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IV.

Es war ein prächtiger Anblick, das alte graue Schloß mit seinen Thürmen und Erkern, seinen Zinnen und Bogenfenstern, wie es, in Morgensonnenschein gebadet, zwischen den dunklen Tannen und schlanken Pappeln zu seinen Füßen lag.

An das im Quadrat gebaute, mächtige Hauptgebäude, das noch aus den Tagen der Königin Elisabeth stammte, lehnten sich zwei Flügel an, die, in neuerer Zeit unter dem prachtliebenden Vater des verstorbenen Lords in demselben Style weiter geführt, durch hellere, freundlichere Räume dem Sinn des modernen Bewohners mehr zusagten, der sich in der weiten Halle, den düstern, hohen Zimmern mit ihren steingeschnitzten Decken und tiefen Fensternischen, in den engen Korridoren und seltsam gewundenen Treppen des alten Gebäudes unbehaglich und gedrückt fühlte. Der verstorbene Lord dagegen hatte wieder das alte Haus bewohnt, und Georg dachte lebhaft an ihn, als sein Blick jetzt auf den Balcon fiel, der aus der Hinterfronte keck hervorsprang, und aus dem die gewaltige Glasthür zu dem Bibliotheksaale mit den Ahnenbildern führte. Hier hatte er mit dem Verstorbenen manchen Sommerabend gesessen, wenn die Sonne hinter die Hügel sank!

Unmittelbar hinter dem Schlosse erstreckte sich ein großer Garten, den ein früherer Lord, welcher lange Zeit in Paris Gesandter gewesen war, im verschnörkeltsten, französischen Geschmacke angelegt hatte. Mit seinen geraden Gängen, seinen wunderlich verschnittenen Hecken, seinen hohen Taxuspyramiden, feinen Sphinxen und Floren und Apollos aus Sandstein, stach er seltsam genug von dem freien, natürlichen Schwung der übrigen Anlagen ab, die sich hinter ihm, das Thal hinauf, bis zu den waldbekränzten Hügeln erstreckten.

»Welchen Flügel wird Lord Vere bewohnen?« dachte Georg, »und welches sind die Fenster zu Lady Vere's Zimmern?« Er gab seinem Rosse die Sporen, und hielt bald auf dem großen Rasenplatze vor dem Haupteingange, in dem Schatten der alten Linden.

Hier, wie im ganzen Schlosse, herrschte ein geschäftiges Treiben. Eine Schaar von Handwerkern schwärmte durch die weiten Räume; Maurer, Zimmerleute, Tischler, Tapezierer thaten ihr Bestes, um das ehrwürdige Gebäude für den Augenblick so unwirthlich und düster zu machen, als möglich. Da war kein Zimmer, in dem nicht gehämmert, geklopft, gesägt und gekratzt wurde; keine Passage, die nicht mit Leitern und Gerüsten versperrt war; keine Treppe, die nicht nach frischer Oelfarbe roch. Aus einem der Keller pumpte man Ströme schwarzen Wassers, und oben auf der höchsten Zinne des Thurms saß ein Dachdecker und pfiff behaglich bei seiner Arbeit und schaute von Zeit zu Zeit vergnüglich von seinem erhabenen Standpunkte in die reiche Landschaft hinab, auf die sonnigen Wiesen und die schattigen Wälder.

Das hohe Portal, vor dem Georg hielt, war von einer kleinen Burg von Wagen und Kasten und Kisten versperrt. Leute kamen und gingen und riefen und sahen ihre von der Arbeit erhitzten Gesichter in den kostbaren Spiegeln, die sie die breiten Treppen hinauf in die Gesellschaftsräume trugen, und schleppten sich mit Meubeln, die ihren Reiseanzug noch nicht abgelegt hatten, und wohin sie kamen, ließen sie eine Spur von Strohhalmen hinter sich.

Georg sah mit Vergnügen diesem bunten Schauspiele zu. Er hatte schon längst in dem Wirrwarr den kleinen, geschäftigen Lord Vere bemerkt, der in Person die Oberaufsicht führte, Jedem Befehle ertheilte, und Jedem im Wege stand, als dieser ihn endlich erblickte und eifrig zu sich winkte.

