Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der Maschinenfabrik des Commerzienrathes Streber wurde ein großer Dampfkessel vernietet. Drei russige Gesellen harrten, mit bis über die Ellnbogen aufgestreiften Hemdärmeln, die Hämmer in den gewaltigen Händen, auf den rothglühenden Eisenbolzen, welchen eben ein Vierter von dem in der Nähe glühenden Heerde in der Zange herbeitrug. Der Eisenbolzen verschwand in der Oeffnung des Dampfkessels und erschien nach wenigen Secunden in dem Nietloch; die Cyklopen faßten ihre Hämmer fester und schlugen in gleichmäßigem Takte die Spitze des Bolzens zum Nietkopf um. Das gab einen Höllenlärm. Und wenn man nun Jemand, welcher der Sache unkundig war, sagte, daß in dem Bauch des Kessels, auf welchen die schweren Hämmer mit solchem sinnbetäubenden Lärm fielen, ein Mensch auf dem Rücken lag, der die Niete mit einer Zange in Empfang nahm und mit der Zange aus aller Kraft einen Gegendruck ausübte, während die Hämmer auf den Nietkopf herunter rasselten, so wäre das besagtem müßigen Besucher kaum glaublich, jedenfalls aber der Mensch im Bauche des Kessels als einer der armseligsten, bemitleidenswertesten Sterblichen erschienen.
Die Niete war eingeschlagen, die Hämmer ruhten, der mit der Zange kroch aus dem Bauch des Ungeheuers hervor, und ich brauche dem Leser wohl nicht zu sagen, wer der Mann mit der Zange war. Auch schäme ich mich nicht, so vor ihn hinzutreten, denn er hat mich schon vor kurzer Zeit in einem ähnlichen Aufzuge gesehen, freilich gewähre ich in diesem Augenblick einen einigermaßen schrecklichen Anblick. Der untere Theil meines Gesichtes, Hals und Brust, sind mit Blut bedeckt, das mir während der letzten halben Stunde aus Nase und Mund geströmt ist. Aber die Drei mit den Hämmern lachen nur, und der eine, der Vorschmied, sagt: ein ander Mal sperrt das Maul auf, Kamerad; es fliegen Euch keine gebratenen Tauben hinein.
Der Witz ist herzlich schlecht, aber die Andern lachen, und ich lache auch, denn, wenn die Klugheit gebietet, mit den Wölfen zu heulen, so habe ich es selten über das Herz bringen können, unter Lachern nicht mitzulachen, selbst in dem Falle, daß sie, wie diesmal, auf meine Kosten lachten.
Indessen war es mir, trotz des glühenden Eifers, mit welchem ich mich meinem neuen Berufe hingab, nicht unlieb, daß diese Beschäftigung im Kesselbauche für mich nur eine vorübergehende war, zu welcher mich mein Meister, weil es in der andern Werkstatt an Händen fehlte, nur sehr ungern, auf Befehl des Obermeisters, hatte herleihen müssen. Sehr ungern! das klingt prahlerisch für einen, der, wie ich, erst vierzehn Tage in der Schmiede ist, und vorläufig nur zur allerrohesten Arbeit, zum Zuschlagen, benutzt wird. Auch war es jedenfalls nicht mein Verdienst, daß der schwerste Hammer, den Andere mühsam regierten, mir wie ein ganz gewöhnlicher Hammer in den Händen lag, und daß man meinen Schlag unter den vier oder fünf Schlägen, die in gleichmäßigen Pausen dem Schlag des Vorschmieds auf das roth glühende Eisen nachschlugen, jedesmal deutlich heraushörte. Es war nicht mein Verdienst, und doch wurde es mir an dieser Stelle, wo die Körperkraft eine so wichtige Rolle spielt, als ein sehr hohes, ja als das höchste angerechnet. Mein Meister war stolz auf mich, meine Mitgesellen sahen in des Wortes eigentlichster Bedeutung mit Bewunderung zu mir empor, und Klaus, wenn von mir die Rede war, zeigte alle seine weißen Zähne, und nickte dann, indem er die Lippen fest schloß und den Zeigefinger in die Höhe hielt, geheimnisvoll mit dem Kopf. Ich hatte dem guten Klaus dies geheimnißvolle Nicken streng verboten und er hatte mir auch fest versprochen, sich in Acht zu nehmen; trotzdem war es nicht seine Schuld, wenn nicht sämmtliche zweihundert Arbeiter der Maschinenfabrik bereits dieselbe hohe Meinung von mir hatten, mit welcher seine Seele bis zum Ueberlaufen erfüllt war.
