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Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Georg am nächsten Morgen aus seinem tiefen Schlafe erwachte. Die erschöpfte Jugendkraft hatte sich zwar wieder hergestellt in jenen geheimnißvollen Stunden, wo das Geschöpf, sein eigensinniges Dasein aufgebend, der großen Mutter sich vertrauensvoll in die Arme wirft, und sich neue Kraft trinkt an dem Urquell alles Seins; aber eine so tiefe Vergessenheit war auf seine Seele gesunken, daß er die feine Arbeit der goldenen Kette, die er am Halse trug, und den wunderlich geformten silbernen Schlüssel, der daran hing, mit einem Gefühl stumpfer Neugier und Verwunderung betrachtete, daß er sich erstaunt fragte: wie kommst Du zu dieser Kette, die Du in früheren Jahren an Lord Vere gesehen? bis dieser Name die Erinnerung an die seltsamen Ereignisse der vergangenen Nacht und an seinen wunderbaren Traum erweckte.
Hatte er die früheren Eindrücke mit frischerer Kraft empfangen, oder war sein Gemüth so fest in diesen Kreis gebannt, die Gestalt der Lady Vere löste sich zuerst aus dem Chaos los, und Georg durchlebte noch einmal die Scenen auf dem Schlosse, das Schauspiel und das Zusammentreffen mit Lady Vere auf dem Corridor. Ach! das Geheimniß, das ihm auch jetzt noch auf dieser Begegnung lag, war ihm viel wichtiger, als den räthselhaften Andeutungen zu folgen, die aus den leidenschaftlichen, wirren Reden der alten Margareth dunkel in seinem Ohre klangen; und hätte er mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, die Lösung des süßen Räthsels gefunden, er wäre der Erscheinung dankbar gewesen, wer sie auch immer gewesen sein mochte.
Dann, wie in Verzweiflung, daß ihm das reizende Bild immer und immer wieder entflatterte, wandten sich seine Gedanken den späteren Ereignissen zu. Er wußte so gar nicht, wie er auf den Kirchhof gekommen war, daß er das Ganze für einen schauerlichen Traum hätte halten mögen, wenn doch auch nicht Alles wieder so deutlich gewesen wäre; wenn ihm nicht die Reden der alten Margareth Wort für Wort wieder in das Gedächtniß gekommen wären, bis auf die letzte räthselhafte Prophezeiung des Traumbildes; wenn er in der Kette mit dem Schlüssel doch nicht einen zu handgreiflichen Beweis gehabt hätte, daß dies Alles mehr sei, wie ein Traum. –
Es ist gewiß erklärlich, daß Georg fast nie über seine Geburt und das erste Jahr seines Lebens und seine wahren Eltern viel nachgedacht hatte. War denn hier nicht seine Heimath? Hatte er denn die alte Margareth nicht immer Mutter genannt? Hatten ihn denn Lorenz und Helene je fühlen lassen, daß er keine Geschwister habe, und allein dasteht in der Welt? Er trug einen anderen Namen – das war ja Alles! Und wie schmerzlich würde es ihm selbst gewesen sein, wenn man ihm viel von einem anderen Vater, einer anderen Mutter gesprochen hätte! – Aber warum dachte er jetzt an das Alles? warum sprach er das Wort ›Mutter‹ so gedankenvoll vor sich hin, als wenn er es nie gehört, als hätte er eine Bedeutung darin gefunden, die er nie zuvor geahnt? warum trat Lord Vere's verehrtes Bild wieder deutlicher, als er es seit mancher Woche gesehen hatte, vor sein inneres Auge? warum versenkte sich sein Geist in ein Labyrinth von Zweifeln und Muthmaßungen und sonderbaren Ahnungen, das ihm zuletzt ebenso unendlich und verworren schien, wie das erste Räthsel? Er fuhr unmuthig empor aus seiner Träumerei.