»Gut, daß Sie kommen, Herr Allen,« sagte er, »haben Sie meinen Boten gesprochen? Nicht? so früh schon herausgewesen? das ist brav! – Sie haben da Papiere, wie ich sehe,« fuhr er mit einiger Unruhe fort, »Rechnungen. Anschläge – lassen Sie's auf mein Zimmer legen, oder nehmen Sie's auch nur wieder mit! Sie kennen ja doch Alles seit so langer Zeit. – Ich habe diesen Augenblick die Hände so voll – Lady Vere – wenn ich nur den großen Schrank da anzubringen wüßte – es ist ein Prachtstück – ich habe ihn selbst in Paris gekauft – ja, was ich sagen wollte – Lady Vere läßt Sie um einige Augenblicke ersuchen. Das thut nichts« – als Georg einen bedenklichen Blick auf seinen Anzug warf – »sie weiß, daß Sie in Geschäften hier sind und zu keiner Gala-Visite. – Sie da – ich kann Ihren Namen nie behalten – melden Sie doch Lady Vere, daß Herr Allen jetzt hier sei! Sie erwartet Sie, glaube ich, in der Bibliothek. Ich hoffe, Sie hernach noch zu sehen, Herr Allen,« und damit wandte Se. Herrlichkeit die ganze Aufmerksamkeit seines kleinen Geistes seinem großen Schranke wieder zu.

Georg sah lächelnd dem vielgeschäftigen, kleinen Herrn nach, der so verlegen vor ihm gestanden hatte, wie ein Dorfschulmeister vor seinem Pastor, wenn der die Schule revidirt. – Er ging die breite Treppe hinauf, den wohlbekannten Weg zum Bibliotheksaale.

War es die Erinnerung an seinen alten Freund und dessen Heiligthum, das er jetzt nach so langen Jahren zum ersten Male wieder betreten sollte, was sein Herz so ungestüm schlagen machte, als er jetzt einen Augenblick, ehe er eintrat, vor der hohen eichenen Thür stillstand?

Lady Vere trat ihm mit jenem vollendeten Anstande entgegen, der, weit entfernt, zu Vertraulichkeit irgend wie einzuladen, doch keine Befangenheit oder Unbehaglichkeit einer ersten Begegnung aufkommen läßt, und der den Fremden zwar nicht erwärmt, und sein Herz öffnet, aber ihn in jene kühle, ruhige Stimmung versetzt, in der der Mensch frei um sich schaut, besonnen spricht und handelt.

Lady Vere war eine jener schlanken Gestalten, deren vollkommenes Ebenmaß sie unter ihrer wahren Höhe erscheinen läßt. Ihre Hände und Arme waren von tadelloser Schönheit, und ihr Antlitz glich mit der geraden Stirn, der feinen Nase mit den beweglichen Flügeln, dem kleinen Mund mit den leisaufgeschlagenen Lippen, die den Eindruck machen, als müßten sie sich jeden Augenblick zu einem geistreichen Worte vollends öffnen, mit dem runden, wohlgeformten Kinn, ja seiner gewöhnlichen Blässe wesentlich dem einer griechischen Statue; aber die großen, dunklen Augen mit ihrem tiefen, wunderbaren Licht erinnerten an die sonnigen Köpfe der italienischen und spanischen Maler.

»Sie sehen, Herr Allen,« sagte sie mit einer anmuthigen Verbeugung, »daß ich begierig bin, unsere flüchtige Bekanntschaft von gestern Abend zu meinem Vortheil auszubeuten. Von allen Räumen des Schlosses ist der kostbarste und mir liebste, dieser schöne Saal, fast am meisten verwahrlost. Ich denke der Einsamkeit und Langeweile hier am besten entfliehen zu können; aber sehen Sie selbst, welches Chaos! Ich möchte gern zwischen den Büsten und Bildern und Büchern Ordnung schaffen; aber ich fühle zu wohl, daß ich allein nicht dazu im Stande bin. Rathen und helfen Sie mir, Herr Allen, der Sie ein so vortrefflicher Gelehrter und feiner Kunstkenner sind, und sein Sie meines besten Dankes versichert.«

Georg sah mit Schmerz, wie wüst und unwirthlich jetzt der liebe Saal, in den er nie mit anderen Gefühlen getreten war, als mit denen der Gläubige in den Tempel tritt, aussah.