Was willst Du, sagte Klaus, so oft ich ihm von meiner theoretischen Einsicht in Maschinensachen und von meinen mathematischen Kenntnissen etwas zum Besten gab, Du verstehst von allen diesen Dingen mehr, als irgend einer in der Anstalt, den Obermeister und die Herren Ingenieure nicht ausgeschlossen; und Du verdienst mindestens Chef des technischen Bureaus zu sein.
Du bist ein Narr, Klaus, sagte ich.
Aber es ist doch wahr, sagte Klaus hartnäckig.
Nein, es ist nicht wahr. Erstens überschätzest Du meine Kenntnisse weitaus, und zweitens kann man immerhin ein mäßig guter Theoretiker sein und dabei in der Praxis der jämmerlichste Stümper. Ich wünsche aber ein guter Theoretiker und ein guter Praktiker zu gleicher Zeit zu sein, und bis ich dahin komme, werde ich noch viel Hammerschläge und noch manchen Feilenstrich thun müssen. Denke doch, Klaus, wie lange Du selbst gebrauchst hast, bis Du aus dem gewöhnlichen Flickarbeiter, der froh war, wenn er seine Schrotzange regelrecht abschleifen konnte, der feine Maschinenschlosser wurdest, der auf seine Pleuelstange die Kippen aufpressen kann, wie nur Einer.
Ja, sagte Klaus, ich, aber Du –
Es wird überall am Feuer geschmiedet, Klaus, und jedes Stück will gehämmert werden, bis es fertig ist, und ein guter Maschinenbauer auch, bis er fertig ist, und es fehlt noch viel, bis ich das von mir werde sagen können, wenn ich es jemals sagen kann.
Da bin ich anderer Meinung, sagte der hartnäckige Klaus.
So thu' mir wenigstens den Gefallen und behalte Deine Meinung für Dich, sagte ich ernst.
Ich hatte meine guten Gründe, dem braven Klaus ein Schweigen, das ihm so schwer wurde, aufzuerlegen, denn abgesehen davon, daß er mich wirklich in lächerlich-rührender Weise überschätzte, konnte seine Unvorsichtigkeit mir eine Menge Ungelegenheiten bereiten, ja den Weg verschütten, den zu gehen ich nun einmal fest entschlossen war. Ich wollte in dem Beruf, dem ich mein Leben geweiht, von der Pike auf dienen, eingedenk des Satzes, auf den mein unvergeßlicher Lehrer immer so gern zurückkam, daß der wahre Künstler auch das Handwerk seiner Kunst verstehen müsse. So war ich denn vorläufig, was ich sein wollte und mußte, ein Handwerker, ein Arbeiter der gröbsten Arbeit, und Jeder sollte mich dafür nehmen und nahm mich dafür, und das war gerade, was ich wünschte.
Meine Vergangenheit hatte ich in ein einfaches Märchen gebracht, das bei den einfachen Menschen, mit denen ich es zu thun hatte, leichten Glauben fand. Ich war ein Schiffersohn aus Klaus Pinnow's Vaterstadt. Wir hatten uns von Jugend auf gekannt; ich hatte Schmied werden wollen, wie er, und hatte auch eine Zeit lang bei seinem Vater als Lehrjunge gearbeitet. Dann war ich vor zehn Jahren zur See gegangen und war als Matrose, als Schiffszimmermann, als Schiffsschmied durch die ganze Welt gekommen und endlich vor kurzer Zeit in meine Heimath zurückgekehrt, mit dem Entschluß, nun im Lande zu bleiben und mich redlich zu nähren, und zu dem Zweck das Schmiedehandwerk regelrecht zu lernen, das ich bisher als Pfuscher geübt hatte.
