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Ich hatte den Tag einen langen, langen Weg zurückgelegt, auf einer endlosen Chaussee, deren Pappelreihen vor mir in weiter Ferne immer in jenem spitzen Winkel zusammenstießen, der sich nur öffnet, um sich wieder zu schließen, der nie näher kommt, und in dieser seiner Unerreichbarkeit auch den geduldigsten Wanderer zur Verzweiflung bringen kann. Dazu hatten die herbstlichen Regentage den Weg schlüpfrig und beschwerlich gemacht. Melancholisch hatte es den ganzen Morgen in den halb entblätterten Pappeln gerauscht; dann war gegen Mittag der Regen gekommen, immer von derselben Seite, und melancholisch und verregnet hatten die sandigen Haiden und verödeten Felder rechts und links vom Wege, hatte jedwedes Menschenkind, ja und auch jedes Thier, dem ich begegnet war, ausgesehen. Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, heute noch die Hauptstadt zu erreichen und empfand es wirklich als eine specielle Wohlthat, als jetzt ein gelb-röthlicher Dunstkreis in mäßiger Höhe sich über den Horizont breitete, und ein einsamer Wandersmann, den ich überholte und den ich um die Erklärung dieses seltsamen Phänomens ersuchte, mir sagte, daß dies die Nähe der Stadt bedeute. Wirklich machten jetzt meine Feinde, die Pappeln, den Häusern der Vorstadt Platz. Die Vorstadt war lang genug; aber Häuser halten es nicht so lange aus, wie Pappeln; und das ist das Thor, sagte mein Gefährte, und wünschte mir einen guten Abend.
Da war das Thor. Es war eben nicht stattlich und nahm meine Aufmerksamkeit wenig in Anspruch; desto mehr aber ein Complex von Gebäuden, welcher unmittelbar vor dem Thore links von der Straße lag, und, nach der Größe der Baulichkeiten und den hier und da von röthlichem Licht durchstrahlten colossalen Fenstern zu schließen, eine große Fabrik war. Ein hohes, eisernes Gitter schied den Hofraum von der Straße. In dem Gitter war ein weites Thor, dessen einer Flügel eben geöffnet wurde und aus welchem einzelne Arbeiter hervorkamen, denen immer mehr und mehr folgten, so daß sie zuletzt in dichten, dunklen Schaaren hervorströmten. Sie zerstreuten sich hierhin und dahin, Andere blieben auch unmittelbar vor dem Thore stehen und bildeten dichte Gruppen, in denen zum Theil lebhaft gesprochen wurde. Ich hörte wiederholt die Worte: Tagelohn, Accordarbeit, Abzug, Kündigung, aber ich verstand den Zusammenhang nicht und mochte doch auch nicht fragen, um was es sich handle. Ein paar Schritte weiter an dem Gitter stand, mit dem Rücken nach mir, ein junges Weib, vor sich ein Bübchen haltend, das mit den Füßchen auf dem Mauerwerk des Gitters ruhte und mit den Händchen in das Gitter griff, eifrig auf den Hof der Fabrik spähend, über welchen noch immer dunkle Gestalten, wenngleich spärlicher als zuvor kamen.
Was für eine Fabrik ist dies? fragte ich, an das junge Weib herantretend.
Sie wandte ihren Kopf über die Schulter: Die Maschinenfabrik von dem Commerzienrath Streber, sagte sie. Stehe still, Georg, der Vater muß gleich kommen.
Der matte Schein einer nahen Laterne fiel in das hübsche runde Gesicht des jungen Weibes. Die Maschinenfabrik des Commerzienraths, – Georg, dessen Vater gleich kommen sollte – die guten, freundlichen Augen – die rothen Lippen – es konnte nicht anders sein; Christel Möve! sagte ich, Christel Pinnow! Sind Sie es denn wirklich?