»Wie es auch sei;« sprach er bei sich, »ich wäre stolz darauf, Dein Sohn zu sein. Und bist Du denn nicht mein Vater? habe ich denn nicht seit der Zeit, wo mir durch Dich ein höheres Dasein geworden, nur immer an Dich gedacht, so oft ich das Wort ›Vater‹ hörte? Was wäre denn da so Neues? Verdanke ich Dir nicht Alles, was ich bin und vermag? – Lord Vere!« – er hatte sich in seinem Leben nicht mit dem Titel zusammengedacht – der Gedanke war so seltsam, daß er laut auflachte – das Kleid wollte ihm doch gar nicht passen. Lord Vere!
Und sollte das herrliche Weib denn doch sein werden? Um diesen Preis – nie, nie! Und war sie denn nicht schon sein? was wollte er denn? – Und wenn alle Reiche der Welt zu seinen Füßen gelegen hätten, er würde sie mit Verachtung von sich gestoßen, und nach ihr die Hand ausgestreckt haben. Was war denn alle Macht, und aller Reichthum und alle Herrlichkeit gegen dies eine Weib! –
Und sie sollte nicht echt sein, ein schlechtes Stück blinkendes Glas, und nichts weiter? Er wies diesen Gedanken wie eine Versündigung von sich, wie einen schnöden Verrath – er sprang auf: die Mutter mußte ihm Aufklärung geben, wenn sie konnte.
»Nein, ich will Alles vergessen! nur dich nicht, und deine Umarmung!« – –
Und doch, warum ließ er die Kette mit dem Schlüssel an seinem Halse? –
Er fragte draußen nach der Mutter; aber die alte Barbara sagte kopfschüttelnd, die Frau sei krank, und es dürfe Niemand zu ihr, wie Helene; und diese ließ ihm sagen: er möge sich nicht ängstigen, es habe nichts zu bedeuten mit der Mutter; er solle nur ruhig nach dem Schlosse reiten; aber zu Abend ja zu Hause sein, um ihr erzählen zu können. –
Er ging unmuthig nach dem Stalle, und sattelte selbst sein Pferd, das ungeduldig nach seinem Gefährten wieherte; er saß auf, und blickte zu dem Fenster der Mutter empor, in der Hoffnung, der Vorhang würde sich bewegen und Helene herausschauen. – Alles blieb still, und er ritt in trüben Gedanken fort.
Der Tag war herrlich. Das Gewitter der letzten Nacht schien der Regenzeit ernstlich ein Ende gemacht zu haben. Georg beeilte sich nicht, nach dem Schlosse zu kommen, weil er wußte, daß heute die ganze Gesellschaft nach einem entfernten Punkte der Gegend gefahren war, eine alte Burgruine zu sehen, die der Herzog zu kaufen und wieder aufzubauen wünschte. Der Herzog hatte diese Gegend so lieb gewonnen. –
Georg durchritt den Wald und sah mit Trauer, welche Verwüstungen die letzten Stürme und der Regen in seinen lieben Pflanzungen angerichtet hatten. Der Sturm hatte die mächtigsten Aeste wie Halme geknickt, und an dem Bache, der noch immer schwere, trübe Fluthen wälzte, fand er riesige Bäume entwurzelt und umgesunken, so daß sie die Fluth aufdämmten, und größerer Schaden zu befürchten war.
Er ritt zu seinen Förstern und ordnete an, daß die Räumung des Bachs an mehreren Stellen zugleich in Angriff genommen würde. Dann ritt er wieder nach Haus; er berührte die Speisen kaum, die ihm die alte Barbara vorsetzte; er wartete – Helene kam nicht. –
Er saß wieder auf und wollte zurück in den Wald; aber dann dachte er, daß er Lady Vere versprochen habe, den Garten der Capulets zu zerstören, und einige andere Anordnungen zu treffen, die das neue Stück nöthig machte – und dann mußte er sie sehen, wenn sie zurück kam; und dann dachte er an das Bild des Lord Vere, und die Worte der Erscheinung – und er ritt so schnell auf das Schloß, als sein ermüdetes Pferd und die schlüpfrigen Wege es ihm gestatteten.
