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Der Wirt des Bellevue-Hotels, der seinen Chef in dieser späten Jahreszeit bereits entlassen und nun in großer Sorge gewesen, ob das von Vevey telegraphisch vorausbestellte Frühstück den Ansprüchen der vornehmen Gesellschaft genügen werde, hätte sich die Sorge sparen können. Außer bei den Kindern, die an einem Nebentische schmausten, unter der Oberaufsicht von Frau Banse – die gute Frau hatte es nicht anders gewollt, und es war ja auch am besten so – fanden die Forellen, die Rebhühner – deren Acquisition Monsieur Duillier eine Welt von Mühe gekostet – die Omelette soufflée, eine einfache Omelette, meine Damen, aber eine Spezialität meines Chefs! – so gut wie keine Beachtung. Desto häufiger wurden die Dienste der zwei Kellner (einer von Montreux in letzter Stunde heraufkommandiert) und von Monsieur Duillier, der in Person mit aufwarten half, in Anspruch genommen durch die Aufmerksamkeit auf die Spitzgläser, welche, so regelmäßig sie auch gefüllt wurden, eben so regelmäßig wieder leer waren. Monsieur Duillier rief seiner Frau, als er wieder einmal mit dem gefüllten Champagner-Korbe aus dem Keller durch die Küche trabte, zu: so was sei ihm in seiner Praxis noch nicht vorgekommen; der Engländer mit den langen Beinen, den sie Mr. Bob nennten, sei geradezu unergründlich.
Aber Monsieur Duillier hatte nur keine Zeit, die Leistungen der anderen Herren gebührend zu würdigen. Ueberdies war es ja selbstredend, daß der »Mylord« mit den breiten Schultern und dem breiten roten Barte den Crémant rosé wie Wasser trank, und die beiden anderen – mon Dieu! es waren eben Deutsche, wenn der eine mit den glänzenden schwarzen Augen und dem blauschwarzen Haar und Bart anfangs auch vom ganzen Personal für einen Italiener gehalten war. Freilich, das große Kunststück, lustig zu sein, mit solchen Damen an seiner Seite oder sich gegenüber! Sah doch die alte mit ihrem roten Gesichte aus wie die gesegnete Mahlzeit selbst! und wenn auch von den beiden jungen die schlanke, blasse mit den großen Augen es nach zehn Minuten Monsieur Duillier und seinen zwei Myrmidonen so angethan, daß stets alle zu gleicher Zeit sie bedienen wollten, – appetitlich war die andere auch, die volle, blonde in dem Reithabit, und so drollig, zum Totlachen: wenn sie sich mit den Herren Engländern auf Englisch neckte, wovon sie offenbar kein Dutzend Worte kannte, oder über die Schulter: Jean, versez! rief, das immer wie Chang, ferzez! klang, oder über ihre eigenen Witze aus voller Kehle lachte, daß man alle ihre weißen Zähne sehen konnte, oder vom Stuhle aufsprang und in dem tollsten Kauderwälsch von Englisch, Französisch und Deutsch einen Toast ausbrachte, vermutlich auf den Mylord und die andere junge Dame, die wohl miteinander verlobt sein mußten, wenn auch nicht der Mylord antwortete, sondern sein Freund mit den langen Beinen, der das Kauderwälschen doch noch besser verstand, als Madame, und auch Italienisch hineinmischte und dazu solche Gebärden machte und solche Gesichter schnitt, daß die ganze Gesellschaft nicht aus dem Lachen herauskam, und die schönen Kinder, die vom Nebentische herbeigelaufen waren, vor Lust kreischten und sie (die Kellner und Monsieur selbst) sich die Servietten in den Mund stopfen mußten, um den schuldigen Respekt nicht zu verletzen.