Du meine Seele! rief die junge Frau, das Bübchen schnell von dem Gitter herabnehmend und vor sich auf die Erde setzend; und sind Sie es denn, Herr Georg? Sieh! Georg, das ist Dein Pathe; und sie hob den Buben so hoch als möglich, ihm zu einem genaueren Anblick eines so merkwürdigen Menschen zu verhelfen. Nein, wie sich Klaus freuen wird.
Sie hatte den Knaben wieder auf die Erde gesetzt, der sich kaum frei fühlte, als er an dem Gitter abermals in die Höhe zu klettern versuchte. Ich nahm ihn in meine Arme. Bist Du ein Riese? fragte der kleine Mann, mir mit seinen Händchen auf den Kopf patschend.
In dem Augenblicke trat rasch eine vierschrötige, schwarze Gestalt auf uns zu, einigermaßen erstaunt, wie es schien, seine Frau in so eifrigem Gespräch mit einem fremden Manne zu sehen, der seinen Georg auf dem Arm trug; aber bevor noch Christel oder ich ein Wort hatten sagen können, riß er schon seine schwarze Pelzmütze vom Kopf, schwenkte dieselbe als Siegesfahne in der Luft und schrie: Hurrah, er ist da! der Georg ist da! Es war schon ein wenig lange her, daß eine menschliche Lunge sich meinetwegen zu einem Freudenschrei herbeigelassen hatte, und es war vielleicht eine Folge davon, daß mir bei dieser Begrüßung des guten Klaus die Thränen in die Augen traten, so daß die abendliche Scene: Fabrikgebäude, Häuser, Straßenlaternen, vorüberrollende Wagen, schwarze Arbeitergestalten, die Gruppe der Freunde selbst für ein paar Momente hinter einem dichten Schleier verschwand.
Als ich wieder zu mir kam, wanderten wir die Straße entlang, Klaus den großen Georg an dem einen Arm, auf dem andern den kleinen Georg, während Christel voraufging, alle Augenblicke ihr lächelndes Gesicht über die Schulter zu uns wendend. Glücklicherweise war der sehr belebte Weg nicht eben weit. Wir langten bald an einem großen, nach meinen Begriffen äußerst stattlichen Hause an, dessen Inneres allerdings seinem Aeußeren wenig entsprach. Der Hausflur war dürftig erleuchtet, und die Dielen mit dem Schmutz, wie es schien, unzähliger Fußtritte besudelt, die heute hier aus- und eingegangen waren. Der Hof, auf welchen wir jetzt traten, war von hohen Gebäuden umgeben, hinter deren hier und da matt erleuchteten Fenstern es nicht überall so still herging, wie es im Interesse Ruhe liebender Leute wünschenswerth sein mochte. Die steinernen Treppen, welche wir in einem dieser Hintergebäude hinaufstiegen, waren sehr steil und womöglich noch schlechter beleuchtet und noch schmutziger als der Flur des Vordergebäudes. Dabei kamen uns fortwährend Leute entgegen, welche es mit den Pflichten der Höflichkeit keineswegs immer sehr genau nahmen. Mir wurde ganz bänglich zu Muthe, als wir einen Absatz nach dem andern erkletterten, ohne daß der voraufsteigende Klaus Halt machte, und ganz beklommen sagte ich: ob wir nicht bald oben seien?
Da sind wir schon! sagte Klaus, gegen eine Thür klopfend, welche alsbald von innen geöffnet wurde, und aus welcher, als sie geöffnet war, mir jener penetrante Duft entgegenströmte, der in einem Raum zu entstehen pflegt, wo den ganzen Tag drei oder vier heiße Plätteisen über frisch gestärkte Wäsche geführt werden. Eine Täuschung über die Entstehung des Dunstes war um so weniger möglich, als die betreffenden Plätteisen noch diesen Augenblick von zwei jungen Frauenzimmern gehandhabt wurden, die, eben so wie die dritte, welche uns geöffnet hatte, neugierige Augen auf den Ankömmling richteten.
