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Die Tischglocke des »Grand Hôtel du Lac« in Vevey war verklungen; die Gäste kamen aus ihren Zimmern, sich in den zur ebenen Erde gelegenen Speisesaal zu begeben; einige hatten bereits ihre Plätze an der Tafel eingenommen.
Wir bringen es heute nicht mehr auf Dreißig, sagte Herr Sybold über den Rücken seiner Frau zu Herrn Banse. Was gilt die Wette?
Was ist da groß zu wetten, erwiderte Herr Banse, den Zipfel der Serviette vorsichtig zwischen die beiden obersten Knöpfe seiner weißen Weste schiebend; Sie haben sich bei Delajoux erkundigt.
Parole d'honneur! rief Herr Sybold, fragen Sie meine Frau! Ich kalkuliere nur nach der Unmenge von Koffern, die zum Zwei-Uhr-Zuge im Vestibül aufgestapelt waren, als wir um ein Uhr mit dem Dampfer nach Montreux fuhren. Sind erst vor zehn Minuten zurück – fragen Sie meine Frau!
So habe ich mich erkundigt, erwiderte Herr Banse, und kann also nicht wetten: einunddreißig auf den Kopf. Sie sehen, Sie hätten verloren.
Und gestern waren wir noch achtundvierzig, klagte Herr Sybold; als wir am Dienstag vorige Woche kamen: sechsundachtzig! Fünfundfünfzig in sieben Tagen – das ist arg – und wir gedachten bis Mitte November zu bleiben!
Wer hindert Sie daran? Delajoux gewiß nicht.
Der freilich nicht; er wird froh fein, wenn überhaupt noch ein Mensch aushält; aber das wird doch am Ende verteufelt langweilig.
Nicht sehr schmeichelhaft für uns, die wir hier überwintern, wie Sie wissen.
Die Anwesenden sind immer ausgenommen – pardon, liebes Suschen!
Frau Sybold hatte eine ungeduldige Bewegung gemacht; Herr Sybold zog den Arm von der Lehne ihres Stuhles zurück, beugte sich über seine Suppe und murmelte, während er eifrig zu löffeln begann: Ich weiß gar nicht, was Du gegen die Leute hast.
Der Mann geht zur Not, erwiderte seine Frau in demselben leisen Ton; aber wie hat sie sich wieder heute aufgetakelt! Die reine Bunzlauer Kaffeekanne!
Es können nicht alle Leute Geschmack haben.
Alle Leute nicht; aber alle Damen sollten es. Sie ist keine. Die Engländer verstehen das. Lady Ballycastle hat noch kein Wort mit ihr gesprochen während der ganzen drei Tage.
Mit Dir auch nicht.
Ich sitze doch nicht neben ihr.
Vielleicht ist sie abgereist.
Dann würden die beiden Plätze neben den Banse's besetzt sein. Frag' doch die Banses!
Einmal soll ich nicht mit ihnen sprechen, und das anderemal soll ich, murmelte Herr Sybold in die Schüssel hinein, die ihm eben präsentiert wurde. Was hast Du?
Nun auch wieder der gräßliche alte Brasilianer!
Dafür speisen wir an einer Table d'hôte; man kann sich doch sein Vis-à-vis nicht aussuchen, wie die Forellen.
Warum aber gerade mir gegenüber?
Irgendwo muß er doch sitzen.
Der Gast, welcher Frau Sybolds Unwillen erregt hatte, war ein von Krankheit zusammengekrümmter alter Herr mit langem, dichten, schneeweißen Haupthaare und ebensolchem Vollbarte. Das erstere fiel so tief in die Stirn hinab, und der letztere reichte so hoch auf die Wangen hinauf, daß man von dem Gesichte eigentlich nur die schmale, feingeformte Nase und von Zeit zu Zeit, wenn die müden Lider sich einmal hoben, die halberloschenen Augen sah. Er war von seinem Diener bis an die Schwelle der Thür und dann von einem Kellner bis zu seinem Platze an der Tafel geführt worden, auf welchem er sich vorsichtig mühsam niederließ. Nun neigte er das stattliche Haupt, wie seine Nachbarn um Entschuldigung bittend, nach links und rechts und begann eine Reihe komplizierter Manipulationen, bis es ihm gelang, den ersten Löffel Suppe an den Mund zu führen.
Ich reise morgen, sagte Frau Sybold.
Wirst Du mich mitnehmen?
