschend günstigen Resultaten, und erwarte er von meiner Freundschaft, daß ich ihm erlaube, mir dies Geld umgehend zu schicken. Schließlich wisse ich wohl, daß er ein besserer Landmann sei, als es den Anschein habe, und wenn ich ihm verstatten wollte, ein- oder zweimal des Tages nach Zehrendorf hinüber zu galoppiren und ein wenig nach dem Rechten zu sehen, so würde ich ihm und seinem Braunen damit eine wahre Wohlthat erweisen.
Daß der gute Doctor mir jetzt zum dritten Male sein Vermögen anbot, brauche ich wohl kaum zu erwähnen; aber dies und Alles, wie sehr es mich auch rührte und erfreute, hat mich doch nicht so erschüttert und ist auch auf meine Zukunft nicht von so großem Einflusse gewesen, als das Anerbieten, welches mir im Namen sämmtlicher Arbeiter der Fabrik eine Deputation machte, deren Sprecher Herr Roland war. Sie hätten gehört, daß die Angelegenheiten nicht so ständen, wie sie sollten und daß Gefahr sei, die Fabrik werde in andere Hände übergehen. Diese Möglichkeit erscheine Allen als die schrecklichste, und sie seien männiglich entschlossen, dieselbe abzuwenden, wenn es, und so weit es in ihren Kräften stehe. Sie fragten demnach an, ob es mir meine schwere Lage erleichtern würde, wenn sie, Alle wie Einer und Einer wie Alle, auf einen Theil ihres Lohnes verzichteten, bis die Gefahr vorüber und ich im Stande sei, das Zurückbehaltene nachzuzahlen, ohne daß ich für den Ausfall zu haften hätte, im Fall die erwartete günstige Wendung nicht einträte.
Es dauerte einige Zeit, bis ich meine Rührung so weit bemächtigt hatte, um antworten zu können, und dann sagte ich den wackeren Männern, daß ich mit Nichten gesonnen sei, ihr großherziges Anerbieten anzunehmen, nicht, weil ich mich schämte, mir in meiner Noth von meinen Kameraden helfen zu lassen, sondern weil ich, Dank der gütigen Hülfe, die mir von anderen Seiten geworden, nach wie vor meine Verpflichtungen gegen sie erfüllen könne. Aber ich habe etwas anderes im Sinn. Und nun setzte ich den Männern ein Project auseinander, welches ich nach dem Muster ähnlicher Einrichtungen in England schon längst mit dem Doctor und mit Klaus geplant, und wonach Jeder der Arbeiter in dem Verhältniß seiner Kräfte, seines Verdienstes, seiner Mittel Theilhaber der Fabrik werden solle. Ich sagte den Männern auch, daß eine Zeit der Unsicherheit und der Krisis, wie die gegenwärtige, nicht die geeignete zur Ausführung dieses Projectes, daß ich aber mehr als je entschlossen sei, alle meine Kräfte daran zu setzen, diese Zeit herbeizuführen, und daß ich vielleicht schon binnen Jahresfrist mein Wort einlösen zu können hoffe.
Und es war noch kein Jahr vergangen, als ich im Stande war, es einzulösen.