So geht es den ganzen Tag, sagte Klaus, mit einem Blick der tiefsten Bewunderung auf seine Frau, die zu den Plätterinnen getreten war; den ganzen Tag! höchstens, daß sie sich eine Viertelstunde gönnt, mich aus der Fabrik abzuholen.
Du bist ein glücklicher Mensch, Klaus! sagte ich, mit einer vergeblichen Anstrengung, in dieser Atmosphäre einen vollen Athemzug zu thun.
Nicht wahr? erwiderte Klaus und er zeigte dabei alle seine Zähne, die noch nichts von ihrer schimmernden Weiße verloren hatten; aber das will noch nicht viel sagen. Nun sollen Sie –
Sollst Du, Klaus.
Meinetwegen! – sollst Du erst einmal ihre Jungen sehen!
Und Deine, Klaus!
Nun ja, und meine, das versteht sich, sagte Klaus in einem Tone, als ob es sich gar nicht der Mühe verlohne, einen so gleichgültigen Umstand weiter zu erwähnen; die sollst Du erst sehen!
Einen kenne ich ja schon, Klaus!
Ja, aber die andern! ihr alle wie aus den Augen geschnitten; es ist ordentlich lächerlich! wiederholte Klaus, mit bewunderndem Blick auf seine kleine rundliche Gattin.
Du weißt ja nicht, was Du schwatzst, Du dummer Mann, sagte diese, sich schnell umwendend, und ihrem Klaus eine arbeitstüchtige und doch weiße und kleine Hand auf den Mund legend. Wir wollen machen, daß wir in die Stube kommen. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier so lange aufgehalten habe.
Wir traten in die Stube, aber Klaus ruhte nicht, bevor uns seine Frau auch in die Kammer führte, wo neben zwei großen Betten vier Bettchen standen, in welchen vier allerliebste Kinder ruhten, denn auch mein kleiner Namensvetter war unterdessen von einer der Plätterinnen in sein Nestchen gebracht.
Ist es nicht eine Pracht? sagte Klaus, indem er mich von einem Blondkopf zum andern führte, – und lauter Jungen, lauter Jungen, aber es ist mir recht, ganz recht; von einer Dirne müßte ich verlangen, daß sie ihr ähnlich würde und das wäre ja doch die pure Unmöglichkeit, die pure Unmöglichkeit.
Hier schob mich Christel wieder zur Kammer hinaus, wie sie mich vorher zur Küche hinausgeschoben hatte.
Du bleibst hier, sagte sie zu ihrem Manne, und wäschst Dich erst und machst Dich ordentlich, Du Ungethüm, wie es sich schickt, wenn wir einen solchen Besuch haben.
Klaus zeigte seine Zähne und fand den Spaß seiner Christel zu gut.
Er findet Alles zu gut von mir, sagte Christel, indem sie ihm mit einer scheinbar ärgerlichen Miene die Thür vor seinem schwarzen Gesicht zugemacht hatte.
Besser, als wenn das Gegentheil der Fall wäre, sagte ich.
Ja, aber er treibt es doch manchmal zu arg. Was sollen die Leute denken? ich schäme mich oft. Und es wird mit jedem Jahre schlimmer; ich weiß wirklich nicht mehr, wo das hinaus soll, wenn die Jungen erst größer werden; ich denke oft daran, die können ja gar keinen Respect vor ihrem Vater haben.
Während Christel so ihrem tiefen Kummer Worte gab, deckte sie zierlich und gewandt den Tisch, und ich, vor dem Ofen stehend, in welchem ein lustiges Feuer brannte, dachte vergangener Zeiten, dachte jenes Abends, wo ich den Wilden in Pinnow's Schmiede zum ersten Mal getroffen und wie Christel den Tisch gedeckt und uns bedient und wie sie mich hernach gebeten hatte, nicht mit dem Wilden zu gehen. Wenn ich damals ihrem Rath gefolgt wäre! Es wäre allerdings anders gekommen. Anders, vielleicht besser, vielleicht auch nicht. Es war so gekommen und –
Sie müssen damit vorlieb nehmen, sagte Christel.