Ich kam selten in die Lage, dieses mein Märchen durch Erzählungen aus meiner Vergangenheit bewahrheiten zu müssen, und wenn wirklich einmal in der Feierstunde ein besonders Neugieriger die Rede auf meine Irrfahrten brachte, so verstand ich genug von der Schifffahrt und hatte früher zu viel mit Kapitänen und Steuerleuten verkehrt und zu viele Seegeschichten gelesen, um die Rolle eines Sindbad nicht auf eine halbe Stunde durchführen zu können. Eine meiner Hauptgeschichten, die irgend wo auf dem Malayischen Archipel spielte, und in der es scharf herging und vielen Piraten das Lebenslicht ausgeblasen wurde, hatte mir in meiner Werkstatt den Spitznamen: »der Malaye« eingetragen, und ich behielt diesen Namen, bis ich – doch ich darf meiner Geschichte nicht vorgreifen.
Man mußte mich um so mehr für das nehmen, wofür ich mich gab, als ich mein äußeres Leben streng in dem Stil eines gewöhnlichen Fabrikarbeiters eingerichtet hatte. Ich war nicht besser und nicht schlechter angezogen, als die Andern auch; ich aß mein Frühstück aus der Hand, wie die Andern auch; ich speiste zu Mittag in einer billigen Garküche, in welcher ein halbes Hundert anderer Arbeiter auch speisten. Der einzige Luxus, den ich mir von dem wenigen Gelde, das ich aus dem Gefängniß mitgebracht hatte, verstattete, war eine bessere Wohnung, als sie sonst von Arbeitern meines Grades gesucht zu werden pflegt oder bezahlt werden kann; und auch diese Abweichung von der Norm hatte ich mindestens ebenso sehr aus Notwendigkeit, als aus Rücksichten der Bequemlichkeit oder meinem Geschmack zu Liebe gethan. Ich konnte, wollte ich in meinen theoretischen Studien fortfahren, nicht in einem Quartier wohnen, dessen Gassen bis tief in die Nacht hinein von dem Gerassel der Wagen, nur zu oft von dem wüsten Lärm trunkener Arbeiter, die mit der Polizei in Conflict gerathen waren, wiederhallte; und wo in den menschenüberfüllten Häusern die tickende, klappernde, rasselnde Uhr des Lebens keine Minute still stand.
Ich hatte mehrere Tage lang, während derer ich Klaus' Gast war, mich nach einer passenden Wohnung umgesehen; endlich fand ich, was ich suchte.
An unsere Fabrik grenzte ein bedeutendes Grundstück, das mit halb ausgeführten oder eben im Entstehen begriffenen Baulichkeiten auf die wunderlichste Weise bedeckt war. Nach der Aussage des alten Mannes, welcher in einer ebenfalls nur halb fertigen Portierloge dieses sonderbare Terrain bewachte, hatte das Ganze ursprünglich eine Concurrenzfabrik des Streberischen Etablissements werden sollen. Aber der Unternehmer hatte fallirt, die Anlage war in Subhastation gekommen und von einem reichen Gläubiger erstanden worden, der es für zweckmäßig hielt, das Grundstück vorläufig so liegen zu lassen, wie er es übernommen hatte. Er hofft ja wohl, sagte der alte Mann, daß die Grundstücke hier in ein paar Jahren noch dreimal so viel werth sind; vielleicht auch, der Commerzienrath müsse ihm das Ding auf jeden Fall und um jeden Preis abnehmen, da ihm ja Alles daran liegen muß, daß sich ihm ein Concurrent nicht, so zu sagen, vor seine Nase hinsetzt. Und dann muß der Commerzienrath auch ausbauen, sie können sich ja drüben nicht mehr rücken und rühren, und wo soll er hinbauen, wenn nicht nach dieser Seite? Aber der besinnt sich auch wieder, bis mein Herr sich besinnt, und so besinnen sie sich alle Beide schon zwei Jahre lang. Jetzt eben ist er wieder hier gewesen und hat sich die Sache zum, ich weiß nicht, wie vielsten Male, angesehen; es schien mir aber nicht, daß er zu einem Entschluß gekommen sei. Nun, mir ist es gleich, und wenn der Herr eine von den Stuben im Gartenhaus haben will, so kann sein Bart schon immer ein paar Zoll länger werden, bis er wieder auszuziehen braucht.