Aber endlich mußte das lustige Mahl doch sein Ende finden, zu großer Betrübnis von Monsieur Duillier, der auf sein Ehrenwort als langjähriger Hotelier auf Glion versicherte, daß die Absicht der Herrschaften, noch bis zum Dorfe Cau, am Fuße der Dent de Jaman, hinaufzusteigen, völlig unausführbar geworden sei. Sie brauchten dazu mindestens anderthalb Stunden, und ebensoviel oder doch beinahe ebensoviel zum Hinabsteigen; jetzt sei es Drei, und die Sonne gehe kurz nach Fünf unter; Messieurs möchten doch nun selbst berechnen, wie weit sie kommen würden; ganz abgesehen von den schlimmen Wegen, die, je weiter hinauf, immer miserabler würden, ja unpassierbar infolge des starken Schnees, der gestern gefallen und zum Teil gewiß noch oben liege. Das könnten Messieurs von hier unten nicht wahrnehmen, weil sich der Wald dazwischen schiebe, über den die kahlen Wände ragten, an denen der Schnee nicht hafte; aber er kenne das. Und daß man heute nach Sonnenuntergang abermals Schnee und vielleicht einen Sturm zu gewärtigen, dafür bürge ihm die Wolke drüben auf der Dent d'Oche, die seit einer Stunde immer größer geworden und ein immer bedenklicheres Aussehen angenommen habe, wie sich Mesdames und Messieurs selbst überzeugen könnten, wenn sie die Güte hätten, einen Blick durch die Fenster zu werfen.
Der Mann hat recht, sagte die Baronin, jedenfalls fahre ich sofort; und wenn ich Euch einen guten Rat geben soll: laßt die Sache sein und macht Euch auf den Weg, sobald Eure Wagen da sind!
Zwei von Montreux heraufbeorderte Wagen – die Reitpferde mit den Grooms waren schon auf dem Rückwege nach Vevey – wurden aber erst um Fünf – der für die Rückkehr von der Bergtour angesetzten Stunde – erwartet; was man bis dahin mit der schönen Zeit anfangen solle? Der Sonnenuntergang werde heute bei der absoluten Klarheit des westlichen Himmels ganz besonders glorios werden; und was die Wolken im Süden betreffe, so würden die, falls sie nicht bis dahin evaporierten, als herrlichste Reflektoren wirken und die Großartigkeit des Phänomens von diesem ausgesuchten Standpunkte noch erhöhen.
Benvenuto plaidierte mit mehr als gewöhnlicher Zungenfertigkeit für diese seine Ansicht und wurde dabei von dem halbberauschten Bob und von Nanni unterstützt, deren Aufregung völlig einem Rausch glich, obgleich sie immer nur an ihrem Glase genippt hatte. Edward war entschieden für Dableiben, während Angela und Arnold an der Debatte geringen oder gar keinen Anteil nahmen. Monsieur Duillier kam mit einem Vermittelungsvorschlage: wenn die Herrschaften denn durchaus die Promenade nicht aufgeben wollten, so schlage er eine wirkliche Promenade vor: nach der Villa des Mr. Thomson, ein paar hundert Fuß über Glion am diesseitigen Rande des Waldes gelegen, die, im schönsten italienischen Stil erbaut und an und für sich schon eine Sehenswürdigkeit, notorisch derjenige Punkt sei, von welchem man den herrlichsten Rundblick und den Sonnenuntergang am vollkommensten genieße. Der Besitzer sei bereits nach Genf übergesiedelt; der Zutritt habe so wenig Schwierigkeit, wie der Aufstieg, der zuerst durch das Dorf, dann durch eine kurze Waldstrecke, zuletzt an den Wiesenhängen hinführe und den man nicht wohl verfehlen könne; man sehe die Villa von der Veranda des Hotels oben liegen, und behalte sie – bis auf die kurze Waldstrecke – im Auge, sobald man das Dorf hinter sich habe. Wollten dann Mesdames und Messieurs durchaus weiter, so stehe ihnen das vollkommen frei, da der Weg nach Cau nur ein paar hundert Schritte an der Villa vorbeilaufe und man also bei dem Besuche derselben kaum einen Detour mache.
Na, sagte die Baronin, das klingt ja so halbwegs vernünftig. Ich für mein Teil fahre, und das sogleich. Um die Kinder sei unbesorgt, Nanning; die Pilz kriegt sie nicht in die Hände, ich behalte sie bei mir, bis ihr nach Hause kommt.
Ein Schatten flog über Nannis Gesicht. Sie strich sich das Haar von der heißen Stirn.