Das will ich, Christel, das will ich! sagte ich, indem ich zu gleicher Zeit die Hände der jungen Frau ergriff und mit einer Leidenschaftlichkeit drückte, welche sie ein wenig zu erschrecken schien.
Wie wild Sie noch immer sind, sagte sie, indem sie mit ihren blauen Augen verwundert, aber keineswegs unwillig, zu mir aufschaute. Noch ganz wie damals.
Das ist Ihnen doch nicht leid, Christel, sagte ich.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Es ging manchmal lustig her, sagte sie.
Im Winter beim Glühwein, sagte ich.
Und des Sommers bei der Kalteschale, sagte sie.
Besonders, wenn der Alte nicht zu Hause war, sagte ich.
Ja wohl, sagte sie, aber sie machte ein sehr ernstes Gesicht dabei und fuhr fort, indem sie ihre Augen zu mir erhob: Sie wissen es doch?
Was soll ich wissen, Christel?
Daß er –
Sie legte den Finger auf den Mund und zog mich, mit einem ängstlichen Blick nach der Kammerthür, etwas tiefer in die Stube. Er darf es gar nicht hören, – er kann immer noch nicht darüber fortkommen, obgleich es nun schon ein Vierteljahr her ist.
Was ist ein Vierteljahr her, Christel? fragte ich erschrocken, denn das arme, junge Weib war ganz blaß geworden und wandte ihre aufgeregten Blicke bald auf mich, bald auf die Kammerthür.
Es läßt sich kaum aussprechen, sagte sie. Er hat zuletzt ganz einsam gelebt, denn Keiner hat ja was mit ihm zu thun haben wollen, selbst der taubstumme Jacob ist von ihm fortgegangen; man hat gar nicht gewußt, was er eigentlich getrieben hat, und hat ihn auch Niemand wochenlang gesehen, bis eines Tages der Einnehmer gekommen ist, um die Haussteuer zu erheben, und da – da hat er ihn erhängt gefunden, in der Schmiede über dem Herd, und da soll er schon gehangen haben, keiner weiß wie lange.
Der arme Klaus, sagte ich, das wird ihm nahe gegangen sein, trotz alledem.
Ja wohl, sagte Christel, und man weiß ja gar nicht, wie er gestorben ist, ob er es selbst gethan hat oder Andere, denn sie haben ihm zugeschworen, daß sie es ihm eintränken würden von damals, wissen Sie –
Sehr möglich, sehr möglich, sagte ich.
Da bin ich wieder, sagte Klaus, indem er in seinem Hausrock und mit einem Gesicht, das so roth war, wie kaltes Wasser, schwarze Seife und ein grobes Handtuch es in der Eile hatten scheuern können, zu Thür hereintrat.
Das Abendbrot, an welchem auch die jungen Gehülfinnen Christels Theil nahmen, war bald verzehrt, und nun, nachdem das Tischzeug weggenommen, die Mädchen entlassen waren und Christel uns einen Grog bereitet hatte, für den sie das Recept noch nicht vergessen, geriethen Klaus und ich in eine jener Unterredungen, wie sie zwischen alten Freunden üblich, die sich seit vielen Jahren nicht gesehen, unterdessen aber Jeder viel erlebt haben. Ich mußte Klaus die Geschichte meiner Gefangenschaft von dem ersten Jahre an erzählen, wo er mir jenen denkwürdigen Besuch abstattete, der ihn um ein Haar in ernsten Conflikt mit den Strafgesetzen brachte. Nicht, daß ich ihm gerade Alles hätte erzählen können, dem guten Jungen, oder auch nur hätte erzählen wollen! – wir lassen ja unsere Freunde, selbst die intimsten, nie bis hinter den innersten der sieben Wälle blicken, mit welchen wir die Festung unserer Seele klüglich umgeben, – aber es kam doch genug zur Sprache, was das Interesse des guten Klaus auf's Höchste erregte, und ganz leidenschaftlich wurde seine Theilnahme, als ich auf die letzte Periode meiner Gefangenschaft zu sprechen kam, wo ich in die Gewalt des neuen Directors und seines Helfershelfers, des frommen Diakonus von Krossow, fiel und in mehr als sieben mageren Monaten die sieben fetten Jahre büßen mußte, welche ich vorher verlebt hatte.