Der alte Satiriker von Portier gefiel mir wohl und das Gartenhaus noch besser. Zwar war es eine Prahlerei, wenn der Mann von einem der Zimmer des Gartenhauses sprach, denn es hatte überhaupt nur eins, in welchem möglicherweise ein Mensch wohnen konnte, während die anderen ohne Fenster, ohne Thüren vielmehr ein Aufenthalt für heimathlose Katzen zu sein schienen und, wie ich mich in der Folge überzeugte, wirklich waren. Das Häuschen, das ursprünglich zur Privatwohnung des Besitzers oder des Directors bestimmt gewesen sein mochte, war in einem sehr gefälligen italienischen Stil angelegt. Eine sanfte Treppe führte zu dem in Rede stehenden Zimmer, in welchem nach den Tintenflecken auf den ungescheuerten Dielen und diversen Zeichnentischen mit drei Beinen und anderen trümmerhaften Büreau-Utensilien zu schließen, während des Baues der Architect sein Atelier gehabt hatte; auf der anderen Seite gab es einen freischwebenden Balcon. Vor der Treppe war ein Rasenplatz projectirt, zu dem allerdings vorläufig nur der Platz da war, ohne den Rasen, eben so wie einem großen Sandstein-Becken in der Mitte der Triton und das Wasser fehlten, und dem Spalier, welches sich an der Fensterwand bis unter das vorspringende Dach zog, der venetianische Epheu. Aber diese Mängel beleidigten mich nicht; im Gegentheil! sie deuteten auf eine bessere und schönere Zukunft, und harmonirten so mit der Grundstimmung meiner Seele, welche ebenfalls aus einer dürftigen Gegenwart in reichere und schönere Tage sah. Sodann hatte diese ruinenhafte Wohnung den wirklich praktischen Vorzug erstaunlicher relativer Billigkeit und den andern: mir die Ruhe zu gewähren, deren ich für meine Studien so nothwendig bedurfte, und, um Alles zu sagen: der alte Mann hatte mir mitgetheilt, daß das Fräulein, welches den Commerzienrath begleitet hatte, und das ja wohl die Tochter von dem alten Herrn gewesen sei, in die Hände geklatscht habe, als sie das Gartenhaus gesehen, und gemeint habe, das sei doch gar zu allerliebst und da möchte sie wohnen.
Sie würde sich schön bedanken, sagte der alte Murrkopf. Sie sah nicht so aus, als ob die Eule ihr Baumeister und Schmalhans ihr Koch wären, aber für unseres, ich wollte sagen für Ihresgleichen wird es schon gerade recht sein.
Es ist gerade recht, sagte ich, und wann kann ich kommen?
Wann Sie wollen; einen Vorgänger haben Sie nicht; Sie brauchen also auch nicht zu warten, bis er ausgezogen ist.
So nahm ich denn noch am Abend desselben Tages von meiner neuen Wohnung Besitz, unter Assistenz des guten Klaus, dessen Kopf dabei aus dem Schütteln nicht viel heraus kam.