Frau Sybold bewegte bereits die Lippen zu einer scharfen Erwiderung des unpassenden Scherzes, als zum Glück für ihren Gatten, der über seine Kühnheit selbst erschrocken war, von dem an der Thür wachthabenden Kellner beide Flügel weit aufgerissen wurden, und die schier riesenhafte Gestalt der englischen Dame hereinrauschte, der in angemessener Entfernung, einem verblaßten Schatten gleich, die lange, dürre Gesellschafterin folgte. Miß Flinch ging zu den gewohnten Plätzen neben den Banse's, wo sie hinter ihrem Stuhle, die rötlichen Wimpern auf die hageren, gelblichen Wangen senkend, stehen blieb, während ihre Gebieterin an der andern Seite der Tafel entlang bis zu dem Platze des paralytischen alten Herrn schritt, ihm die zitternde Hand zu schütteln und sich auf französisch nach seinem Befinden zu erkundigen, worauf Herr Lerma einige leise höfliche Worte ebenfalls französisch erwiderte. Dann rauschte sie um das andere Ende der Tafel herum zu ihrem Stuhl, den ihr Herr Delajoux selbst zurechtrückte.
Es war das erste Mal, daß die stolze Dame jemand in der Gesellschaft ansprach, trotzdem sich in derselben ein starkes Kontingent ihrer eigenen Landsleute befand; und so erregte der außergewöhnliche Vorgang nicht geringe Verwunderung. Man blickte fragend, Auskunft heischend einander an und begann, da man, wie es schien, auf diese Weise nicht weiter kam, eifrig und leise mit dem Nachbar das seltsame Begebnis zu kommentieren. Selbst Frau Sybold überwand ihre Antipathie gegen die Banses und wurde, wie sie vorausgesetzt, für ihre Herablassung belohnt, da Herr Banse – der immer alles wußte – auch im Besitze des Schlüssels zu dem Rätsel war.
Gleich nach dem Frühstück heute Morgen habe sich Herr Lerma auf sein Zimmer begeben wollen, und, in der ersten Etage angelangt, sein Taschentuch vermißt, das er im Speisesaal liegen gelassen. Er habe den Diener hinabgeschickt, während er selbst mitten im Korridor stehen geblieben. Stehen könne er ja zur Not allein – auf dem einen Bein – nur nicht sich bewegen. Und das letztere sei notwendig oder doch wünschenswert geworden, als Lady Ballycastle eine halbe Minute darauf, aus dem Lesekabinett kommend, auf dem Wege nach ihrem Zimmer den Korridor heraufgerauscht sei. Ob Herr Lerma den Versuch gemacht, auf die Seite zu treten und dabei gestürzt; ob die Lady nur gemeint, er werde ausweichen und, da er nicht ausgewichen, an ihn gerannt und – wie das bei ihrer Mächtigkeit und seiner Gebrechlichkeit selbstverständlich – ihn umgestoßen – das könne er – Herr Banse – selbst nicht sagen, denn er sei erst auf dem Schauplatze erschienen, als die Lady den alten Herrn wieder aufgehoben und ihn nach seinem Zimmer getragen habe, welches ja neben dem großen von ihr bewohnten Salon liege. Nun, schwer werde er wohl nicht eben sein – er bestehe ja nur aus Haut und Knochen, höchstens der Kopf falle noch ins Gewicht – indessen, er habe doch ein verzweifeltes Gesicht gemacht, gewiß aus Furcht, daß ihn die Lady werde fallen lassen. Die aber sei mit ihm abmarschiert, wie eine Wärterin mit einem Kinde auf dem Arm; habe auch seinen – Herrn Banse's – Beistand und den des Dieners, der mittlerweile herzugekommen, mit stolzem Kopfschütteln schroff zurückgewiesen. Dann habe er – Herr Banse – durch die offene Thür nur noch gesehen, daß die Lady den alten Herrn auf das Sofa gelegt, und dann habe der Diener – wie es ihm geschienen auf Befehl der Lady – ihm die Thür, so zu sagen, vor der Nase zugemacht, sodaß er sich, alles in allem, einer allzu großen Liebenswürdigkeit seitens der Lady nicht rühmen könne. Es scheine, daß, um mit ihr auf einen guten Fuß zu kommen, man sich ihr zuvor in den Weg stellen und von ihr umlaufen lassen müsse, was denn doch nicht nach jedermanns Geschmack sei.
