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*

XXIX.

Der längere Weg, welchen man auf Angelas Wunsch gemacht, hatte die zu zwölf Uhr bestimmte Ankunft auf Glion um eine Stunde verzögert; und wenn man angenommen, daß man eine Viertelstunde später an dem voraus bestellten Frühstück sitzen würde, so bewies sich auch diese Rechnung als falsch. Die für den späten Herbsttag ganz ungewöhnlich heiße, stechende Sonne, der unendliche Staub, die Ueberanstrengung der allzu langen Fahrt und des Rittes auf zum Teil recht mißlichen Wegen – das alles hatte die Gesellschaft in einen Zustand versetzt, der denn doch, besonders hinsichtlich der Toilette, einer gründlicheren Restauration bedurfte, als welche binnen weniger Minuten auszuführen war. Glücklicherweise hatte es von vornherein im Plane gelegen, nach dem Frühstück die Höhen über Glion zu Fuß zu ersteigen, und ein Gepäckwagen, welcher auf dem direkten Wege über Clarens und Montreux gefahren war, sowohl für die Herren als für die Damen alles mitgebracht, was die schickliche Ausrüstung zu einer Gebirgswanderung nur immer erforderte. So fehlte es denn an dem Nötigen nicht, und für die nächste halbe Stunde war das stille, nur noch wenige Herbstgäste bergende Hotel in einem Aufruhr von Kellnern und Mädchen, die geschäftig hin und her eilten, den vielfachen Wünschen nachzukommen, welche aus einem halben Dutzend Zimmern zu gleicher Zeit an sie gestellt wurden.

Frau Banse brauchte niemanden zu bemühen. Sie hatte für keine Wechselkleider gesorgt und konnte, nachdem sie den Staub aus denen, welche sie trug, geschüttelt, die Kinder, die sie unter ihre Obhut genommen, zurechtstutzen und dann in den Garten führen, welcher vor dem Hotel den schmalen Streifen bis zu dem äußersten Rand des Glion-Felsens ausfüllt. Da nun hatte sie freilich ihre liebe Not. Die Mauer am Rande war so niedrig, der jähe Absturz in die unendliche Tiefe so fürchterlich – zumal in dem Kiosk an der Ecke, welcher geradezu in der blauen Luft zu schweben schien – und die Kinder so ahnungslos der Gefahr, so schauerlich tollkühn – die Arme hatte bald diesem, bald jenem der kleinen Wildlinge nachzutrippeln und mit der dünnen, zitternden Stimme, die in dem Jauchzen und Jubeln sich nur schwer Gehör verschaffte, um Gottes, Jesu willen zu bitten, sich ihrer zu erbarmen. Das half denn wohl für ein paar Minuten, bis Lolo, der die Zeit zu lang wurde, die Kameraden durch ihr ungeduldiges Bellen zur Fortsetzung der unterbrochenen Spiele aufforderte und die wilde Jagd durch die schmalen Heckenwege, an der niedrigen Mauer hin von neuem begann. Und dabei ließ die Frau Baronin noch immer auf sich warten, die selbst doch sie und die Kinder in den Garten geschickt und gesagt hatte, daß sie ihnen alsbald nachkommen werde! Die alte Dame wußte sich schließlich nicht anders zu helfen, als daß sie sich in dem Kiosk niedersetzte, den Kindern energisch den Eintritt wehrend und, so gut es gehen wollte, die eigene Angst verbergend.

Aus diesem mißlichen Zustande befreite sie endlich Angela, welche vom Hotel durch den Garten daherkam, und der die Kinder entgegeneilten, höchlich unzufrieden mit dem einfachen grauen kurzen Kleide, das ihr gar nicht so gut stehe, wie das dunkelblaue Reithabit mit der langen Schleppe und dem Herrenhut. Angela lächelte und sprach ein paar freundliche Worte zu ihnen; aber, so oder so, es war die Tante Angela nicht, auf die sie sehnlichst gewartet hatten. Frau Banse kam aus dem Kiosk hervor und klagte zitternd und halb weinend die Angst, welche sie ausgestanden; Angela verbot den Kindern jede Annäherung der Mauer mit solcher Bestimmtheit – kommt, Riching, Karling! sagte Annchen, Tante Angela ist böse; wir wollen auf dem Hofe spielen, da können wir nicht herunterfallen. Tante Banse kann auch hier bleiben.

I, wie werde ich, sagte die alte Dame, ich bin froh, daß ich mit heilen Gliedern von hier fortkomme.

Angela lächelte – ein so sonderbares Lächeln. Die alte Dame konnte das Lächeln gar nicht vergessen, während sie mit den Kindern, die ganz still geworden waren, auf dem Hofe promenierte und immerfort wieder zu dem jungen Mädchen hinüberblickte, welches in dem gräßlichen Schwalbenneste, beide Arme auf die Brüstung und den Kopf in die Hände stützend, regungslos saß und in die entsetzliche Tiefe unter ihr starrte.