Ich möchte doch am liebsten gleich mit Dir und den Kindern fahren, sagte sie in einem Tone, der mit der wilden Lustigkeit, in der sie sich gefiel, sonderbar kontrastierte.
Du weißt nicht, was Du willst, sagte die Baronin; amüsier' Dich heute nur noch einmal. Ueberdies haben wir für Dich keinen Platz; überlaß Du die Gören nur mir, und mache, daß Du endlich aus Deiner langen Kledage kommst. Angela, nicht wahr, Sie sind so gut und sorgen dafür, daß sie damit nicht auch noch in die Berge läuft! Und noch eins, Nanning!! – komm mal her: nicht wahr, Nanning, Du benützt die gute Gelegenheit und sprichst mit Deinem Mann!
Verlaß Dich darauf, Tanting!
Du sollst sehen, es wird noch alles gut werden.
Das gebe Gott! sagte Nanni.
Während die Baronin mit ihrer Nichte diese kurze geheime Zwiesprache hatte, bat Angela die Herren, nicht auf sie und Nanni warten zu wollen. Das könnte doch wieder länger dauern, und es sei schade um jede Minute. Sie würden nachkommen, zu verfehlen sei der Weg nicht.
Edward wollte davon nichts wissen; Angela bestand auf ihrem Wunsche. Sie hatte vorhin im Garten und jetzt bei Tisch unter der Qual, Edward und Arnold unmittelbar beisammen und sich gezwungen zu sehen, mit Edward unter Arnolds Augen zu verkehren und wiederum mit Arnold sprechen zu müssen, während Swifts durchdringender Blick auf ihr ruhte, zu viel, zu grausam gelitten – jede Minute, welche sie so gewann, erschien ihr eine Befreiung von der Folter. Nanni und Benvenuto, die nun herantraten, unterstützten lebhaft Angelas Vorschlag, der freilich auch ohne das der Annahme sicher war.
Die Baronin war mit Frau Banse und den Kindern fort; die Herren waren zum Aufbruche bereit, nur Benvenuto fehlte. Er hatte bis zum letzten Momente mit den Kindern durch den Saal getollt, dann Nanni einen Shawl der Baronin im Garten suchen helfen, zuletzt noch den Damen in den Wagen geholfen, ihnen von der Rampe mit dem Tuche nachgewinkt, und war plötzlich verschwunden – auf sein Zimmer, wie einer von den Kellnern den Herren mit bedeutungsvollen Blicken und diskretem Lächeln mitteilte: er habe Monsieur selbst hinaufgeführt; er glaube nicht, daß Monsieur so bald wieder zum Vorschein kommen werde.
Bob lachte grimmig!
Und der Mann rühmte sich, daß er ein Dutzend Flaschen vertragen könne! Er ist und bleibt ein Hum–
Still, Bob! rief Edward.
Genieren Sie sich nicht, sagte Arnold spöttisch-scharf; Sie können von einem Deutschen nicht verlangen, daß er die famose englische Konstitution hat.
Es waren in diesen Tagen viel schlimmere Dinge von Bob über Benvenuto gesagt worden, und Arnold hatte dazu gelacht oder noch Oel in Bobs satirisches Feuer geschüttet. In seiner jetzigen Stimmung erschien ihm englische Rücksichtslosigkeit, selbst wenn sie auf des verhaßten Benvenuto Kosten geübt wurde, unerträglich.
In Bobs hellen Augen zuckte ein Blitz auf und verschwand in einem Blick auf Edward.
Noch ist es nicht Zeit, sprach er bei sich, und laut sagte er gelassen:
Well! eine famose Konstitution – das ist am Ende keine Beleidigung.
Kommt, kommt, ihr Herren! sagte Edward, Crémant rosé ist soweit ein gutes Ding, Bob; nur muß man hernach ein wenig in die frische Luft. Ich hoffe, unsere Damen werden uns nicht lange allein lassen.