In dem Schauspielsaale hatte man angefangen wegzuräumen; aber man war mitten in der Arbeit stehen geblieben, weil ein Befehl von Mylady gekommen war, man solle erst die Ankunft des Herrn Allen abwarten.
Es sah so wüst aus in dem weiten Raum, wüster noch, als bei der ersten Begegnung Georgs mit Lady Vere an jenem hellen Sommermorgen.
Die Sitze im Zuschauerraum waren wirr durcheinander geschoben; in dem Garten der Capulets stand ein großer Lehnstuhl, der sich wohl aus der vordersten Reihe hierher verirrte, und ein Tisch, der wohl als Tritt hatte dienen müssen, um die Lampen abzunehmen; die hohe Laubpyramide, welche die Fensterthür ausgefüllt hatte, war quer über die Bühne gesunken, und hatte im Fallen die Blumen-Festons zerrissen, die nun im Winde schaukelten, und die Lampen zertrümmert und die Scherben über den Boden gestreut.
Georg hieß die wenigen Diener, welche er vorfand, hinausgehen; und als er jetzt allein war in dem öden Raum, trat er vor das Bild seines Lords und betrachtete es lange in tiefem Sinnen. –
Das Gesicht des Lord Vere war eines von denen, die man nicht leicht wieder vergißt, wenn man sie einmal gesehen. Das Bild war gemalt, als er kaum vierzig Jahre alt war, und doch sah er aus wie ein alter Mann. Der Künstler hatte die tiefen Furchen auf der breiten festen Stirn, die ein schwarzes krauses Haar umgab, und in den eingesunkenen, blassen Wangen wohl gemildert, aber doch nicht ganz verwischen mögen. Auf dem gedankenvollen Antlitz lag jetzt eine sichere Ruhe, aber wenn man das dunkle, feurige Auge ansah, das aus den tiefen Höhlen hervorblitzte, und den etwas großen Mund mit den vollen Lippen, der freilich jetzt fest genug geschlossen war, und an den das wohlgeformte Kinn so energisch ansetzte, so sah man wohl, daß es die Ruhe nach furchtbaren Stürmen war, daß dieser reine Spiegel eines hohen Geistes von dem unreinen Hauch zügelloser Begierden einst getrübt gewesen, daß riesige Leidenschaften hier getobt hatten, ehe die Macht des Gedankens die wüthenden in den Tartarus schleuderte.
Georg strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er sich irgend einer Aehnlichkeit versichern; aber er wußte so wenig, wie er aussah, daß dieses Vergleichen wohl zu nichts führen konnte. Er lächelte, als es ihm endlich einfiel, daß er ja blondes Haar habe; und er wandte sich um, als sein Blick auf das Bild des schönen, blonden Mädchens fiel, das dem dunklen Gesicht des Lord Vere gerade gegenüber hing, und das jetzt, wie die übrigen Bilder auf dieser Seite von der Nachmittagssonne hell erleuchtet ward. Eine sonderbare Ahnung durchzuckte ihn; er trat mit klopfendem Herzen näher, und sah mit Entsetzen, daß das wunderlich frisirte Haar der Dame genau von der Farbe des seinigen war, denn die kannte er, weil er es oft mit Helenens blondem Haar verglichen hatte. –
Es konnte dies nur ein Zufall sein, denn das Bild war alt, und das schöne Mädchen mochte wohl vor hundert Jahren gelebt haben, hatte es überhaupt je gelebt – aber es war doch ein gar sonderbarer Zufall, und er griff unwillkürlich nach dem Schlüssel, der auf seinem Herzen ruhte. Es fuhr ihm durch den Kopf, wie er sich neulich schon vorgenommen, diese Bilder zu entfernen, an denen die schwere Stange des Vorhanges, der jetzt halb aufgezogen war, zu dicht vorüberfuhr – ja, er hatte sie schon abzunehmen versucht, war aber davon abgestanden, weil er die breiten vergoldeten Rahmen mit eisernen Klammern an der Wand befestigt fand.