Die Bücher standen bunt durch einander in den Schränken; keine Büste war auf der rechten Stelle, und auf einem Tisch hatte sich eine auserlesene Schaar von Denkern und Dichtern der verschiedensten Zeitalter ein Rendez-vouz gegeben. – Die Stuckatur von der hohen Decke war an einzelnen Stellen herabgefallen und hatte die schwere Platte des eichenen Tisches, an dem Georg so oft mit Lord Vere zusammen gearbeitet hatte, zertrümmert, Georg brannte vor Begierde, diese Entweihung zu sühnen; er war Lady Vere dankbar, daß sie fühlte, wie er.

»Ich danke Ihnen, Mylady, für Ihr Vertrauen,« sagte er; »Ich fürchte nur, daß Sie meine bescheidenen Kräfte überschätzen; doch ist hier guter Wille nöthiger, als Kenntnisse, und wahrlich, an meinem guten Willen soll es nicht fehlen.«

Als der junge Mann, den Urheber dieses Frevels heimlich verwünschend, sich zu den wohlbekannten Bücherreihen wandte, ahnte er nicht, daß Lady Vere selbst die Urheberin eines nicht kleinen Theils dieser Verwirrung war. Es hat ja Jeder seine unschuldigen Mittel, seine Pläne in's Werk zu richten; und Lady Clara Vere de Vere's Pläne, und sie hatte deren immer einen, oder auch mehrere auf ein Mal, wie Laune und Langeweile es gerade mit sich brachten, waren schnell gefaßt und mit erfinderischem Kopfe ausgeführt.

»Sehen Sie diese Sammlung deutscher Classiker, Herr Allen,« sagte sie, »wie schade, daß meine Sprachkenntnisse nicht weit über das Französische und Italienische hinausreichen. Ich versuchte vorhin, diese Göthe'sche Ballade zu lesen; ich konnte nicht über den ersten Vers fortkommen und legte das Buch verdrießlich weg. – Sie sind ja in Deutschland gewesen, Herr Allen! haben Sie die herrliche Sprache nicht erlernt, die mich immer durch ihren tiefen, vollen Klang wunderbar angezogen, aber auch durch ihre Herbheit und Sprödigkeit zurückgeschreckt hat?«

Georg nahm das Buch. Es war ein's seiner liebsten Lieder, der herrliche Gesang Mignons, in dem Göthe seiner schwärmerischen Sehnsucht nach Italien einen so unendlich rührenden Ausdruck gegeben hat. Er übersetzte das Gedicht leicht und gewandt, wie man eben Gedichte einer fremden Sprache in die eigne aus dem Stegreif übertragen kann; und dann, um das arme, zerpflückte Lied wieder zu Ehren zu bringen, las er es ihr im Original vor. Georg las gern, vielleicht weil er wußte, daß er gut las; er war so in seinen Vortrag vertieft, daß er den vielsagenden Blick nicht merkte, mit dem Lady Vere in das Gesicht des Lesers schaute.

»Ich fürchte, Ihre Güte zu mißbrauchen, Herr Allen,« sagte sie, »aber Sie wissen, man muß seine Kenntnisse und Talente geheim halten, oder gewärtig sein, daß die Menschen sie als gute Beute betrachten, auf die Jeder Ansprüche zu haben glaubt. Es ist fast grausam, wenn ich Sie bitte, mich als Schülerin im Deutschen annehmen zu wollen, weil ich zum Voraus weiß, daß Sie einer Dame nicht leicht eine Bitte abschlagen, auch wenn es Ihnen beschwerlich ist, sie zu erfüllen.«

»Wenn ich in Ihnen eine so nachsichtige Schülerin finde, wie in Helene Locksley,« erwiederte lächelnd Georg, »an mir soll es nicht fehlen. Das Geschäft des Lehrers ist so leicht, wo er gern lehrt.« –

Georg sagte die letzten Worte, indem er an seine liebe Helene und das freundliche Zimmer im Försterhause dachte. – Er fühlte mit einiger Verwirrung, daß sie sich eben so gut auf Lady Vere beziehen ließen; – und Lady Vere sie kaum anders verstehen konnte. Das war ihm nicht lieb. Er hatte, wie jeder gerade Mann, einen Abscheu vor allen leeren Complimenten; auch nur in den Verdacht zu gerathen, schmeicheln zu wollen, war ihm ein Gräuel. Er nahm sich vor, behutsamer zu sein.