Nicht weniger glücklich war ich auf dem zweiten Punkte gewesen, den ich mit einer Art von Leidenschaft behauptet hatte, während ich so manches Andere willig aufgab. Zehrendorf war in meinem Besitz geblieben; ich hatte keine einzige der nützlichen Unternehmungen, die dort angefangen waren, eingehen zu lassen brauchen; im Gegentheil, es stand Alles in dem besten Flor, und ich hatte ein neues großes Werk: die Trockenlegung der ungeheuren Moore mit dem besten Erfolge begonnen. Das Gut war jetzt, wenn auch nicht den Preis werth, welchen der Commerzienrath dafür gefordert, so doch beinahe den, welchen mir der großherzige junge Fürst in der denkwürdigen Unterredung freiwillig geboten. Ich konnte nicht ohne Wehmuth den Brief betrachten, den er mir an jenem Abend, bevor ich zum zweiten Male zu ihm kam, geschrieben und in welchem er mir noch weit über jene Summe hinaus seinen Credit zur Verfügung gestellt hatte. Was war aus dem andern Brief geworden, in welchem er, falls er im Duell bleiben sollte, die Ausführung dieser Versprechungen seinem Vater an's Herz gelegt? Ohne Zweifel ist derselbe nie in die Hände, für die er bestimmt war, gelangt, denn der alte Fürst, der seinen Sohn noch mehrere Jahre überlebte, war ein großherziger, edel denkender Herr, und würde schon aus Pietät einem letzten Wunsch seines unglücklichen Sohnes gewillfahrt haben. Nun, die Unredlichkeit dessen, der jenen Brief unterschlug, ist mir zum Segen geworden. Ich hätte gewiß, wäre es von mir gefordert, in jenen ersten Tagen der Noth und Verwirrung das Gut ohne weiteres abgetreten; so, da Niemand es von mir verlangte, und ich es Herrn von Granow nicht für ein Viertel des Werthes schenken wollte, war ich genöthigt, es zu behalten, und ich konnte es halten, Dank der großmüthigen Unterstützung meines guten Hans, und – weshalb soll ich es nicht sagen? – Dank der ehrlichen Arbeit, die ich selbst daran gewandt habe.
Und ich hatte ihr noch mehr zu danken. Wie sie mich frei gemacht hatte von der Last der Verpflichtungen, die mir mein Schwiegervater jählings auf die Schultern gewälzt, so hatte sie mich auch in Drachenblut gebadet gegen die scharfen Pfeile, mit denen der Schmerz um den Verlust meiner holden Gattin und meines Kindes im Anfang mein Herz zerrissen hatte. Freilich, unter der starren Decke scheinbarer Unempfindlichkeit war die Wehmuth geblieben; aber die Thränen, die ich oft genug weinte, wenn ich des Abends, nach des Tages Mühe, in mein einsames Zimmer trat, oder, wenn ich in der Nacht erwachte und mich allein fand – sie hatten nicht mehr die ätzende Schärfe; sie flossen mild und weniger um den eigenen Verlust, als darüber, daß der kalte Hauch des Todes soviel Holdseligkeit, soviel Anmuth, soviel Scherz und Frohsinn und kecken Muthwillen vor der Zeit geknickt hatte. Und doch war auch hier wieder etwas, das fast ein Trost erschien. Wie ihr Vater wohl während seines ganzen Lebens nie ein Wesen geliebt hatte, als die schöne, einzige Tochter, so hatte sie ihn wieder geliebt, mochte er auch die Stolze, Hochgemuthe durch seine schlimmen, niedrigen Eigenschaften noch so oft gekränkt und beleidigt haben. Sein Tod, dessen Veranlassung aus gewissen Gründen doch nicht hätte ganz verborgen bleiben können, würde für sie ein furchtbarer Schlag gewesen sein und wie hätte sie sich in diese Zeit der Noth, der relativen Entbehrung, des manchmal verzweifelten Kampfes finden können, sie, die von frühster Jugend das Leben wie ein Festspiel genommen und genossen hatte, sie, die Kampf und Entbehrung nur von Hörensagen kannte! Wie würde sie es ertragen haben, daß ihr Gatte, auf den sie so stolz war, den sie so hoch über allen anderen Menschen sah, der Schuldner fast aller seiner Freunde war! Und würde sie von Herzen das Fest mitgemacht haben, in welchem der Chef der Fabrik und seine Arbeiter ihre solidarische Verbindung für alle kommenden Zeiten feierten, und ich erklärte, daß von jetzt an zwischen uns nicht mehr von Herr und Arbeiter die Rede sein könne, daß wir alle gleicherweise Arbeiter des einen Geschäftes seien, welches keinen Herrn habe, als seine Arbeiter! Würde sie sich in solche Verhältnisse geschickt haben? O gewiß! denn ihre Liebe zu mir war größer als ihr Eigenwille und ihr Stolz! Ja, sie würde sich darein geschickt haben, denn sie war auch klug und konnte eine Rolle klüglich spielen, wenn sie es für nöthig hielt, aber sich darein finden, von Herzen zustimmen – das hätte sie wohl nie gekonnt, und dieser Gedanke blieb mir auf ihrem schönen Bilde wie ein Hauch, den das herzlichste Gedenken nicht fortzuwischen vermochte. Ich mußte mir sagen, daß ich vielleicht, daß ich wohl sicher in den Bestrebungen, die mir die theuersten und heiligsten waren, allein geblieben wäre.