Was ich nur in der verfallenen Spelunke wollte, wo man mich todtschlagen könne, ohne daß ein Hahn darnach krähe? und wie ich nur Geschmack an solchen Möbeln finden könne: an den beiden hochlehnigen wurmzerfressenen Stühlen, an diesem Lehnsessel aus der Urgroßväter Zeiten, an diesem Spiegel mit dem verblindeten Goldrahmen? Ich hätte es zwar billig genug bei dem Trödler gekauft; indessen er hätte mir für nicht viel mehr ganz andere Sachen schaffen wollen; aber freilich, ich hätte von jeher in diesen Dingen einen wunderlichen Geschmack gehabt; er erinnere sich, daß auch in meiner Stube im väterlichen Hause zu Uselin dergleichen nutzloser Krimskrams gestanden habe.
Ich ließ den guten Klaus murren und schelten; ertrug es sogar, daß Christel einige Tage lang ernstlich mit mir schmollte. Sie hatte ein Zimmer in ihrem eigenen Hause entdeckt, zwei Treppen hoch nach dem Hofe hinaus, wunderschön meublirt, und welches die einzige Unbequemlichkeit hatte, daß man zu demselben nur durch die Küche und das Wohnzimmer der Wirthin gelangen konnte, einer ausnehmend respectablen Schneider-Wittwe von zweiundachtzig Jahren, mit einer sehr ehrbaren unverheirateten Tochter von sechszig, die sich meiner gewiß auf das Liebevollste angenommen haben würden.
Der brave Klaus und die gute Christel! ich konnte ihnen nicht helfen; ich konnte ihnen zu Liebe meine Natur nicht verändern, welcher das Streben nach Freiheit, nach Unabhängigkeit innerstes Bedürfniß war. Auf meiner Giebelstube im Vaterhause, auf meinem Zimmer auf Schloß Zehrendorf, ja in meiner Zelle im Gefängnisse hatte ich als Knabe und Jüngling fort und fort das Glück und die Poesie der Einsamkeit zu reich genossen, als daß ich sie jetzt, wo ich ein Mann war, hätte entbehren können.
Und einsam war ich auch jetzt wieder, auf meiner Stube in dem halbfertigen Gartenhaus zwischen den Ruinen großer und kleiner Gebäude, die niemals fertig gewesen waren. Kein Laut drang des Abends, wenn ich von meinen Büchern aufschaute, zu mir heran, als aus der Ferne, vergleichbar dem Meeresrauschen, das dumpfe ununterbrochene Rollen der Wagen oder das Gebell des zottigen Spitzes, der am Tage dem alten Mann in der Portierloge Gesellschaft leistete und am Abend und während der Nacht die weiten Plätze zwischen den Ruinen und die Ruinen selbst durchstrich, auf einer, wie es schien, endlosen Jagd nach Katzen. Und wenn ich dann einmal, mir die heiße Stirn abzukühlen, auf den Balcon hinaustrat, war wieder alles wüst und leer und nächtig um mich her. Nur hier und da das Licht einer einsamen Laterne und manchmal eine rothe Feuersäule, welche aus den Hochöfen unserer Fabrik in den nächtlichen Himmel stieg und die Ränder der schwarzen Wolken färbte, die ein scharfer Novemberwind vor sich her wälzte. Und trat ich dann in das Zimmer zurück, wie traulich grüßte mich meine bescheidene Lampe, vor der das Buch mit Zahlen und Formeln aufgeschlagen lag; wie traulich die alten geschnitzten Eichen-Möbel, welche den Unwillen des guten Klaus so sehr erregt hatten; und vor allem mit wie großem Entzücken betrachtete ich die beiden kleinen antiken Vasen von Terracotta, welche auf dem Caminsims standen, und zuletzt die herrliche Copie der sixtinischen Madonna, die meinem Arbeitstisch gegenüber an der Wand hing. Man hatte die Vasen und das Bild aus meiner Zelle entfernt, als der neue Director kam, aber ich hatte sie, als man mich entließ, mit solcher Entschiedenheit reclamirt, daß man sie mir nicht zu verweigern wagte; dann hatte ich sie sorgfältig in eine Kiste gepackt und einem Spediteur übergeben, um sie mir, sobald ich irgendwo festen Fuß gefaßt, nachschicken zu lassen. Heute Mittag waren sie angekommen, und heute Abend erfreute ich mich zum ersten Male wieder des theuren Anblicks.