Die Schufte, die Schurken! Ist es möglich? ist es erlaubt? murmelte der gute Klaus einmal über das andere.
Ob es erlaubt war, lieber Klaus, erwiderte ich, das weiß ich nicht; daß es möglich gewesen, ist nur zu gewiß. Man hat mir unter den nichtigsten Vorwänden von der Welt meine Secretair-Stelle entzogen, hat mich das Leben eines ganz gewöhnlichen oder vielmehr eines ungewöhnlich bösartigen und renitenten Gefangenen führen lassen, und mir, da das Alles die Rachsucht noch nicht befriedigte, zum Ueberfluß noch sieben Monate Disciplinarstrafe zudictirt.
Und was sagte denn der gute alte Aufseher dazu, den ich damals bei Dir gesehen habe? fragte Klaus.
Der Wachtmeister Süßmilch? erwiderte ich. Er würde sehr geflucht haben, wenn er das hätte mit erleben müssen. Glücklicherweise war er aber acht Tage nach dem Tode des Herrn von Zehren mit der Familie hierher gezogen.
Das hätte ich nicht gethan, sagte Klaus mit großer Entschiedenheit, ich hätte Dich nicht in der Räuberhöhle allein gelassen.
Aber er hatte ältere Verpflichtungen, Klaus.
Ist mir ganz gleich, sagte Klaus; ich hätte Dich nicht allein gelassen.
Nun erzählte ich, wie ich endlich frei geworden, wie meine erster Besuch unserer Vaterstadt gegolten und welchen traurigen Empfang ich dort gehabt.
Du armer, armer Georg! sagte Klaus, seinen Kopf schüttelnd, einmal über das andere.
Aber Du hast ja selbst Schlimmeres erfahren, Du armer Kerl! sagte ich.
Von wem weißt Du es? fragte Klaus eifrig.
Von ihr, entgegnete ich, nach der Kammer deutend, in welcher Christel seit fünf Minuten ihren schreienden Jüngsten vergeblich zur Ruhe zu bringen suchte.
St! sagte Klaus, wir dürfen ja nicht laut sprechen; bei uns Männern ist das etwas Anderes, aber so eine kleine Frau – es greift sie immer schrecklich an, das arme Ding; ich bin jedesmal außer mir, wenn ein Gerichtsbrief einläuft von wegen der Erbschaftsregulirung, weißt Du!
Dein Vater hat wohl ein ganz respectables Vermögen hinterlassen?
