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Ich war bereits über eine Woche auf Zehrendorf. – Aus diesen Tagen liegt ein Brief vor mir von meiner Hand, ein mehrere Seiten langer Brief, auf welchem hier und da Flecke sind, als wären Thränen darauf gefallen, und doch ist der Brief ein sehr munterer Brief und er lautet so:
»Niemand, liebe Paula, weiß besser als Du, daß ich nicht hierher gekommen bin, mich zu amüsiren, aber, wenn ich sagen wollte, daß ich alle diese Tage etwas Anderes gethan hätte, als mich amüsiren, oder wenigstens mir davon den Anschein geben, müßte ich es lügen. Wahrhaftig, Paula, es ist, als ob ich alle Dummheiten nachzuholen hätte, die ich während der letzten acht oder neun Jahre versäumte; und da dies, nach dem Maßstab meiner früheren Leistungen in diesem Genre, nicht ganz wenig sein kann, wird mir denn auch hier nicht ganz wenig zugemuthet. Man weiß hier noch von mir zu erzählen: von meinen rühmlichen Leistungen bei den Ruderpartien mit unisonem Chorgesang, bei den Tanz-Gesellschaften, wo ich immer den erfindsamsten Kopf hatte für die ergötzlichsten Touren im Cotillon, bei den Promenaden zu Fuß und zu Wagen in den Tannenwald, dessen ehrwürdige Wipfel bei Tage von einem Hallo und Hussa wiederhallten und nach Sonnenuntergang in dem herrlichsten Schein der bengalischen Flammen leuchteten, die mir mein Freund und Schützling, Fritz Amsberg, der bucklige Apothekerlehrling, als pflichtschuldigen Tribut präparierte. Ja, ja, es leben Leute, die sich meiner Heldenthaten aus jener Zeit nur zu genau erinnern, und, was schlimmer ist, es leben sogar welche in allernächster Nähe, beinahe Wand an Wand mit mir und seufzen mir bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten entgegen: »Wissen Sie wohl noch, Georg – – verzeihen Sie, daß ich Sie wieder bei dem alten, lieben Namen nenne – wissen Sie wohl noch, wie wir uns da und da so göttlich amüsirten, als Sie das und das arrangirt hatten?« Ich weiß das zehnte Mal erst davon und dann noch sehr undeutlich, und wundere mich über die enorme Zähigkeit, mit welcher das Gedächtniß der Frauen gewisse Dinge im Leben festhält, die bei uns Männern die höher gehenden Wogen des Lebens mitleidslos verwischen; – arme Emilie!
Wie die hierher kommt? Mir sehr unerwartet, kann ich Dich versichern, und nichts weniger als erwünscht; aber mein großer Feind von ehemals, ihr Vater, ist der Justiziarius des Fürsten Prora, und auch der Rechtsfreund des Commerzienrathes, und da der Fürst und der Commerzienrath noch immer über Zehrendorf verhandeln, geht es natürlich nicht ohne das juristische Factotum der hohen contrahirenden Mächte. Wo aber das juristische Factotum, pflegte schon damals Fräulein Emilie nicht allzufern zu sein, wenn außer den Geschäften ein klein wenig unschuldiges Vergnügen in Aussicht stand, wie das bei uns zu Lande, wo Geschäft und Vergnügen, wenn irgend möglich, Hand in Hand gehen, sehr häufig der Fall war. Und nun gar, nachdem die würdige Frau, die Justizräthin, so unmütterlich gehandelt hat, Emilien als hilf- und schutzlose Waise – ihre eigenen Ausdrücke! – zurückzulassen! Wo aber Emilie war, brauchte man nach unseres würdigen Bürgervorstehers lieblicher Tochter nimmer weit zu suchen, und so ist denn auch diesmal Elise Kohl in Begleitung ihrer Busenfreundin. Du lieber Gott, ich sollte eigentlich nicht der armen Mädchen spotten, denn sie können doch schließlich nichts dafür, daß sie aus der guten Stadt Uselin und deren dreimaligem Umkreis von Domänen und Rittergütern niemals hinausgekommen, ihre Begriffe von Welt und Menschentreiben in Folge dessen nicht sehr umfassend, vielleicht auch ein wenig confus sind; und vor Allem kann Fräulein Emilie sicher nichts dafür, daß sie den nicht fand, den sie suchte; – nein, ich sollte wirklich nicht spotten; und doch hätte ich nimmer geglaubt, daß meine Lachmuskeln noch so lustig spielen könnten, wie sie es thun, wenn ich die Beiden – die beiden Eleonoren hat sie Jemand hier getauft – sich innig umschlungen haltend, durch die Thür des Salons treten sehe, die Wilhelm Kluckhuhn, nicht ohne ein malitiöses Grinsen um seinen Mund, dienstbeflissen weit aufgerissen hat. Die Attitüde ist ohne Zweifel auf das Sorgfältigste vor dem Spiegel einstudirt, sie könnte sonst nicht bis in das kleinste Detail jedesmal genau die nämliche sein. Hier hast Du die Gruppe, die ich Dir für eines Deiner reizenden Salonbilder dringend empfehle. Emilie, als die feinere und keckere, ist natürlich die zweite Eleonore und bildet die weltliche Stütze für die andere, die einen Kopf größer ist, noch zu meiner Zeit ein romantisches Verhältniß mit einem jungen, poetischen Schulmeister hatte, der verrückt wurde und die deshalb alle mögliche Anwartschaft zu der ersten Eleonore hat, um so mehr, als sie schon vor zehn Jahren in elegischen Versen ihr Loos beklagte, in der Blüthe ihrer Jahre dem Grabe entgegenzuwelken. Diese schicksalverfolgte, dem Tode verfallene Dulderin umschlingt nun mit ihrem rechten Arm die Schulter der Freundin, gütigen Blickes, als wollte sie sagen: »Du darfst singen und spielen, du glückliches Kind!« zu jener herabschauend, während das glückliche Kind mit ein paar Augen, in denen mindestens zwei Himmel blauen, und mit einem herausfordernden Lächeln um den schelmischen Mund zu jener emporschaut. Ach, es ist wirklich ein rührender Anblick; besonders, wenn man bedenkt, daß die beiden Eleonoren zusammen wenigstens zwei- bis dreiundsechzig Jahre alt sind, denn ich erinnere mich ganz deutlich, daß ich schon als kleiner Junge niemals mehr mit Elisen spielen wollte, weil sie mir zu alt sei; und was Emilien betrifft, so bin ich sogar gewiß, daß sie ein Jahr früher als ich und noch dazu an demselben Tage den Thurm der Nicolaikirche zu Uselin erblickt hat, denn unsere Geburtstage wurden gelegentlich zusammen gefeiert. – Ja, die Zähigkeit von Fräulein Emiliens Gedächtniß ist groß, aber eine Stunde giebt es doch, von der sie behauptet, daß sie dieselbe nur wie durch einen dichten Nebel schaue. Und doch sehe ich gerade diese Stunde so deutlich, daß ich mir beinahe die Zahl der Papisten anzugeben getraue, die den blonden Kopf meiner Jugendfreundin umzitterten, als sie die Hände zu mir erhob und mich anflehte, ich möchte ihren alten Vater schonen, denselben alten Vater, der mir jetzt über Tisch mit dem vollen Glase vertraulich zunickt und nach der Tafel mir entgegenruft: »Prosit Mahlzeit, lieber, junger Freund! ich hätte so gern mit Ihnen angestoßen, aber ich saß so weit; nun müssen Sie mir aber wenigstens die Hand reichen! – wonach ganze, wenigstens halbe Umarmung. Ich fasse mich wirklich manchmal an den Kopf, mich zu überzeugen, daß dies Alles nicht ein sonderbarer Traum sei, aus welchem ich demnächst mit einem Paar der allerlängsten Ohren erwachen werde. Denn Du mußt wissen, liebe Paula, daß, wenn ich nicht der Narr dieses Festes bin, ich nicht eben weit zum Könige habe: so kommt mir Alles entgegen, so schmeichelt mir Jeder, so bewirbt sich Jeder um meine Gunst – mit einer einzigen Ausnahme natürlich! Da ist mein alter Freund, der kleine Herr von Granow, welcher mit der Zeit noch viel runder geworden ist, so, daß er auch in seinen besten Augenblicken den Kopf nicht mehr aus den Schultern heben kann. Besonders nicht, wenn seine Gemahlin zugegen ist, eine derbe, große Brauerstochter aus S., die ihm ein paar mal hunderttausend Thaler mitgebracht hat, auf welche er sich nicht wenig zu gute thut, und ein paar Pantoffeln, unter deren gewichtigen Schlägen der schnurrige, kleine Kerl schon manche heiße, heimliche Thräne vergossen haben soll. Aber, wie uneinig die Gatten auch in allen andern Punkten sein mögen, darin sind sie einig, mir in der lächerlichsten Weise von der Welt den Hof zu machen. Der kleine Mann erinnert sich mit Rührung der »fidelen Stunden«, die er damals in meiner Gesellschaft verlebt, und wünscht seufzend »die gute, alte Zeit« zurück, in Gegenwart sogar seiner corpulenten Gattin, die schalkhaft drohend den Zeigefinger erhebt und ruft: »Du böser, böser Mann! aber freilich, ich begreife, wie man für einen Freund, wie diesen, selbst den Frieden des häuslichen Herdes opfern möge!«