Herr Banse lachte; Frau Sybold lächelte, aber sehr zerstreut. Sie war nicht ganz sicher, ob die letzten Worte des scherzhaften Nachbars nicht eine böse Anspielung sein sollten. Sie hatte sich während dieser Tage mehr als einmal im Konversationszimmer, im Lesekabinett, im Hotelgarten in der Nähe der Lady zu schaffen gemacht; durch Ueberreichung eines Journals, durch Ueberlassen eines Sessels und ähnliche Aufmerksamkeiten eine Unterhaltung einzuleiten, eine Annäherung herbeizuführen gesucht – immer ohne Erfolg. Sie hätte denn ein strenges Anstarren der großen, harten, schwarzen Augen, ein kurz herausgestoßenes Merci! so nennen müssen. Und das französische Wort war eigentlich eine Beleidigung, da sie nie versäumt, ihre Liebenswürdigkeiten mit einer wohlgesetzten englischen Phrase zu begleiten und sich mithin für eine regelrechte Konversation zweifellos zu qualificieren.
Uebrigens versteht sie auch Deutsch, begann Herr Banse von neuem, als ob er in den unerquicklichen Gedanken seiner Nachbarin gelesen hätte. Sie spricht es sogar ganz geläufig, wenn es auch schauderhaft klingt. Hab's gehört, als sie eine Stunde später mit der langen Miß ihre Spazierfahrt machte und dem Kurier, der alle Sprachen der Welt parliert und trotz seines italienischen Namens Katarozzi ein guter deutscher Schweizer ist und eigentlich Kater heißt, aus dem Wagen heraus ihre Befehle erteilte – ich glaube wahrhaftig, um sich vor meiner Frau und mir und ein paar deutschen Bekannten aus dem Monnet, die auch dabei standen, ein bischen aufzuspielen.
Freilich, sagte Frau Sybold höhnisch; sie sieht auch gerade aus, als ob sie sich viel darum kümmere, was so kleine Leute, wie wir, über sie denken.
Ach was, kleine Leute, sagte Herr Banse. Wenn es keine kleinen Leute gäbe, wo kämen da die großen her? So ein bischen Mätzchenmachen verschmähen selbst Kaiser und Könige nicht, im Gegenteil! – Warum mag denn da der Extratisch gedeckt werden? Ich dächte, es wäre mehr Platz an der Tafel, als Delajoux lieb sein kann.
Ja, was mag das bedeuten? sagte Herr Sybold, froh, daß die Unterhaltung eine andere Wendung nahm. Es ist doch jetzt kein Zug gekommen?
Vielleicht ein diner à part für eine Gesellschaft aus der Stadt, sagte Herr Banse. Das kommt ja manchmal vor.
Fragen wir Louis, sagte Herr Sybold.
Louis, der eben Roastbeef präsentierte, wußte keine Auskunft zu geben; er wolle sich bei dem Oberkellner erkundigen, unter dessen Aussicht der Nebentisch in einer der Fensternischen gedeckt wurde. So dauerte es einige erwartungsvolle Minuten, bis der Vielbeschäftigte den Wünschen der Herren nachkommen konnte.
Messieurs et Mesdames –
Bitte, deutsch! sagte Herr Banse mit einem Blicke auf seine Frau.
Pardon! Also, es ist eine deutsche Familie –
Aus? fragte Herr Banse.
Berlin, glaube ich.
Name? fragte Herr Sybold.
Le nom? ah, pardon – un mo ment – oui, oui – Moor – justement – Monsieur et Madame Arnold Moor de Berlin –
Sollte das der Maler sein? fragte Herr Sybold flüsternd seine Frau.
Unsinn! rief Frau Sybold, den müßten wir doch kennen!
Sie kennen den Herrn? fragte Herr Banse eifrig.
Natürlich! erwiderte Frau Sybold, wie sollten wir nicht! Alle Welt kennt doch den großen Historienmaler.
Landschafter! flüsterte Herr Sybold.
Nun ja, natürlich malt er auch Landschaften! rief Frau Sybold.
Justement! sagte der Oberkellner, der gar nicht hingehört hatte, justement! Sie sind bereits seit gestern abend in Vevey – im Monnet abgestiegen – konnten dort nicht Beletage haben – kamen zu uns – wäre bei uns auch unmöglich gewesen, wenn heute nicht ganz unvermutet Graf Donnersdorf abgereist wäre – so waren wirklich zwei Zimmer frei. Brauchen aber vier. Müssen sich vorderhand behelfen; zweite Etage ganz besetzt; haben dem Herrn ein Zimmer au troisième gegeben, während Madame mit der Bonne und den drei Kindern–
Drei Kinder? großer Gott! rief Frau Sybold, und natürlich ganz klein! Das ist sehr unangenehm in einem Hotel, das gibt immer Lärm und Lauferei auf den Korridoren.
Justement, sagte Monsieur Charles, dessen Augen bei dem Nebentische waren, sie werden gleich mit dem Herrn Papa und der Bonne herunterkommen; Madame speist auf dem Zimmer.