»Ich fürchte, hinter Ihrer anderen Schülerin weit zurückzubleiben,« sagte Lady Vere »Fräulein Helene ist ein sehr begabtes Mädchen, deren Talente mir, wie ich mich jetzt sehr wohl erinnere, schon damals auffielen, obgleich sie mehrere Jahre jünger ist, wie ich. Sagen Sie, Herr Allen, – Helenens Bild ist mir nicht mehr ganz deutlich – gleicht sie nicht dieser schönen, blonden Dame, die sich hier in dieser Reihe dunkelhaariger Vere's ausnimmt, wie eine Lilie unter rothen Rosen? Und wer ist diese Dame, Herr Allen? Sie müssen es wissen, der Sie mit dem verstorbenen Lord so vertraut waren! Das Bild ist vor ihm nicht hier gewesen, wie mich die alte Haushälterin entschieden versichert.«

Das Bild, vor dem jetzt die Beiden standen, war das eines jungen Mädchens, dessen unschuldig kindliches Gesicht fast zu ideal war, um Portrait zu sein. Daß das Bild alt sei, zeigte nicht nur das Kostüm und die Art, wie die schönen, blonden Haare nach der Mode des vorigen Jahrhunderts seltsam, aber gefällig nach allen Seiten zu einer hohen Frisur, die oben in eine Haarschleife endete, aufgekämmt waren; – sondern auch das bräunliche tiefe Colorit, das alten Oelgemälden eigen zu sein pflegt. Georgs Augen hatten das liebe Bild und das ernste Gesicht seines Herrn und Meisters, dem es gegenüber hing, gleich bei seinem Eintritt gesucht und begrüßt. Er sah Lord Vere wieder in Gedanken versunken vor diesem Bilde stehen; er wußte, daß es seine ganze Liebe gehabt hatte; er ahnte, daß es in sein Leben auf irgend eine Weise, wie? wußte er nicht, verflochten war. Er hielt es nicht für nöthig, Lady Vere von diesen Einzelnheiten zu unterrichten, und begnügte sich, zu sagen:

»Das Bild gleicht Fräulein Locksley nur darin, daß es blond ist, wie sie. Lord Vere sagte, es sei eine Vere; er hat es, glaube ich, auf einer Auction zufällig aufgefunden, und freute sich, es dieser Sammlung einreihen zu können.«

»Der verstorbene Lord war sonst nicht eben sehr für die Familie eingenommen,« bemerkte Lady Vere »Er hatte, glaube ich, überhaupt wenig Familiensinn. Meinen Sie nicht auch, Herr Allen?«

»Lord Vere hatte Sinn für Alles,« antwortete Georg ernst, »er betrachtete die Menschheit wie eine große Familie.«

Die Antwort schien Lady Vere wenig zu gefallen; ihr dunkles Auge wurde noch um einen Schatten dunkler – aber nur für einen Augenblick.

»Das wäre in der That eine recht große Familie,« sagte sie lächelnd »und ich fürchte, Herr Allen, es möchte uns damit ergehen, wie dem würdigen Pfarrer von Wakefield mit seinen beschwerlichen Verwandten.«

»Und doch ließ derselbe Pfarrer diese beschwerlichen Verwandten mit an seinem Tische essen; seine gute Frau behauptete immer, sie seien dasselbe Fleisch und Blut.