Allein!
Ich weiß nicht, ob es Menschen giebt, die das Gefühl, allein zu sein, ertragen können; aber das weiß ich gewiß, daß ich nicht zu diesen Menschen gehöre. Und ich war allein zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren, viel mehr allein, als ich es während jener einsamen Lehrlingszeit in dem verfallenen Häuschen zwischen den Ruinen gewesen war. Damals hatte ich doch wenigstens die goldene Zukunft zur Gefährtin gehabt; jetzt lag diese Zukunft als Vergangenheit hinter mir, als unwiederbringlich Verlorenes. Ich schalt mich undankbar. Es war mir ja noch so Vieles geblieben, vor Allem die Freunde, die treuen Freunde! Da war mein guter Doctor Snellius, da war mein braver Klaus, da war drüben auf der Insel mein alter, ehrlicher Hans, und selbst das gute Fräulein Duff hätte ich haben können, wenn ihre hochbetagten Eltern in Sachsen, bei denen sie jetzt verweilte, sie auch schwer entbehrt haben würden. Da waren vor Allem Kurt und Benno, die jetzt zu stattlichen jungen Männern herangereift waren, und die ich oft im Scherz meinen Stab und meine Stütze nannte. Im Scherz und Ernst, denn Kurt war in diesen Jahren die Seele des technischen Bureaus geworden, in der Ueberlegenheit seines Wissens und Könnens von Allen, selbst von Herrn Windfang, willig anerkannt; und Benno, der halb aus Neigung, halb mir zu Liebe Landmann geworden war, wußte in Zehrendorf sein naturwissenschaftliches Genie in einer Weise zu verwerthen, die Alle, welche etwas davon verstanden, in Erstaunen setzte.
Nein, wahrlich, es fehlte mir an Freunden nicht – abgesehen selbst von den hunderten von wackeren Männern, in deren Mitte ich lebte, und die mir auf einen Wink durch Feuer und Wasser und in jede Gefahr gefolgt wären – es war undankbar, entsetzlich undankbar, wenn ich von Alleinsein sprechen wollte, und ich sprach auch nicht davon; aber ich war allein, ich fühlte mich allein und die Arbeit konnte dies Gefühl nicht bannen, ja, es war, als ob die Arbeit nur dazu beitrüge, es zu verstärken.
Sie haben zu viel gearbeitet, sagte der Doctor; das hält auf die Dauer selbst eine Natur wie die Ihre nicht aus; Sie sollten sich einmal losreißen, eine kleine Reise machen, sich zerstreuen. Man muß die Brunel und Stephenson an Ort und Stelle studiren, wie die Raphael und Michel Angelo. Bleiben Sie nur nicht ganz so lange weg, wie Paula.
Der Doctor schien über die ihm entschlüpfte nahe Zusammenstellung meines Namens mit dem Paula's förmlich erschrocken, wenigstens stimmte er sich mit einem ganz besonders energischen Räuspern herab, blickte mich sehr unsicher durch die runden Brillengläser an, und sagte, wie als Antwort auf eine Frage meinerseits: Sie befindet sich sehr gut, ausgezeichnet; sie schreibt aus Meran –
Und der Doctor begann in gewohnter Weise nach dem betreffenden Briefe zu suchen.
Aus Meran? fragte ich, seit wann ist sie denn dort?
Seit – lassen Sie sehen – seit acht Tagen. Ich hielt einen kurzen Aufenthalt dort für angezeigt; das italienische Klima scheint ihr auf die Dauer doch nicht zu bekommen –
Aber ich denke, Doctor, Sie sagten noch eben, es ginge ihr sehr gut?
Nun ja; das heißt – ich meine – versteht sich, geht es ihr gut; aber besser ist besser, und sie ist ja auch nun lange genug dort gewesen; Oskar ist in Rom geblieben; – aber hat Ihnen denn das nicht Kurt schon Alles gesagt?