Ja, warum denn das? fragte Frau Sybold.
Monsieur Charles zuckte die Achseln.
Glaube, sie ist krank – Les voilà! Pardon!
Monsieur Charles eilte davon, einem Herrn entgegen, welcher soeben mit einem kleinen Knaben an der Hand in den Speisesaal trat. Ein noch kleinerer Knabe und ein etwas größeres Mädchen wurden von der Bonne geführt – einer hageren Person, die über ihre lange Nase mürrisch dreinblickte. – Der Wirt, Herr Delajoux, der hinter dem Anrichtetische stand, war ihnen entgegengegangen; jetzt eilte auch Monsieur Charles hinzu, die kleine Gesellschaft zu der für sie bestimmten Tafel zu führen. Herr Moor mochte mit dem Arrangement nicht zufrieden sein; er deutete lebhaft leise sprechend unter manchen Gestikulationen nach einem andern Tische in einem ferneren Theile des Saales, schüttelte auf Monsieur Charles' Einwendungen unwillig den Kopf, nahm dann freilich mit den Kindern Platz, aber nicht ohne vorher, wiederum unter lebhaften Gesten, befohlen zu haben, daß man die Lichter auf dem Wandkandelaber über dem Tische kleiner schraube.
Scheint kein Lichtfreund, der Herr Moor, sagte Herr Banse.
Maler sind in Beziehung auf Beleuchtung immer apart, sagte Frau Sybold in belehrendem Tone.
Ich glaube eher, es geniert ihn, daß er da mit der kleinen Gesellschaft wie auf einem Präsentierteller sitzt, sagte Herr Banse. Mein Fall wäre das auch nicht. Sagten Sie nicht, Sie kennten den Herrn?
Das heißt nur vom Ansehen, erwiderte Frau Sybold; zufällig, denn wir verkehren sonst mit einer Unmenge Malern, Musikern – überhaupt Künstlern.
Und kann er was? fragte Herr Banse.
Moor! aber ich bitte Sie, er ist unbedingt unser größter Landschafter! rief Frau Sybold.
Entschuldigen Sie, wenn ich es nicht wußte. Wir armen Provinzialen – na – wissen Sie – wir haben mal eine Kunstausstellung in Bunzlau gehabt, und das ist nun auch zehn Jahre her – fand keinen Anklang, dafür besehen wir denn unsere Tassen und Kannen. Sind auch sehr schön bemalt und kosten uns kein Heidengeld – im Gegenteil! Nicht wahr, Frau? Gib doch auch mal ein Wort dazu!
Die süßen Kinder! sagte Frau Banse, die zum erstenmale den Mund öffnete.
Hast recht, Mutter, sagte Herr Banse.
Und dann, im Flüstertone, zu Frau Sybold:
Wir haben nämlich nie Kinder gehabt, und da kann sie keine sehen, ohne sentimental zu werden. Aber es sind wirklich reizende Krabaten und dem Vater wie aus den Augen geschnitten; besonders die beiden Jungen. Jude, der Herr Moor – natürlich!
Weshalb finden Sie das natürlich? fragte Frau Sybold gereizt. Bloß weil er Talent hat?
Was weiß ich von seinem Talent. Ich meine nur, weil er ein so quecksilbriger schwarzbrauner Kerl ist – mag auch wohl im Namen liegen – Moor! Sehr gut!
Jesus, ich glaube, dem Kleinen ist übel, sagte Frau Banse.
Oder hat eine Gräte verschluckt, meinte Herr Sybold.
Das kommt davon, wenn man mit kleinen Kindern in der Welt herumreist, sagte seine Gattin.
Auch die übrige Gesellschaft hatte ihre Blicke wieder nach dem Nebentische gelenkt. Der größere der Knaben hatte zu husten begonnen, die Bonne klopfte ihm auf den Rücken; der Vater, der ihm gegenüber gesessen, war aufgesprungen und redete zu ihm. Der Kleine fing an zu weinen; der Vater nahm ihn vom Stuhle empor und übergab ihn der Bonne, die den Hustenden, Weinenden eiligst aus dem Saale führte. Herr Moor, dem die Aufmerksamkeit, welche die kleine Scene erregt hatte, äußerst peinlich zu sein schien, hatte seinen Platz wieder eingenommen; man sah ihn, über den Tisch gebeugt, lebhaft auf die beiden anderen Kinder einsprechen. Jetzt, da durch die offengebliebene Thür die keifende Stimme der Bonne und das Weinen des Knaben hereinschallte, sprang er empor und stürzte hinaus, die Thür hinter sich schließend.