»Waren sie deßhalb weniger beschwerlich, Herr Allen?«

»Ja, Mylady, uns selbst verzeihen wir viel: – betrachten wir Andere wie uns selbst, und lassen wir ihnen dieselbe Gunst widerfahren.«

Das Gespräch gerieth hier ein wenig in's Stocken. Die Redenden befanden sich augenscheinlich auf etwas unsicherem Boden; sie fanden sich bald wieder auf dem neutralen Gebiete der Kunst und der Wissenschaft, als Georg jetzt anfing, die Bücher zu ordnen, und die Büsten auf ihre rechten Plätze zu stellen. Der junge Mann hatte auf seinen Reisen viel gesehen und mit kunstsinnigem Auge. In seinem treuen Gedächtnisse lebten die herrlichen Gestalten der Antike, die Meisterwerke der Italiener und Spanier, wie die Eindrücke des gemeinen Lebens in Anderen. Er sprach mit Begeisterung von der Kunst; aber mit der tiefsinnigen Begeisterung eines Poeten. Lady Vere hatte weniger gesehen, aber das Wenige nicht weniger gut. Sie, die selbst wie eine schöne Statue war, wie eine Schöpfung des griechischen Meißels, sie hätte sich selbst nicht verstehen müssen, wenn sie kein Verständniß gehabt hätte, für das Schöne. Und Lady Vere kannte die Macht ihrer Reize sehr gut; und hätte von sich selbst, wenn sie gewollt hätte, eine eben so geistreiche Kunstkritik geben können, als sie Georg eben eine von einem berühmten Gemälde gab, das sie Beide in Paris gesehen hatten.

Georg war so in das Gespräch vertieft, daß er nur mit Bedauern abbrach, als ihn ein Diener zu Lord Vere rief, und er war einigermaßen erstaunt, als er draußen fand, daß die kurze Unterredung mit Lady Vere doch nicht weniger als zwei Stunden gewährt hatte.

Er hatte ihr versprochen, noch an diesem Nachmittage herüber zu galloppiren und die Bibliothek vollends in Ordnung zu bringen; jedenfalls aber morgen mit den deutschen Lectionen den Anfang zu machen. –

Georg traf Lord Vere in seinem Arbeitszimmer über einem frugalen Frühstück, an dem er Theil nehmen mußte, so sehr es ihn auch jetzt nach der Unterredung mit Lady Vere aus dem Schlosse drängte. Der Lord sprach abwechselnd mit Georg über Verwaltungsangelegenheiten, die ihn wenig, und mit einer großen Thibetkatze, deren Spiele ihn sehr zu interessiren schienen. Georg fand in ihm einen jener kleinlich denkenden Menschen, die für große Unternehmungen und kühnes Zugreifen kein Herz haben, weil es ihnen an Verstand fehlt, die Sache zu überschauen; die durch das Leben gehen mit der Sicherheit Eines, der sich eine unbekannte Treppe im Dunkeln hinunterfühlt, und mit ihrem Lob eben so zurückhaltend sind, wie mit ihrem Tadel, weil sie nie wissen, ob das, was sie sagen möchten, etwas Dummes oder etwas Gescheites sein würde. Es beruhigte Georg wenig, daß Lord Vere scheinbar ihm durchaus freie Hand in allen Angelegenheiten ließ. Er wußte, daß dergleichen Menschen für den Augenblick Alles zugeben und Alles versprechen, um hernach wieder Alles zurückzunehmen und Nichts zu halten. Sie sind immer vollkommen der Ansicht ihres Gegners; nicht, weil sie dessen Gründe überzeugt haben, sondern weil sie nicht gern eingestehen möchten, daß ihnen die ganze Angelegenheit vollkommen unklar geblieben ist. Hinterher thun sie doch, was sie wollen. Ob die Menschen gar nicht anfangen zu denken, oder die Sache nach allen Seiten durchdacht haben, kommt in dieser Beziehung auf eins hinaus, und ein Chor von Engeln kann nicht bestimmter und fester in seinem Wollen sein, als eine Schaar dummer Bauern. –

Nach manchem vergeblichen Ansetzen hatte Lord Vere endlich den Muth, Georg zu bitten, ihn außerdem bei einigen anderen Angelegenheiten zu unterstützen; besonders gleich bei einem Handel, den er mit einem seiner Pächter hatte, und den er seinem Rathgeber so verwirrt vortrug, daß dieser sich lächelnd die Papiere ausbat, um selbst nachsehen zu können, und sich einigermaßen wunderte, wie Lord Vere nie mit seiner Tochter »über dergleichen Angelegenheiten« sprechen könnte, da ihm offenbar jede Geschäftssache ein unergründliches Mysterium war, über das er sich nur zu gern bei Andern Aufschluß holte. –