Und während ich andächtig auf meine Heiligthümer schaute, machte ich mir die ernstlichsten Vorwürfe, daß ich es habe über das Herz bringen können, die theuerste Freundin, die ich auf der Welt hatte und mit der ich nun schon an die vierzehn Tage von den Mauern derselben Stadt eingeschlossen lebte, nicht aufzusuchen, ihr keine Kunde meines Daseins zu geben. Es schien so ganz gegen meine Natur, dem Triebe meines Herzens und noch dazu einem so mächtigen Triebe, nicht ohne Weiteres Folge zu leisten; nicht ohne Aufenthalt zu der zu eilen, mit welcher ich so viele Jahre meines Lebens in innigster Freundschaft verlebt hatte, und von der ich überzeugt sein durfte, daß ihr Herz so warm für mich schlug, wie je. Wir hatten während des Jahres, welches wir getrennt gewesen waren, keine sehr lebhafte Correspondenz mit einander geführt: aber es war auch, als wir uns trennten, ausgemacht worden, daß wir uns nicht schreiben wollten, – es wäre denn im äußersten Nothfall, – weil uns eine Correspondenz unter den Augen des neuen Direktors und des Herrn von Krossow eine Unmöglichkeit dünkte. Dieser Nothfall trat ein, als mir die Niedertracht dieser Unedlen eine siebenmonatliche Verlängerung meiner Haft zu Wege brachte; ich hatte es ihr einfach gemeldet, und sie hatte mir nur mit den zwei Worten geantwortet: harre aus!
Nein, das war nicht die Ursache meiner Scheu, und dieselbe hatte auch keinen Grund, als nur den einen, den ich mir nicht gern selbst gestehen mochte. Ich wußte, wie das theuerste, edelste Mädchen für sich, ja für die Ihrigen zu arbeiten und zu sorgen hatte. Seit Jahr und Tag war es mein innigster Wunsch gewesen, ja es war mir oft als der einzige Zweck und Inhalt meines Lebens erschienen, in eine Lage zu kommen, mich in eine Lage zu bringen, in welcher ich im Stande wäre, ihr die Last von den zarten Schultern zu nehmen. Und jetzt, wo sie vielleicht eines Freundes, einer Stütze mehr bedurfte, als je, sollte ich vor sie hin treten, selbst in einer Lage, in welcher ich, wenn ich auch nicht hilfsbedürftig war, Anderen gewiß keine Hilfe gewähren konnte. Das war voraus zu sehen gewesen, das hatte, wie die Dinge lagen, so kommen müssen, und doch –
Aber will sie denn, wird sie jemals deine Hilfe annehmen? unterbrach ich den Gang meiner Gedanken, indem ich die Hände auf dem Rücken – ich hatte diese Gewohnheit von meinem Vater – in meinem Gemache auf und nieder zu gehen begann. Hat sie dir nicht hundert Beweise geliefert, wie eifersüchtig sie auf ihre Unabhängigkeit ist? Und hat sie nicht dir speciell mehr als einmal, ja, in der Abschiedsstunde noch, zu verstehen gegeben, daß, wenn sie nach einer Stütze verlangte, es nicht dein Arm sein würde?