Das fängt gut an, meinte Herr Banse.
Es ist ein Skandal, sagte Frau Sybold.
Die armen kleinen Herzchen, sagte Frau Banse, allein unter all den fremden Leuten! Die werden sich schön ängstigen. Wenn der Papa nur bald wiederkommt!
Aber das geschah nicht so bald. Die zurückgebliebenen beiden Kinder hatten im ersten Schrecken anfänglich ganz still gesessen, die großen dunklen Augen starr auf die Thür geheftet, durch die der Vater verschwunden war. Plötzlich hörte man unterdrücktes Schluchzen, und das Brüderchen, das von seinem Stuhl heruntergeglitten war, drückte seinen braunen Lockenkopf an das Schwesterchen, das ihn mit beiden Armen umfaßte, während der aufwartende Kellner die Achseln zuckte und die Schüsseln nach dem Anrichtetische zurücktrug.
Die reine Kinderstube, sagte Frau Sybold.
Die süßen Herzchen! rief Frau Banse, ich möchte so gern zu ihnen. Aber das schickt sich wohl nicht?
Herr Banse nahm lächelnd eine Prise; die gute Frau Banse war in der That entschlossen, hinzugehen; sie wartete nur, bis ihr Herz, das heftig zu schlagen angefangen, sich ein wenig beruhigt haben würde, und fuhr erschrocken zusammen, als ihre Nachbarin, die große englische Dame, plötzlich geräuschvoll ihren Stuhl hinter sich schob. Frau Sybold meinte, um sich, über die ärgerlichen Scenen indigniert, zu entfernen. So dachten auch die anderen und waren nicht wenig verwundert, als die Lady, an dem Ende der langen Tafel angelangt, sich nicht nach der Thür wendete, sondern um die Tafel herum geradewegs auf den Nebentisch zuging, wo die beiden Kinder noch in angstvoller Umarmung sich umschlungen hielten. Nun war sie bei ihnen und hatte dem Mädchen die mächtige Hand auf den Kopf gelegt; die Kinder fuhren auseinander. Die Lady hatte sich ihnen gegenübergesetzt und dem Kellner gewinkt, der eiligst herbeikam. Sie häufte den Kindern die Teller voll, nachdem sie vorher eigenhändig das Fleisch geschnitten, stand auf, trat hinter sie, band ihnen die heruntergeglittenen Servietten fester, nahm wieder ihnen gegenüber Platz, und man hörte einige Laute ihrer rauhen Stimme – vermutlich eine Aufforderung für die Kinder, zu essen. Die Kinder gehorchten, aber den Geängstigten, die mit großen Augen unverwandt die seltsame fremde Frau anstarrten, schien der Bissen im Munde stecken zu bleiben. Die Lady wiederholte ihren Befehl, wobei sie ihren zusammengeklappten, riesigen schwarzen Fächer lebhaft hin und her bewegte. Die Kinder mochten das für eine Drohung halten; Messer und Gabel entsanken den zitternden Händchen, sie fingen beide zugleich an zu weinen und liefen weinend dem Vater entgegen, der eben allein eilig in den Saal zurückkehrte. Der Kleine hängte sich an seinen Rockschoß, das Mädchen ergriff seine Hand. Er machte sich unwillig los, trat auf die Lady zu, die ruhig sitzen geblieben, murmelte, sich verbeugend, einige Worte, wartete aber keine Erwiderung ab, sondern wendete sich schnell, kehrte zu den Kindern zurück und verließ mit ihnen, sie an den Händen ergreifend, so eilig den Saal, daß die Kinder mehr fortgerissen als geführt wurden. Die Lady blieb noch einige Momente an dem Nebentische sitzen, den Fächer heftig hin und her bewegend, mit hochgezogenen Brauen gerade vor sich hin starrend. Nun schüttelte sie unwillig das große Haupt, klappte den Fächer geräuschvoll zu, erhob sich und begab sich langsamen Schrittes zu ihrem Platze zurück, während ihr über die Tafel schweifender Blick das Urteil oder die Bewunderung der Gesellschaft herauszufordern schien.
Wieder so ein Mätzchen, sagte Herr Banse, na, viel Dank hat sie diesmal nicht davon gehabt.
Wofür auch? erwiderte Frau Sybold, wer heißt sie, sich da hineinzumischen?
Ganz unenglisch! sekundierte ihr Gatte.
Scheint übrigens ein etwas excentrischer Herr, der Herr Moor, sagte Herr Banse.
Alle Künstler sind excentrisch, belehrte ihn Frau Sybold.
Die armen kleinen Kinder, murmelte Frau Banse.