Er bemerkte, daß bei diesem Bilde die Klammern fehlten, und nur die Schwere des mächtigen Rahmens es so stark gegen die Wand drücke. Er schob einen Stuhl heran und hob es herab. Er sah zu seinem Erstaunen, daß es genau über eine viereckige Thür von Eisen paßte, die so sorgsam in das Mauerwerk gefügt, und von so durchaus einer Farbe mit diesem war, daß er sie auch jetzt noch schwerlich bemerkt haben würde, wenn sie nicht einen dumpfen Klang gegeben hätte, als er beim Herabnehmen des Bildes mit dem schweren Rahmen an sie stieß; und nun konnte ihm auch freilich das kleine Schlüsselloch nicht entgehen, das unten in der Ecke angebracht war, und das dieselbe seltsame Form hatte, wie der Bart des silbernen Schlüssels.
Er riß mit fieberhafter Hast seine Kleider auf; er drehte das Schloß um, die Thür sprang auf, wie wenn eine starke Feder nachgelassen hätte; und er sah einen Schrank vor sich, so tief, wie hoch; und in dem Schranke ein kleines Oelgemälde: die Dame auf dem Bilde, aber in moderner Tracht und Frisur, und augenscheinlich von der Hand des Lord Vere selbst; eine Menge Papiere, die in der vollkommensten Ordnung lagen, und die zu seinem Erstaunen nichts enthielten, als was er selbst geschrieben hatte; seine Schulhefte aus der Pensionszeit bis auf die frühesten, kleinsten Aufsätze; sämmtliche Briefe, die er aus dem Hause des Predigers an seinen Pflegevater, oder in den Ferien an den Prediger gerichtet hatte, bis auf die Reihe von Briefen, die er an Lord Vere selbst schrieb, als dieser in dem letzten Jahre ihres Aufenthalts in England auf einige Wochen in London gewesen war – und zwei Packete, ein größeres und ein kleineres, versiegelt, und an ihn adressirt in der wohlbekannten Hand seines Herrn, in dem er nun seinen Vater finden sollte. –
Er ließ Alles liegen, bis auf die beiden Packete, die er herausnahm; er legte die Thür wieder an, die von selbst in's Schloß sprang; er hing das Bild an seine alte Stelle; setzte sich an den Tisch in dem Garten der Capulets, in den großen Lehnstuhl, und erbrach – er konnte auf Stunden gegen jede Unterbrechung sicher sein – zuerst das Siegel des größeren Packets.
Es enthielt eine Reihe von Documenten, die zum Theil die Verhältnisse derer betrafen, deren Namen er trug; würdige Leute, die ein unbedeutendes Vermögen, das sie sich in Amerika gesammelt, und das um das zehnfache kleiner war, als ihr sogenannter Nachlaß kurz nach ihrer Rückkehr nach England in einer thörichten Speculation verloren hatten, und bald darauf Beide mit ihrem einzigen kleinen Kinde einem bösartigen Fieber erlegen waren. – Weiter die Familienpapiere seiner Mutter; dann verschiedene Schriftstücke, die seine Abkunft in das klarste Licht setzten; – und so war er denn nicht mehr Georg Allen, sondern Georg William Lord Vere de Vere
Georg las diese Papiere mit nicht geringem Erstaunen, und großer Aufmerksamkeit durch – aber das war auch Alles. Es ahnte ihm, was das andere Packet enthalten würde, – ja, es schauderte ihn vor diesen vergilbten Blättern und er gedachte unwillkürlich des Engels mit dem flammenden Schwerte, der vor dem Paradiese Wache hält. Das einzige süße Gefühl war die Errungenschaft seiner holden Mutter – er ahnte trauernd das Weh, das seines Vaters Leben mußte verdüstert haben.
Er erbrach zögernd das Siegel des zweiten Packets, und las in der festen, flüssigen Hand seines Vaters!