Lord Vere, aus einer Seitenlinie des Hauses, und mit dem verstorbenen Lord nur entfernt verwandt, besaß von Hause aus gar kein Vermögen. Sein großmüthiger Verwandter hatte ihm ein bedeutendes Jahrgeld ausgesetzt; denn, wie er zu Georg scherzend sagte, »verdienen kann sich der arme Mann nichts, und Noth leiden soll er nicht.« Er hatte sich nach der Abreise seines Vorgängers fast ein Jahr lang auf Schloß Vere mit seiner Tochter aufgehalten, und war ihr dann nach Paris gefolgt, als eine vornehme Verwandte seiner Frau – die Frau selbst war schon längst todt– die junge Dame bei sich zu haben, und sie mit der besten Gesellschaft und dem besten Theater der Welt bekannt zu machen wünschte. Als ihm nun nach dem Tode des alten Lords die glänzende Erbschaft zufiel, fühlte er sich in dieser hohen Stellung äußerst unbehaglich, und sein einziger Trost war die schöne, kluge Tochter, deren Talente und Kenntnisse ihm unfaßbar und unheimlich waren, und die so ganz für die hohe Region geboren schien, in der ihm das Athmen so schwer wurde.

Was das Benehmen des Lord Vere gerade Georg gegenüber noch unsicherer machte, war der Gedanke an das beklagenswerthe Ereigniß von des alten Locksley's Tod, an dem der kleine alte Herr freilich unschuldig genug war, von dem er aber immer fürchtete, es könne ihm zur Last gelegt werden, daß er nun fast selbst glaubte, er habe wirklich den alten Jäger erschossen. Dieser Gedanke war ihm um so unerträglicher, als er über eine Raupe, die in seinem Wege kroch, vorsichtig wegschritt, um sie nicht zu zertreten, und mit einer Spinne einmal vier Wochen lang sein Zimmer getheilt hatte, weil er nicht wußte, wie er das ekelhafte, und ihm äußerst verhaßte Thier, vertreiben könnte, ohne es zu schädigen.

Er spielte auch im Laufe des Gesprächs mehr wie einmal auf die fatale Geschichte an, und fühlte sich außerordentlich erleichtert, als ihm der gutmüthige Georg zu beweisen suchte, er selbst hätte vom Libanon aus eben so gut seinen Pflegevater erschießen können, als Lord Vere von dem Baume aus, an dem er während des Treibens gestanden hatte. –

»Und dieser Mann« dachte Georg, als er durch die große Allee nach Hause galloppirte, »ist meines Lords Nachfolger und der Vater Lady Vere's!« Er war seelenfroh, daß er noch so leichten Kaufs von dem eigensinnigen alten Herrn losgekommen war, und daß er für den Augenblick keine Hemmungen in seinen Plänen zu fürchten hatte. Die Vermehrung seiner Arbeiten kümmerte ihn wenig. Der junge Mann war glücklich, wenn er Andere unterstützen konnte; er lud unbedenklich Lasten, unter denen er den schwächeren Gefährten wanken sah, auf die eigene Schulter, weil er die Kraft in sich fühlte, sie mit Leichtigkeit tragen zu können. In seinem hellen Kopfe tummelten sich tausend Gedanken munter durcheinander.

Er wollte Lady Vere für seine Pläne interessiren; sie mußte darauf eingehen, sie mit ihrem glänzenden Verstande; jetzt wollte er die Sache noch in größerem Maßstabe betreiben. Und dann dachte er an die Bibliothek und an seinen Lord, und an das schöne Portrait, und das schöne lebende Wesen mit den großen dunklen Augen, und an seine liebe Helene und ihr helles Lachen; und er gab seinem Pferde die Sporen, und sprengte dahin, daß die alten Eichen verwundert die Köpfe schüttelten, und sich ihre Bemerkungen mittheilten, als er vorüberflog.


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