Das mit dem Ausbügeln von Nannis Kleid betraute Mädchen hatte natürlich, da Madame auch so zu Tisch gegangen war, an ihre Kommission nicht weiter gedacht und mußte nun erst das Versäumte nachholen. Nanni hatte sich aus ihrem Reithabit geschält und dabei wie toll über die komische Figur gelacht, welche sie in gewissen Stadien ihres Kostümwechsels machte, während sie doch augenscheinlich an den so ungeniert enthüllten Reizen ihre Freude hatte.
Wir sind ja unter uns, sagte sie, wie zur Entschuldigung.
Binden Sie wenigstens etwas um, sagte Angela, Sie werden sich erkälten.
Nie! rief Nanni, die runden nackten Schultern zuckend; ich möchte nie anders gehen; ich begreife nicht, wie Sie sich immer bis an den Hals zuknöpfen können. Sie sind so schön gewachsen, viel schöner als ich, so schlank und rank, sagen wir bei uns. Sie verstehen sich auf Ihren Vorteil nicht oder vielleicht erst recht – man weiß ja nie, was die Männer wollen.
Ich habe daran nie gedacht; ich kleide mich so, weil es mir so gefällt.
Und gefallen darum allen erst recht, rief Nanni; ach, was sind Sie zu beneiden, und wie neidisch bin ich alle diese Tage auf Sie gewesen! Ich will es nur gestehen: ich hätte Ihnen oft die schönen Augen auskratzen mögen. Der schlechte Benvenuto ist daran schuld; er hat mir immer einreden wollen, daß Sie und mein Arnold – so ein Unsinn! Jetzt muß ich selbst darüber lachen; aber in seiner Eifersucht sieht man ja den Wald vor Bäumen nicht und macht so dumme, dumme Sachen! Gott, wie gräßlich ich mich schäme! Das gute Tanting hat mir verziehen, Sie müssen es auch thun!
Sie war vor Angela, die sich auf das Sofa gesetzt hatte, niedergesunken und drückte den vollen Busen gegen deren Kniee. Das üppige blonde Haar, das sie eben, um es anders zu arrangieren, aufgebunden, umfloß sie wie ein goldener durchsichtiger Mantel.
Was hätte ich Ihnen zu verzeihen, murmelte Angela.
Daß ich so dumm war, mich darauf einzulassen – es war doch recht schlecht von mir! Mein Arnold liebt mich ja so, und ich ihn!
Stehen Sie auf, ich bitte Sie! das Mädchen kann jeden Augenblick hereinkommen.
Ich stehe nicht eher auf, als bis Sie mir verziehen haben!
Nun, ja, ja! sagte Angela, nur um der Scene ein Ende zu machen, sich vergeblich bemühend, ihre Hände zurückzuziehen, die Nanni ergriffen hatte und mit Küssen bedeckte. Ich habe Ihnen verziehen.
Sagen Sie: Ich habe dir verziehen! Nennen Sie mich ein einziges Mal du!
Sie sind ein Kind! Also: ich habe Dir verziehen.
Du Gute, Du Engel! rief Nanni. Nun bin ich selbst wieder gut, wieder rein; nun kann ich meinen Arnold wieder mit leichtem Herzen umarmen.
Sie hatte, sich aufrichtend, Angela beide Arme um den Nacken geworfen und küßte sie auf Haar und Stirn und Lippen mit bacchantischer Wut.
Ein sonderbar unheimliches Gefühl, wie sie es noch nie empfunden, überkam Angela. Ihr war, während sie, atemlos unter den wütenden Küssen, die Augen in seltsamer Beklommenheit schloß, als sei es Arnold, der sie in seinen Armen halte. Ein Schauer des Entzückens und Entsetzens zugleich durchrieselte sie – nur einen Moment; dann hatte sie mit einer gewaltsamen Anstrengung Nanni von sich gedrängt und stand zitternd neben dem Sofa, auf welchem Nanni wie eine trunkene Mänade, mit glühenden Wangen und wild klopfendem Busen lag, während das Haar in blonden Kaskaden allüberall von ihr bis auf den Fußboden herabfloß.
Das war häßlich, sagte Angela.
Weshalb? rief Nanni, sich lachend aufrichtend und das Haar aus dem Gesicht streichend; ich küsse so gern; Du wirst's auch noch lernen, und Männerküsse, das ist noch ganz was anderes!