Die letzten Tage, die ich mit Paula und den Ihrigen zusammen verlebt, kamen mir wieder in Erinnerung. Es waren ihrer nicht zu viel gewesen; man hatte mit einer geradezu unanständigen Dringlichkeit von Frau von Zehren verlangt, daß sie dem Nachfolger ihres Gemahls Platz mache. Dieser Nachfolger, ein pensionirter Major und besonderer Günstling des pietistischen Regierungspräsidenten, hatte schon längst auf die Stelle gewartet und so zu sagen bereits vor der Thür gestanden. Die Brutalität, mit welcher er ohne die geringste Schonung der unglücklichen Familie von der Director-Wohnung Besitz ergriff, war beispiellos gewesen. Er hatte der unglücklichen Frau nur die Alternative gelassen, entweder mit den Ihrigen in einigen Gefängnißzellen, die er zu diesem Zweck großmüthig räumen zu wollen versprach, unterbringen zu lassen, oder ihre Zuflucht in einem der äußerst mangelhaften Gasthäuser der Stadt zu suchen. Frau von Zehren hatte natürlich keinen Augenblick darüber geschwankt, was sie in diesem Falle zu thun habe, und so waren denn kaum drei Tage nach dem Tode meines Wohlthäters vergangen, als in dem Hause, das er so lange Jahre bewohnt, alle alten bekannten Gesichter verschwunden waren. Alle, alle waren sie verschwunden; nicht eins war geblieben! Doctor Snellius hatte gleich in der ersten Stunde, in welcher er die fragliche Ehre hatte, dem neuen Director vorgestellt zu werden, demselben seine Meinung rund heraus gesagt; und wenn Doctor Snellius Jemandem, den er zu verachten und zu verabscheuen Ursache hatte, seine Meinung sagte, so kann man sich gewiß darauf verlassen, daß der Betreffende sich über etwaige Dunkelheiten in den Auslassungen des Doctors nicht zu beklagen brauchte.
Dem Doctor Snellius war der alte Wachtmeister Süßmilch auf dem Fuße gefolgt, und obschon die Stimmlage des Alten mindestens zwei Octaven tiefer war, als die des Doctors, so mußte doch die Melodie, welche beide gesungen, die nämliche gewesen sein, zum wenigsten war das Resultat das nämliche gewesen, das heißt: der Herr Major a. D. hatte vor Wuth geschäumt und mit den Füßen gestampft und verlangt, daß der impertinente Mensch sofort in's Loch gesteckt werde. Glücklicherweise aber war der Alte klug genug gewesen, seinen Abschied zu verlangen und in Empfang zu nehmen, bevor er dem neuen Chef sein ehrliches Herz ausschüttete, und so hatte der Wüthende keine Gewalt mehr über den Alten gehabt und mit Drohungen konnte man dem Wachtmeister Süßmilch nicht beikommen.
Wie gern, wie gern wäre ich so verlockenden Beispielen gefolgt und hätte auch dem neuen Director mein Herz ausgeschüttet! Ich habe wohl in meinem Leben nie so große Gewalt gegen mich geübt, wie in jenen Tagen, wo ich einen Kanker und Molch in Menschengestalt an der Stätte hausen sah, von welcher der Edelste der Menschen soeben geschieden war, und vielleicht würde ich diesen Sieg über mich nicht davongetragen und mich in ein unabsehbares Unglück gestürzt haben, wenn ich nicht in meinem Ohr fortwährend eine Stimme vernommen hätte, die mir heiliger war, als die meines eigenen Herzens. Und diese Stimme hatte also gesprochen: Du hast schon Manches in Deinem Leben erduldet, armer Georg, so erdulde auch noch dies, ob es gleich das Schwerste sein mag, und wenn Du selbst nicht Herr werden kannst über Dich selbst, rufe ihn im Geiste zu Hülfe, der Dich wie seinen Sohn geliebt hat.
Ich blickte wieder in mein Buch, aber ich konnte heut Abend die einfachsten Dinge nicht begreifen. Sehr bekannte algebraische Formeln schauten mich plötzlich ganz fremdartig an, und lauteten, als ich genauer zusah: Wenn er mich wie seinen Sohn geliebt hat und Paula ihm das geliebteste seiner Kinder war, müssen Paula und ich uns nicht auch lieben? Oder auch: Paula von Zehren verhält sich zu Hermine Streber, wie Georg Hartwig zu X.
Wollen Sie denn heute die ganze Nacht durch Licht brennen? fragte die Stimme des alten Wächters von unten herauf. Es ist ja ein Uhr und ich soll Sie um fünf wecken. Da werde ich wieder meine schwere Noth haben.