Kein Wort, und ich vermuthe daraus, daß er es selbst nicht weiß. Paula correspondirte ja fast nur noch mit Ihnen.
Ja, ja, freilich, sagte der Doctor; und ich fühle auch wirklich die Verpflichtung, Ihnen oder den Jungen einen oder den anderen Brief vorzulesen, aber der Teufel weiß, wie es zugeht –
Und der Doctor faßte wieder nach seiner Brusttasche, stülpte dann, wie in Verzweiflung, den abgeschabten Hut auf den großen, kahlen Kopf, und eilte davon, mich wieder einmal in voller Ungewißheit darüber lassend, was denn eigentlich der Inhalt von Paula's Briefen sei, die der wunderliche Freund stets vergeblich in seiner Brusttasche suchte.
Daß dieser Inhalt dann und wann in directem oder indirectem Bezug zu mir stand, war wohl unzweifelhaft, denn welches Interesse hätte der Doctor sonst wohl gehabt, die Briefe so sorgfältig vor mir zu verheimlichen? Aber das war auch wirklich Alles, was ich bei mir feststellen konnte; im Uebrigen mußte ich mir, nicht ohne den tiefsten Schmerz, eingestehen, daß ich mich in Paula nicht mehr zu finden wisse, und weiter, daß sie selbst es zu verantworten habe, daß es das Resultat ihres Benehmens gegen mich sei, wenn ich es nicht mehr konnte, wenn mir die theuerste Freundin, meine Schwester, wie sie sich so oft genannt, eine Fremde und ein Räthsel geworden war. Weshalb? ich wußte es nicht, ich konnte es nicht ergründen. War es denn ein Verbrechen, daß ich sie einst geliebt hatte mit allen Kräften meiner jungen, hoffnungsfrohen, gläubigen Seele? daß ich, nachdem sie bei den verschiedensten Gelegenheiten in den verschiedensten Formen meine Liebe zurückgewiesen, wie ein Schiff gewesen war, welches von den Ankern steuerlos in die bewegte See hineintreibt? War es ein Verbrechen, daß ich selbst über meiner Liebe zu Herminen sie nicht hatte vergessen können, wenn ich auch wußte, daß sie mir ewig fern bleiben würde, und daß ich nur immer zu ihr hinaufzusehen habe, wie zu den hohen Sternen am Himmel? Mußte ich das so schwer büßen, was mir doch so natürlich war, wie das Athemholen? Mußte sie mich deshalb aus dem Rath ihres Herzens, in welchem ich sonst so stolz gesessen, ausschließen? ihre Hoffnungen vor mir verbergen, ihre Pläne, Wünsche, ihre Triumphe, vielleicht auch so manche Enttäuschungen und Kränkungen, wie sie ja Keinem, und am wenigsten dem Künstler erspart bleiben? Mußte sie deshalb die innige Theilnahme, die sie früher an mir genommen, verleugnen, selbst in der Zeit, da alle meine Freunde sich um mich schaarten, mir mit Rath und That zu helfen, und wo sie nichts für mich hatte, als ein paar Zeilen, die sie mir aus Rom schrieb, und die kaum etwas Anderes enthielten, als den Ausdruck einer Sympathie, zu welcher in solchem Falle sich auch entferntere Bekannte aufschwingen?
Ja, ich war ihr fremd geworden, sonst hätte ich ihre sanfte Stimme vernehmen müssen in der schauerlichen Nacht, die mich nach dem Tode Herminens umgab; und sie war mir fremd geworden, ich wußte kaum mehr von ihr, als die gleichgültigen Menschen, mit denen ich zusammen vor ihren Bildern auf der Ausstellung stand. Ich wußte ebensowenig, wie Jene, weshalb sie, deren frische, kecke Kraft auf ihren ersten Bildern alle Welt entzückt und hingerissen hatte, seit einiger Zeit nur noch melancholische Vorwürfe zu kennen schien: schwermüthig blickende Hirten, die in den ödesten Theilen der Campagna, zwischen den Trümmern vergangener Herrlichkeit, ihre Ziegen weideten; Schiffbrüchige an dem Strande der calabrischen Küste, wo die heiße Sonne trostlos zwischen den nackten, zackigen Felsen glühte und die Einsamkeit und Verlassenheit dem Beschauer, ich möchte sagen, greifbar entgegentrat. Wie stimmten diese Stoffe und noch mehr das sonderbar ernste, schwere, trübe Colorit mit der heiteren Stimmung, deren sie sich nach des Doctors Berichten fortwährend erfreuen sollte?