Schämen Sie sich!
Gar nicht; Ihr jungen Mädchen solltet uns jungen Frauen doch dankbar sein, wenn wir Euch ein bißchen einweihen. Und gar ihr Mädchen in der Stadt! ich bin auf dem Lande groß geworden und kam doch so dumm in die Ehe, so –
Still!
Die Jungfer brachte das Kleid. Nanni schlüpfte hinein, setzte sich den Hut auf, nahm ihre Handschuhe, einen leichten Plaid und war endlich bereit. Seitdem sie das Zimmer betreten, mochte mehr als eine Viertelstunde vergangen sein.
Die Herren werden schon den halben Weg zurückgelegt haben, sagte Angela.
Laß sie! rief Nanni; ich bin viel lieber mit Dir allein, ich freue mich so auf eine Promenade mit Dir. Du glaubst gar nicht, wie grausam lieb ich Dich habe.
Sie hatte sich in Angelas Arm gehängt, während sie, begleitet von Herrn Duillier, der die Damen erwartet hatte, um sie noch einmal über den Weg zu instruieren, durch den Korridor schritten und auf die Rampe hinaustraten, an deren Geländer Benvenuto lehnte mit über der Brust gekreuzten Armen, düster vor sich niederstarrend.
Mein Gott, wie kommt denn der hierher? flüsterte Nanni, der fehlt mir gerade!
Benvenuto war aufgesprungen und begrüßte die Damen mit sehr verlegener Miene.
Warum sind Sie denn nicht mit den anderen Herren gegangen, fragte Nanni unwillig.
Es war – es ist – stammelte Benvenuto, die Sache ist – wenn die gnädige Frau mir gestatten wollte, ein Wort unter vier Augen –
Ich habe keine Geheimnisse vor Fräulein Angela, sagte Nanni mit hochgezogenen Brauen. Ich begreife gar nicht –
Nur ein Wort, gnädige Frau!
Ich will nicht genieren, sagte Angela, ihren Arm aus Nannis Arm ziehend und zur Seite gehend, während Benvenuto schnell an Nanni, die nun doch stehen blieb, herantrat und eifrig-leise auf sie einzusprechen schien.
Nach wenigen Sekunden schon kam Nanni zu Angela, die, von den beiden abgewendet, in die Berge blickte, zurück, ein gezwungenes Lächeln auf dem hübschen Gesichte.
Die Sache ist doch ernsthafter als ich gedacht habe, flüsterte sie. Es scheint, daß zwischen meinem Manne und Vogel eine Scene gewesen ist – eine Beleidigung, die Vogel nicht einstecken zu können glaubt. Er ist darum nicht mitgegangen und will jetzt fort – allein. Mir ist das sehr unangenehm – noch im letzten Augenblicke – es wird nicht so schlimm werden, aber schon die Redereien, weißt Du? Ich muß das in Ordnung bringen; er muß mit – auf alle Fälle – und klein beigeben – will ihm schon seinen Standpunkt klar machen – es wird Mühe kosten – der alberne Mensch ist ganz außer sich – und in Deiner Gegenwart – wenn Du vorausgehen wolltest – wir holen Dich schon wieder ein – meinst Du nicht, daß es so am besten ist?
Ich kann da gar nichts sagen, erwiderte Angela. Du mußt wissen, was Du zu thun hast.
Ich glaube, es ist so am besten, sagte Nanni nachdenklich. Also geh', lieber Schatz! Du weißt doch den Weg?
Ich glaube.
Dann lebe wohl so lange. Noch eins: wenn wir Dich nicht vorher einholen sollten, sag' nur dreist, ich wäre mit Vogel, der mich habe sprechen wollen, zurückgeblieben. Arnold wird schon begreifen, warum; es muß ihm ja auch lieb sein, daß die dumme Geschichte aus der Welt kommt. Also auf Wiedersehen, Engelsschatz!
Sie umarmte Angela abermals.
Bist Du mir böse?