Und nun der Steuerrath und die Geborene! Ich schrieb Dir, wie sie mich empfangen; aber seitdem muß großer Rath gehalten und der Entschluß gefaßt sein, eine andere Methode einzuschlagen. Diese besteht darin, daß der Steuerrath, sobald er meiner ansichtig wird, mir die Hand entgegenstreckt, rufend: »Grüß Gott, Georg! Ich darf ja wohl den Sohn eines alten, zu früh verstorbenen Collegen und Freundes bei seinem Vornamen nennen!« Zu welchen Worten dann die Geborene gütig lächelt, um, wenn es die Gelegenheit irgend zuläßt, meinen Arm zu ergreifen, mich auf die Seite zu ziehen und über ihren Augapfel, ihren Arthur, eine lange Conferenz mit mir zu haben. Ach, ihr Augapfel thut ihr jetzt wieder einmal so weh und ärgert sie so sehr, daß, wenn man ihrer Versicherung glauben dürfte, sie manchmal daran ist, ihn aus ihrem aristokratischen Gesicht zu reißen. Aber man darf ihr eben nicht glauben, und ich glaube ihr auch nicht. Es ist genau die alte Litanei, die ich schon von meinen Knabenjahren her kenne: wie Arthur der beste, klügste, schönste, geistreichste, liebenswürdigste Junge von der Welt sei, und nur den einen Fehler habe, seine tausend und ein Lichter unter den Scheffel seines Leichtsinns zu stellen, wo sie denn freilich nicht die gehörige Wirkung thun könnten. Nur daß der Vers der Litanei, der von mir handelt, eine wesentlich andere Form angenommen hat. Damals war man ganz sicher, daß ich im Grunde aller der dummen Streiche stecke, die sich Arthur zu Schulden kommen ließ. Jetzt ist man vollkommen überzeugt, daß ich und ich allein im Stande bin, das verirrte Lamm von dem Abgrund zu retten – »Wer, wie Sie, das Unvermeidliche mit Würde getragen, wer, wie Sie, den schwersten Sieg, den über sich selbst, errungen; wer« – nun, ich zweifle nicht, daß sie um die Zukunft ihres Sohnes ernstlich besorgt ist, und sie hat, so viel ich sehen kann, auch alle Ursache dazu, desto mehr aber zweifle ich an ihrer guten Gesinnung für mich. Weiß ich doch nur zu genau, was sie, was der Herr Steuerrath von mir wollen! Nur zu genau, was Arthur, der alle Tage auf Stunden von Rossow herüberkommt, von mir will, wenn er alle Quellen seiner Liebenswürdigkeit spielen läßt und mich mit einem Sprühregen von Schmeichelworten und Freundschaftsversicherungen überschüttet. Und was das Schlimme – oder muß ich sagen das Gute? – ist: ich weiß ebenso von allen Andern, was sie wollen: von dem kleinen Herrn von Granow, der gern das große Zehrendorf möchte und dem ich das Wort beim Commerzienrath reden; von Wilhelm Kluckhuhn, dem zu Ostern gekündigt ist und dem ich seine Stelle erhalten soll; und so haben sie Alle ihre ganz bestimmten Interessen, dem armen Georg weiß zu machen, er sei im Grunde genommen ein merkwürdig gescheiter, ungemein einflußreicher Mensch, dessen Gunst zu erringen man es sich schon etwas kosten lassen dürfe. Im Ernst, theuerste Paula, es ist ein höchst ergötzlicher Zustand, in welchen ich hier so unversehens gerathen bin, und ich weiß nicht, ob sie mir nicht ganz und gar den Kopf verdrehten, wenn – nun ja, wenn da nicht Jemand wäre, dessen ganz specielle Aufgabe es zu sein scheint, mir ihn wieder zurecht zu rücken. Oder das ist vielleicht ein falscher Ausdruck: auf die andere, die entgegengesetzte Seite zu drehen, wäre richtiger, denn ich bin mit nichten eine wichtige Persönlichkeit, auf die man in jener Weise Rücksicht nehmen muß – ich bin ein ganz obscurer, unbedeutender Mensch, den der Vater, Gott weiß aus welcher Caprice, in sein Haus geladen, und den man in Folge dessen gerade nicht zur Thür hinausweisen kann, dem man aber zu verstehen geben muß, daß Leute seinesgleichen eigentlich ganz wo anders hingehören. Und zwar auf alle und jede Weise zu verstehen geben muß, und wäre es auch auf die wunderlichste