So kann nur Jemand malen, der tief unglücklich ist; hörte ich einmal vor einem dieser Bilder eine Dame in Trauer zu ihrem Begleiter sagen.
Sie hat in der letzten Zeit nur Rückschritte gemacht, sagte ein anderes Mal ein Kritiker, auf dessen Urtheil man in der Stadt großes Gewicht legte. Solche Bilder gefallen, weil sie einem gewissen pessimistischen Zug, der durch die meisten Menschen unserer Zeit geht, schmeicheln, aber ich vermisse eine großartige Auffassung; es ist, ich möchte sagen, ein egoistischer Schmerz, der hier gewaltsam in die Menschen und die Natur hineingelegt wird, und auch die Ausführung läßt Manches zu wünschen, sehen Sie hier und hier – und der Kritiker wies auf verschiedene Stellen, deren Behandlung er flau nannte. Da ist ihr jüngerer Bruder eine ganz andere Kraft, fuhr der Kritiker fort. Haben Sie seine Aquarelle gesehen? Der Tausend! ist das ein Feuer und ein Leben! Und es soll noch ein halber Knabe sein! Das wird einmal einer unserer Matadore. Denken Sie an meine Prophezeiung!
Es schien, daß das Publikum in Bezug auf Paula's Leistungen nicht ganz der Ansicht des Kritikers war, wenigstens riß man sich um ihre Bilder und bezahlte sie mit den höchsten Preisen; ich für meinen Theil traute mir kein Urtheil zu; ich hatte in der That kein Urtheil; ich wußte nur, daß, wenn Paula sich einer so andauernden, glücklichen Heiterkeit erfreute, wie der Doctor behauptete, sie dieser Heiterkeit den seltsamsten Ausdruck von der Welt gab.
Die Unterredung, in welcher mir der Doctor mittheilte, daß sich Paula mit ihrer Mutter in Meran aufhalte, hatte im Februar stattgefunden, beinahe drei Jahre nach meinem Unglück. Anfangs des Sommers hörte ich wiederum von dem Doctor, daß sie Studienreisen im Salzkammergut und in Tyrol mache, dann etwas später, daß sie den zweiten Theil des Sommers in Thüringen zubringen werde.
Sie kommt immer näher, immer näher, sagte der Doctor; wollen Sie nun nicht auch Ihre längst projectirte Reise nach England antreten?
Es scheint, daß ich Paulas Zurückkunft durch meine Abwesenheit feiern soll, sagte ich, dem Doctor starr in die Brillengläser sehend.
Ich weiß nicht, wie Sie zu diesem seltsamen Schluß kommen, sagte der Doctor.
Und ich nicht, wie ich mir anders Ihren Wunsch deuten soll, wegzugehen, wenn Paula kommt.
Sie sind nicht gescheidt, sagte der Doctor.
Ein paar Wochen später überraschte er mich eines Abends mit der Nachricht, daß er am nächsten Morgen nach dem thüring'schen Städtchen, in welchem Paula sich aufhielt, zu reisen gedenke. Ihre Gesundheit scheine nicht so gut, wie er wünsche, sie schreibe freilich heiter wie immer – hier machte der Doctor eine Bewegung nach der Brusttasche – aber er wolle doch lieber einmal selber nachsehen; es sei ja nur ein Katzensprung und er denke schon den Tag darauf zurückzukommen.
Kommen Sie mit ihr zurück, sagte ich; vielleicht wünscht Paula wieder eine Zeit lang hier zu leben.
Der Doctor blickte mich starr an.
Ich thäte Ihnen und ihr auch gern den Gefallen, bei ihrer Rückkehr nicht hier zu sein, fuhr ich fort; aber ich kann jetzt wirklich nicht gut längere Zeit die Fabrik allein lassen, Doctor; und vielleicht genügte es, Doctor, wenn Sie ihr sagten, daß ich in diesen Jahren Manches gelitten und Manches gelernt habe, so zum Beispiel, um mich Ihres Ausdrucks zu bedienen, lieber Freund, mit einem halben Herzen zu leben? Wollen Sie ihr das sagen?