Angela schüttelte stumm den Kopf und schritt die Stufen der Treppe hinab, ohne sich umzublicken, über den Hof, durch das Thor, an der Hecke entlang. Jetzt war nur noch ihr Hut über der Hecke sichtbar, dann verschwand auch der bei einer Biegung, welche der Weg machte.
In demselben Moment stürzte Nanni, die, ohne ihre Stellung zu verändern, der Davongehenden mit gespanntester Aufmerksamkeit nachgeblickt hatte, zu Benvenuto hin und ergriff seine beiden Hände, ein triumphierend höhnisches Lächeln auf den Lippen.
Habe ich es gut gemacht?
Sie holte tief Atem.
Wunderbar, sagte Benvenuto, aber was nun?
Fort, fort! rief Nanni in leisem, dringendem Tone; auf der Stelle!
Um Gotteswillen, man hört Dich ja, flüsterte Benvenuto mit einem ängstlichen Blick in den Speisesaal, wo jetzt Hausmägde den Tisch abräumten.
Nanni huschte die Stufen hinab, voraus über den Hof, in den Garten, wo sie ihm bereits vorhin, während sie gemeinschaftlich den von ihr selbst im Saale versteckten Shawl der Baronin zu suchen schienen, in fliegender Eile die Grundzüge ihres Planes mitgeteilt hatte. Bis jetzt war, dank ihrer Schlauheit, alles trefflich gelungen; sie hatte Benvenuto von den Herren, sich selbst von Angela losgemacht; Angela würde – davon war sie überzeugt – ihr Zurückbleiben so gut es ging, motivieren; Arnold, auch wenn er Verdacht schöpfte, war zu stolz, es sich merken zu lassen oder gar sich von der Gesellschaft zu trennen, um ihnen nachzueilen; die Gesellschaft würde bis Sonnenuntergang in den Bergen bleiben, dann eine halbe Stunde mindestens brauchen, um wieder zum Hotel hinabzusteigen; abermals, auch wenn sie dann sofort aufbräche, eine halbe Stunde auf dem Fahrwege hinab nach Montreux; das heißt: sie konnte nicht vor Sechs unten sein. Jetzt war es genau halb Vier; sie hatten also einen Vorsprung von mindestens zwei und einer halben Stunde. Um vier Uhr zwanzig passierte der Zug Bex-Lausanne-Genf Montreux, wo hinab sie auf dem Fußwege in höchstens dreißig Minuten gelangten. Aus dem Garten selbst führte eine steile Steintreppe zur Fahrstraße direkt auf den Punkt, wo sich der Fußpfad von jener abzweigte. Nanni hatte sich vorhin im Garten die Situation in der Eile möglichst klar gemacht und suchte dieselbe wiederum Benvenuto zu erklären, während sie über den Hof durch den Garten zu der Treppe eilten, deren eisernes Gitterthürchen sich nun unter ihren Händen in den verrosteten Angeln drehte.
Da hinab? murmelte Benvenuto mit einem düsteren Blick auf die allerdings sehr lange und steile Treppe.
Ja, ja! sagte Nanni, bereits auf der dritten Stufe.
Halt! rief Benvenuto; um Gotteswillen! Wir brechen das Genick.
Willst Du's Dir lieber von meinem Manne brechen lassen? sagte Nanni, ohne sich umzusehen, weiter schreitend.
Benvenuto folgte seufzend. Das Abenteuer, auf das er sich so leichtsinnig eingelassen, deuchte ihm plötzlich der reine Wahnsinn; die geländerlose Treppe, die ins Bodenlose zu führen schien, machte ihn schwindelig.
Halt! rief er abermals. Sie wendete sich halb.
Wir haben hier absolut keine Deckung – wenn hinter uns her geschossen würde –
Du bist nicht recht gescheit, sagte sie, nur noch schneller als vorher die Stufen hinablaufend.
Endlich standen sie unten auf dem breiten Fahrweg; Nanni rot vor Aufregung und von dem eiligen Hinabsteigen; Benvenuto, sehr gegen seine Gewohnheit, bleich, mit tropfender Stirn und schlotternden Knieen.