Gott bewahre, sagte Klaus; sie müßten es ihm denn gestohlen oder er müßte es vergraben haben, was Beides leicht möglich ist, denn er hat ja zuletzt keiner Menschenseele mehr getraut und hatte auch wenig Ursache dazu, das weiß Gott! heimlich ist er von jeher mit Allem gewesen. Denk' nur, da haben wir doch Alle geglaubt, die Christel sei so an's Land geschwommen, so nackt und blos, wie ein Fisch, den die See auswirft, ohne irgend eine Möglichkeit, auch nur den Namen des Schiffes, mit dem sie gescheitert ist, festzustellen, geschweige denn ihren eigenen. Und da hat sich nun in dem großen Wandschrank, der Thür gegenüber, weißt Du, ein Bündel Papiere gefunden in einer Blechkapsel, die offenbar von demselben Schiff herstammt; die Papiere haben dem Kapitän gehört und ist sein Name drin geschrieben und der Name des Schiffes und daß er verheirathet gewesen ist mit einer jungen Frau, die auf der See geboren hat, und ein Zettel dazu, auf dem gestanden, daß er das Schiff nicht mehr retten könne und daß keine Möglichkeit sei, mit dem Leben davon zu kommen, und daß er sein Kind mit den Papieren, die er in eine Blechkapsel gethan, auf einem Stück Kork treiben lassen wolle, sie möchte nun an's Land kommen oder nicht, wie es Gott gefiele. Und es ist kein Zweifel, daß meine Christel eben dieses Kind von dem holländischen Kapitän ist, der Tromp geheißen hat, Peter Tromp, und sein Schiff der Prinz von Oranien und aus Java ist er ausgesegelt. Aber das Alles wundert mich gar nicht, schloß Klaus seine Erzählung; ich würde mich auch nicht wundern, wenn sie als das Kind vom Kaiser von Marokko –
Auf einem von zwölf Pfauen geführten Wagen aus dem Himmel herabgeschwebt wäre, sagte ich.
Nein, auch dann nicht, erwiderte Klaus nach einigem Bedenken mit großer Energie.
Und was hast Du mit den Papieren gemacht? fragte ich lächelnd.
Ich habe sie mir eben übersetzen lassen, sonst nichts, erwiderte Klaus.
Aber das ist doch unrecht, sagte ich; die Papiere könnten doch möglicherweise zur Entdeckung eines reichen Onkels führen oder dergleichen, ist Alles schon dagewesen, Klaus!
So meint Doctor Snellius auch! sagte Klaus.
Meint wer? fragte ich erstaunt.
Doctor Snellius, wiederholte Klaus; Dein Freund vom Gefängnisse her; er ist ja der Arzt in der Fabrik; hat er Dir denn das nicht geschrieben?
Nein, oder der Brief ist nicht in meine Hände gekommen. Der also ist Euer Arzt? der Arzt der Fabrik?
Nun ja, ich nenne ihn so, weil immer gleich zu ihm geschickt wird, wenn etwas passirt; aber freilich, er ist auch der Arzt, ich glaube von beinahe allen Armen in diesem Viertel.
Da muß er eine große Praxis haben, Klaus.
Das soll Gott wissen, aber reich wird er nicht dabei werden, denn er nimmt nie einen Pfennig, wenn die Leute es nicht übrig haben, was sehr selten der Fall ist, und oft giebt er die Medicin noch in den Kauf. Ach, das ist eine Seele von einem Menschen, obgleich er immer aussieht, als ob er sie gleich Alle fressen wollte und unsere Kinder immer schreien, so oft er zur Thür hereinkommt.
Also Euer Arzt ist er auch?
Nun natürlich, das heißt, wir haben ihn eigentlich nur einmal gebraucht, das letzte Mal, sehr gegen Christels Willen, die immer behauptete, das Kind läge – na, das verstehst Du wohl nicht, das sind so Vatersorgen, und sie hat ja auch ganz recht gehabt –
Wie immer, Klaus.
Wie immer.
Und warum willst Du keine Nachforschungen anstellen, Klaus?
Klaus kratzte sich hinter dem Ohre.
Es ist ein eigenes Ding, sagte er, wir leben jetzt so glücklich, und da denk' ich immer, besser kann es nicht werden, höchstens schlechter. Wenn sie nun wirklich eine reiche Tante hätte – wir meinen, es ist eine Tante – und die beerbte – was sollten wir wohl um alles in der Welt mit dem Gelde anfangen? Ich wüßte es wahrhaftig nicht.
Wenn Du es mir zum Beispiel liehest, Klaus, sagte ich. Ich wüßte schon, was damit anfangen.