Ich hatte mich bemüht, so fest als möglich zu sprechen, es aber doch nicht verhindern können, daß meine Stimme bei den letzten Worten ein wenig zitterte, und so zitterte auch wohl meine Hand ein wenig, die der Doctor zwischen seinen kleinen, zarten Händen festhielt, während er mir fortwährend mit seinen runden Brillengläsern spähend auf Stirn und Augen sah.
Wollen Sie? wiederholte ich sehr verwirrt.
Den Teufel will ich! rief der Doctor, indem er meine beiden Hände plötzlich losließ, mich wieder in den Stuhl stieß, im Zimmer auf- und ablief, endlich vor mir stehen blieb, und in den allerhöchsten Tönen krähte:
Den Teufel will ich! Ich habe das Versteckspielen satt, und es soll heraus, mag es nun biegen oder brechen. Wissen Sie, daß Paula Sie liebt, oder wissen Sie es nicht? Wissen Sie, daß sie Sie schon seit zwölf Jahren liebt, oder wissen Sie es nicht? daß sie Sie geliebt hat von dem Augenblick an, wo Sie ihren Vater vor dem Mordbeil des Schurken – wie hieß er doch nur gleich – retteten? daß sie mit der Liebe für Sie aus dem halben Kinde, als welches Sie sie kennen lernten, zur Jungfrau herangereift ist? und daß seitdem keine Stunde ihres Lebens gewesen ist, wo sie Sie nicht geliebt hätte, und gewiß am allermeisten in den Stunden, wo sie Sie am wenigsten zu lieben schien? zum Beispiel in der Zeit, als Sie, hirnloses Mammuth, glaubten, sie interessire sich für Arthur, der sie mit Ihnen geneckt hatte und gefragt hatte, ob es recht und billig sei für die Tochter des Gefängnißdirectors, einen jungen, unerfahrenen Menschen, der nur zu sieben Jahren verurtheilt sei, für seine Lebenszeit zum Gefangenen zu machen? Wissen Sie, Herr, was es das arme Mädchen gekostet hat, Sie ihre Liebe nicht merken zu lassen? was sie es gekostet hat, Ihnen gegenüber die Schwester und immer nur die Schwester zu spielen, damit Sie die Hände frei behielten und nach allem Schönsten und Höchsten in der Welt muthig greifen und die Leiter emporklimmen könnten, auf deren oberster Sprosse das hochherzige Mädchen nun einmal den Geliebten sehen wollte? Was es sie gekostet hat, Sie nach Zehrendorf zu schicken, damit Sie sich dort die Gattin holten, die sie für Sie bestimmt hatte? Was es sie gekostet hat, Ihrem Glück lächelnden Antlitzes zuzusehen? Was es sie schließlich gekostet hat, nach Ihrem Unglücke nicht zu Ihnen zu eilen, Ihnen nicht sagen zu dürfen: hier, nimm mein Blut, mein Leben, es ist Alles, Alles Dein? Ich frage Sie zum letzten Mal: Wissen Sie das, Herr, oder wissen Sie es nicht?
Der Doctor hatte sich in seiner Leidenschaft in ein Register verstiegen, aus dem es ganz unmöglich gewesen wäre, sich herabzustimmen. Er versuchte es deshalb auch nicht einmal, riß dagegen die Brille ab, starrte mich mit seinen braunen, glänzenden Augen zornig an, setzte dann die Brille wieder auf, stülpte den Hut bis über die Ohren auf den zornerglühten Schädel, drehte sich kurz auf den Hacken um, und stampfte nach der Thür.
Ich hatte ihn in zwei Schritten eingeholt.
Doctor, sagte ich, ihn am Arm ergreifend, wie wär's, wenn Sie mich morgen früh statt Ihrer reisen ließen?
Thun Sie, was Sie wollen, schrie der Doctor, indem er zum Zimmer hinauslief, und die Thür hinter sich zuschmetterte.