Weiter! weiter! rief Nanni, auf den Fußpfad deutend, der in unregelmäßigen Stufen an den Felsen heraufgearbeitet war und sich etwas weiter unten im Gebüsch verlor. Der Pfad hatte womöglich ein noch schlimmeres Aussehen als die Treppe.
Ich kann nicht mehr! sagte Benvenuto.
Dummes Zeug! sagte Nanni.
Laß uns wenigstens auf der Fahrstraße bleiben!
Um den Zug zu versäumen – Unsinn! Wir müssen in einer Viertelstunde unten sein.
Bis dahin ist das Ungewitter herauf, sagte Benvenuto, mit einem kläglichen Blicke auf die Wolke drüben, die seltsam groß und noch schwärzer geworden war, und deren Ränder fürchterlich leuchteten.
Nanni, die schon auf dem Fußpfade ein paar Schritte gemacht, kam mit einem Sprunge zurück und stand dicht vor Benvenuto.
Willst Du oder willst Du nicht?
Gewiß, stammelte Benvenuto, der unwillkürlich zurückgeprallt war, aber mir scheint – wenn ich es recht überlege – es ist meine Pflicht – als ein Mann –
Du, ein Mann? sagte Nanni höhnisch auflachend.
Allerdings, sagte Benvenuto mit einem verzweifelten Versuche, fest zu sprechen und eine entschiedene Miene zu machen; ich muß an Deine Kinder denken.
Die befinden sich sehr wohl bei meiner Tante.
An Deinen alten Vater, der sich in Gram verzehren, vielleicht seine Hand von Dir – von uns abziehen wird. – Zwei Familien ernähren zu müssen –
Und wenn es ein Dutzend wäre, rief Nanni mit dem Fuße stampfend; Vater ist reich genug und thut, was ich will – ich hab's Dir schon hundertmal gesagt.
Arnold ist mein Freund.
Und Du bist ein Feigling! schrie Nanni wütend.
Das lasse ich mir nicht gefallen, auch nicht von Dir! rief Benvenuto, halb wirklich beleidigt, halb den Beleidigten spielend.
Nanni sah, daß sie zu weit gegangen, und daß es sich um ihre ganze Zukunft handele. Es war ja eine schlimme Sache, diese Zukunft von Benvenuto abhängen lassen zu müssen, der ihr jetzt in einem kläglicheren Lichte erschien, als sie noch eine Stunde früher für möglich gehalten, und sie schwankte, ob sie dem Hasenfuße den Laufpaß geben und versuchen sollte, sich wieder mit Arnold zu arrangieren. Aber die Aussicht auf ein Weiterleben an der Seite des ungeliebten Mannes – selbst wenn es wirklich zu einer leidlichen Verständigung kam, nachdem sie sich so mit Benvenuto kompromittiert – verarmt, verfolgt von unbezahlten Rechnungen, – es war unmöglich! Mit einem Schwunge hatte sie sich Benvenuto an den Hals geworfen.
Vergib, vergib! ich weiß nicht, was ich spreche. Ich liebe Dich ja grenzenlos.
Sie hing an seinem Halse; sie hing an seinen Lippen; er strebte sich loszumachen.
Auf offener Straße – um Gotteswillen – bist Du toll?
Ja, ja, ich bin toll! Wenn Du mich verläßt, stürze ich mich da hinab!
Sie schnellte von ihm fort und stand an dem Rande des Felsens neben den Stufen.
Halt! rief Benvenuto. Und bei sich sprach er: Es ist gräßlich; aber sie liebt mich so.
Willst Du? rief Nanni.
Ja, ja! sagte Benvenuto; aber – meine ganze Baarschaft sind dreihundert Francs.
Ich habe zehntausend! rief Nanni, hier! und sie legte die Hand an ihren Busen.
Dein Geld?
Pfui! von meinem Vater, mir extra für die Reise gegeben. Hast Du Deinen Paß?
Hier! sagte Benvenuto, auf die Brusttasche seiner Joppe schlagend.
Um acht Uhr in Genf, wo wir noch gerade Zeit haben, unsere Koffer abzuholen, und morgen früh in Paris! rief Nanni und klatschte in die Hände. Komm'! Komm'!
Laß mich vorangehen! sagte Benvenuto heroisch.