Ja, das ist wahr! rief Klaus, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Für Dich wäre das so etwas, wahrhaftig. Morgen am Tage lasse ich es in alle Zeitungen rücken; die Tante soll herbei und wenn sie hunderttausend Meilen von hier wohnte!
Und wenn es nun ein Onkel wäre?
Nein, nein! es ist eine Tante; sagte Klaus mit großer Bestimmtheit.
Meinetwegen, sagte ich aufstehend, und nun laß uns noch einen kleinen Spaziergang machen. Ich muß mir doch meinen neuen Wohnort ein wenig ansehen.
Vielleicht ist keine Stunde mehr geeignet, einen Kleinstädter mit dem Gefühl der Ungeheuerlichkeit einer Großstadt zu erfüllen, als wenn er dieselbe in der Dämmerstunde eines trüben Herbstabends zum ersten Mal betritt. Pflegt sonst bei Menschen von einigermaßen lebhafter Phantasie die Wirklichkeit hinter der Ahnung zurückzubleiben, so fließen in solcher Stunde, was man sieht und sehen könnte, was man hört und zu hören glaubt – das Reich der Wirklichkeit und der Einbildungskraft ununterscheidbar in einander, und die Schranken, an welche wir uns sonst so peinlich stoßen, sind so gut wie weggeräumt.
Solch ein Abend war es, als ich mit Klaus durch die Straßen der Stadt schlenderte, die mir, dem Neuling, eine Riesenstadt zu sein schien. Noch heute, nach so vielen Jahren, kann ich sie manchmal des Abends, und wäre es nur auf Augenblicke, in dem Lichte und mit den Empfindungen sehen, mit welchen ich sie damals sah. Aus einem Arbeiterquartier kommend, durchschritten wir auf unserer Wanderung eines der glänzendsten Quartiere, um in die eigentliche City zu gelangen und aus dieser über weite, von ungeheuren Palästen umgebene Plätze in unser dunkles Arbeiterquartier zurück. Und überall das Gewimmel der eilenden, sich drängenden Menschen auf den schmalen Trittsteinen und das Rasseln und Donnern der Wagen und die endlosen Linien der Laternen, die endlosen Straßen hinauf und hinab, und der Glanz der Lichter aus den Läden, der so hell auf die Straßen fällt, daß die Gestalten der Vorübereilenden und seltsame Figuren von Wagen und Pferden sich auf den nassen Trottoirs und in dem Straßenschmutze spiegeln. Und nun die imponirenden Massen sich wie Gebirge aufthürmender Gebäude, der Blick hinauf zu einer ehernen Statue, die auf häuserhohem Piedestal oben durch die Nacht reitet, oder zu einer großen Figur, die von dem Sockel mit dem gezückten Schwert nach unten deutet; – breite Brücken, deren Geländer mit weißlichen Marmorbildern besetzt sind und unter deren Bogen eine schwärzliche Fluth sich drängt, aus welcher der Widerschein von tausend Lichtern zittert, und dann der Blick in die Läden, wo dem Uneingeweihten die Schätze Arabiens und Indiens von Feenhänden aufgebaut scheinen, oder in dunkle Höfe, wo noch so spät am Abend von Zyklopen mit Lederschürzen gewaltige Fässer und Kisten aufgethürmt werden – ich ging und stand und ging und blieb wieder stehen, staunend, verwundert, aber keineswegs betäubt, und Alles in Allem seltsam glücklich. War dies das Meer des unaufhaltsam rauschenden, sich ewig verschlingenden, sich ewig neu gebärenden Lebens, auf welches mich die Prophezeiung meines theuren Lehrers gewiesen hatte? Das Meer, auf dessen hochgehenden Wogen, wenn er richtig geahnt, meine Heimath sein sollte? Ja, dies war es; es mußte es sein! ich fühlte es an dem muthigen Schlage meines Herzens, an der Kraft, mit welcher ich diese Menschenwogen durchschnitt, an der Lust, mit welcher mich der Donner dieser Brandung erfüllte.