von der Welt. Ich erzähle Dir wohl davon; wenn ich zurückkomme; auf dem Papier würden, fürchte ich, die Gesichter, die man mir macht, lange nicht so reizend aussehen, als sie in Wirklichkeit sind, und die kleinen Extravaganzen, zu denen man sich hinreißen läßt, im Gegentheil beinahe toll erscheinen. Oder sind sie wirklich toll? Es kommt mir manchmal so vor, und manchmal getraue ich mir auch gar kein Urtheil darüber und wünsche, ich hätte Benno hier, oder ich wäre Benno mit seinen neunzehn Jahren und seinen schönen Illusionen. Für seine braunen, schwärmerischen Augen würde das blauäugige Räthsel vermuthlich etwas einfacher zu lösen sein, als für mich alten, schwerfälligen Menschen mit seinen beinahe dreißig Jahren, seinen rauhen Händen und seinem nüchternen Verstande. Nun, man wird den alten Hans wohl schon nehmen müssen, wie er ist, und thut man's nicht, so mag man sich ärgern und schmollen und hübsche, drollige Gesichter schneiden, so viel man will; mich geht's nichts an. Nicht wahr, liebe Paula?«
So lautete der Brief, den ich für einen recht munteren, ja lustigen Brief angesehen haben wollte, und wie gut mir mein Zweck gelungen war, – dafür sind eben Zeuge die Spuren der Thränen, die er den Augen Paulas entlockt hatte.
Ach, wohl hatte sie Ursach' zu weinen über diesen Brief! Hatte sie es um mich verdient, daß ich das, was mich innerlich so tief bewegte, künstlich vor ihr versteckte, verheimlichte? und war dieser Brief von Anfang bis zu Ende nicht ein Versuch – ein plumper, mißlungener Versuch – sie über den Zustand meiner Seele zu täuschen?
Was war denn an diesem Briefe wahr?
So gut wie nichts!
Der Wirbel von Vergnügungen, in welchen man mich hier hineingezogen, hatte mich gar nicht so nüchtern gelassen, als ich mir die Miene gegeben. Es war, als ob mit derselben Luft, die ich als junger Mensch vor zehn Jahren hier geathmet, auch etwas von der Lebenslust und Lebensgier jener Tage über mich gekommen wäre. Das schöne, reiche Haus, das breite, bequeme Dasein, das vergnügliche, leichte Leben, der Aufenthalt in der freien Luft, das Schweifen über die Haiden, über die Uferhöhen, durch die Wälder, – dazu die herrlichsten Frühlingstage, in welchen dann und wann schon sommerliche Lüfte durch die Blüthenbäume strichen – das Alles entzückte, ja berauschte mich. Nein, ich war nicht der nüchterne, heitere, harmlose Schalk, als den ich mich Paula gegenüber dargestellt hatte, für den ich mich freilich auch der Gesellschaft gegenüber zu geben bemühte. Nein, ich war nicht nüchtern, und noch weniger war ich heiter oder harmlos, ganz im Gegentheil! Eine unruhige, leidenschaftliche, halb gepreßte, halb überspannte Laune hatte sich meiner bemächtigt, so sehr, daß der Schlaf, mir ein lieber, treuer Gefährte von Kindesbeinen an, mich jetzt floh, wie er mich in der ersten Zeit in dem Untersuchungsgefängnis geflohen hatte; und das mochte wohl dazu beitragen, daß jetzt oft eine ganz ähnliche Stimmung wie damals mich überkam: die Stimmung Jemandes, der da weiß, daß über ihm an einem Haar die Entscheidung schwebt über Tod und Leben.
Was hatte ich von dem Allen Paula geschrieben? Aber konnte ich ihr das schreiben? Konnte ich ihr schreiben, daß ich den Grund zu wissen glaubte, weshalb Hermine dies sonderbare Spiel, das sie gegen mich von dem ersten Augenblick meines Erscheinens in Zehrendorf begonnen, in immer wunderlicherer, phantastischerer Weise weiter spielte? Und wenn sich auch ein Etwas in mir noch dagegen sträubte, Herminens Betragen gegen mich die richtige Erklärung zu geben, konnte ich mich wirklich ganz darüber täuschen, wenn Alle in ihrer Weise sich bemühten, mir anzudeuten, mir klar zu machen, daß sie recht gut sähen, was ich nun einmal durchaus nicht sehen wollte, was nicht zu sehen ich mir wenigstens den Anschein gab?
Ja, es war ein sonderbarer, unheimlicher Zustand; ein Zustand, in welchem wir an unsere Freunde dergleichen muntere Briefe schreiben, über die unsere Freunde heiße Thränen weinen.