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Wer war die weiße Gestalt, die jetzt von der Treppe, die zur Gallerie hinaufführte, herunterglitt, und mit hastigem Schritt, wie mit der Sicherheit des Nachtwandlers, durch die umhergestreuten Trümmer eilend, nun auf derselben Stelle stand, die eben die jungen Männer verlassen? War es das weiße Mondeslicht, das ihre Züge so geisterhaft bleich machte? War dieses Weib, das leidenschaftlich die Hände rang, die stolze Lady Vere? war es Lady Vere, die diesen unterdrückten Schrei ausstieß, der halb wie eine Verwünschung, und halb wie ein Stöhnen klang, und der schauerlich durch das öde Gemach schallte? –
Sie entzündete mit zitternder Hand eine der Wachskerzen, die von gestern Abend her noch hie und da auf den Tischen standen, sie leuchtete gegen das Bild des alten Lord Vere – die strengen Züge schienen sich zu beleben in dem flackernden Kerzenlicht, die finsteren Augen auf sie herabzudrohen – sie schauderte zusammen. Es war nicht Lord Vere, der sie anblickte – es war Georg – Georg in dem Augenblicke, als sie ihn zurückgestoßen, wie der Herzog eintrat: dieselbe hohe, feste Stirn; derselbe feine, beredte Mund, der sich auch so finster zusammenpressen konnte –
Sie lachte gell auf, – es war ja so klar, so klar! und sie sah es jetzt zum ersten Male! Sie eilte durch den Saal nach der anderen Seite, wo sie Georg das Bild hatte anhängen sehen – sie wußte es, das schöne blonde Mädchen war Georgs Mutter – wußte es, als hätte sie über seine Schulter das Manuscript gelesen. –
Schöner, stiller Engel, lächle freundlich auf dies bleiche, entstellte Gesicht herab, das zu dir aufstarrt! Der wehmüthige Zug um deinen Mund ist nicht das böse Zucken dieser blassen Lippen; du segnest, die dir flucht – bittest für die, die dein Andenken schmäht – erzählst keinem der Seligen von diesem Arm, den die Unselige drohend gegen dich aufhebt. Sie würde dich durchbohrt haben, hättest du lebend vor ihr gestanden, und hätte sie damit diese letzte Stunde zurückkaufen können. Und jetzt wankte sie zu dem Tisch, auf den sie den Leuchter stellte, und warf sich in den Lehnsessel, in dem Georg die Papiere seines Vaters gelesen. –
Sie sah in die Flamme trockenen Auges, starr, regungslos – lange Zeit – nur die weißen Zähne nagten geschäftig an den blassen Lippen, daß das Blut durch die zarte Haut sprang. –
Und jetzt schritt sie nach dem Balkon und lehnte sich über die Balustrade, als wollte sie sich hinabstürzen; sie öffnete den Mund, als wollte sie Jemanden zurückrufen, der sich von ihr entfernte; sie breitete die Arme aus, und ließ sie wieder sinken, als hätte sie umfassen wollen, was wie ein Schatten ihr entschwand.
Und jetzt – Clara Vere! laß den Mond, der leuchtend durch die Wolken sich drängt, nicht sehen, daß du weinst! laß die Tannen dein Schluchzen nicht hören! sie rauschen und wiegen die Wipfel, und erzählen sich flüsternd: Lady Clara Vere de Vere weint! –
Kaltes Herz! bist du endlich gerührt, nun, da es zu spät ist? bedurfte es solcher Erschütterung, um die tiefere Saite schwingen zu machen, die bis jetzt stumm war? Hast du so lange freventlich mit dem heiligen Feuer gespielt, und fühlst du jetzt schmerzlich, daß die Flamme dich erfaßt hat?
Unten in dem Saale hatte sich die Gesellschaft versammelt. Sie sah das Licht durch die Fenster hell in den Garten scheinen; sie sah die Schatten sich bewegen an der erleuchteten, hohen Hecke. Sie hörte das muntere Lachen, das Schwirren und Summen des Gesprächs; sie hörte Burns klare Stimme durch den Lärm. O! wie sie ihn haßte; wie sie sich haßte – die ganze Welt! –
Und jetzt hörte sie den schnellen Galopp eines Pferdes, und sie fuhr zusammen, als ob sie nie Hufschlag zu dieser Zeit vernommen; als ob der Reiter, der vor der Hinterthür des linken Flügels still hielt, ihr etwas Uebles bringen müßte.
Sie horchte. Der Lärm in dem Gesellschaftssaale hörte plötzlich auf; sie hörte eine einzelne Stimme sprechen, es war nicht die Burns; dann schwirrten wieder alle Stimmen durcheinander. Sie hörte eine seltsame Bewegung in dem Schlosse; Tritte kamen und gingen; sie sah, wie sich in den Fenstern des Flügels, wo die Gastzimmer waren, Lichter bewegten; sie glaubte ihren Namen rufen zuhören. Dann fuhr vor der Pforte, an der der Reiter still gehalten, schnell ein Wagen vor, und bald darauf in rasender Eile auf dem kiesbestreuten Wege nach der Richtung fort, aus der der Bote gekommen.
Sie lachte laut auf; sie wußte es: der Herzog war fort.
Die Thür zur Bibliothek wurde geöffnet; Lady Vere richtete sich auf, und trat ihrer Kammerjungfer entgegen, die mit einem Lichte in der Hand auf sie zulief.
»Sind Sie es, Mylady? Wir suchen Sie im ganzen Schlosse – aber mein Gott, wie blaß Sie sind! Haben Sie es schon gehört? Der Herzog muß fort; er will sich von Ihnen verabschieden; er kann keinen Augenblick warten; ich glaube, er hat schlimme Nachrichten – «
»Der Herzog ist schon abgereist;« sagte Lady Vere ruhig – »ich weiß es!« fuhr sie heftiger fort, als das Mädchen sie unterbrechen wollte, »ich habe den Wagen gehört. – Mir ist nicht wohl, Hanna! Ich glaubte, meinen brennenden Kopf an der Nachtluft zu kühlen; aber es wird nur schlimmer. – Ich will auf mein Zimmer,« sagte sie, das Licht ergreifend und auf die Treppe zuschreitend. »Du brauchst mir nicht zu folgen; ich will allein zu Bette gehen. Geh' zu Mylord, und sage ihm, ich sei unwohl; aber ich will nicht gestört sein! hörst Du?«
Sie schritt die Treppe hinauf, und verschwand durch die Thür, ohne sich einmal nach dem Mädchen umzuschauen, das in stummem Staunen mit offenem Munde ihr nachstarrte, als hätte es eine Erscheinung gesehen. –
Das arme Kind sah sich ängstlich um; es schauderte sie in dem öden, ungeheuren Gemach. Sie eilte mit leisen Schritten nach der Thür, als fürchtete sie, eines der alten Bilder zu erwecken. Sie schloß die Thür; und Dunkel und Schweigen herrschte in der Bibliothek, die der Schauplatz so vieler wunderlicher Scenen in den letzten Stunden gewesen war.