So fanden Angela die Herren, die nun einer nach dem andern in den Garten kamen, als der letzte: Benvenuto, der freilich seine Toilette nicht so schnell hatte bewerkstelligen können. Denn wenn sich die anderen bereits von vornherein mit ihrem Anzug auf die später beabsichtigte Wanderung ein wenig eingerichtet, hatte er keineswegs auf Stulpstiefeln, Sporen, enganschließende Beinkleider, hohen Cylinder und die sonstigen Requisiten eines flotten Reiters verzichten mögen und erschien dafür jetzt in eisenbeschlagenen Lederschuhen, hohen grauen Gamaschen, Lodenjoppe und dem übrigen Kostüm eines resoluten Alpenklub-Mitgliedes. Dennoch erregte sein Erscheinen bei den übrigen Herren nicht die gewohnte Heiterkeit. War's bei Arnold wirklich Ermüdung nach dem langen heißen Ritte, oder bei Bob der Durst, der ihm, wie er behauptete, die Zunge an den Gaumen klebe, oder bei Edward die Sorge um Angela, die er auffallend blaß und abgespannt aussehend fand – man promenierte zuerst vereinzelt, schweigsam in den schmalen Gängen und hatte, als man sich denn doch nach einer Weile zusammenfand, keinen Ausdruck der Bewunderung für die landschaftliche Pracht, welche sich über ihnen, rings um sie her türmte und breitete, sondern kommentierte nur den Charakter und die Bedeutung einer schwarzgrauen, an den Rändern gleißenden Wolke, der einzigen an dem tiefblauen kristallenen Himmel, die drüben unbeweglich den höchsten Gipfel der Dent d'Oche umhüllte. Und auch jetzt war es eigentlich nur Benvenuto, der die Unterhaltung führte. Er demonstrierte mit seiner gewöhnlichen Zungenfertigkeit die Entstehung des Phänomens durch die an einem so heißen Tage besonders starke Verdunstung des Schnees, der seit der vorigen Nacht sämtliche höhere Gipfel bedecke; übrigens sei die Sache völlig harmlos, da die Attraktion, welche von einem so gewaltigen Gebirgsstock, wie die Dent d'Oche, ausgeübt werde, die spezifisch leichten Dunstmassen absolut festhalte. Man dürfe einem alten erprobten Gebirgswanderer, wie ihm, durchaus vertrauen. Er kenne die Alpen nicht nur mindestens so gut wie sich selbst, sondern habe speziell für das Verständnis aller meteorologischen Dinge eine natürliche, Gabe, die ihn noch nie im Stich gelassen, und durch deren Unfehlbarkeit er schon tausendmal die Wetterkunde der erprobtesten Führer beschämt habe.

Benvenuto fuhr fort, seine Weisheit auszukramen, ohne daß jemand sonderlich auf ihn gehört hätte. Bob sah wiederholt nach der Uhr; die Baronin und Frau Moor, welche nach beendeter Toilette ebenfalls in den Garten hatten kommen wollen, ließen noch immer auf sich warten. Es schien unbegreiflich, wo sie so lange blieben, um so mehr, als die Baronin zu ihrer Nichte auf das Zimmer gegangen war und mithin die Verzögerung gewissermaßen durch ihre Autorität sanktioniert wurde. Man mußte sich in Geduld fassen.

In der That hatte die Baronin wenige Minuten nach der Ankunft an Nannis Thür geklopft und Einlaß begehrt. Nanni wartete schmerzlich auf die Rückkehr des Mädchens, welches ihr Promenadenkleid, das unterwegs ein paar häßliche Falten bekommen, aufbügeln sollte, Sie schloß heimlich seufzend die Knöpfe des Reithabits über dem Busen und sagte, es habe durchaus keine Eile mit ihrem Anzuge, jedenfalls gehe die Tante vor.

Ich will Dich auch nicht lange aufhalten, sagte die Baronin, auf dem kleinen Sofa Platz nehmend; es läßt mir nur keine Ruhe. Du hast mit Deinem Manne gesprochen, Nanning?

Ich hatte noch immer nicht den Mut, sagte Nanni mit niedergeschlagenen Augen.

So werde ich es thun, sagte die Baronin sehr bestimmt; denn geschehen muß es.

Ich weiß es ja, sagte Nanni kläglich, und ich will es auch gewiß; aber es wird mir so sehr schwer; er ist jetzt immer so lieb zu mir, so gut –

Das habe ich nun gerade heute wieder gar nicht gefunden, sagte die Baronin, im Gegenteil! und deshalb glaubte ich bestimmt, Du habest es ihm gesagt – das könnte freilich auch einem andern die gute Laune verderben.

Ich weiß nicht, was ihm ist, sagte Nanni mit dem Anscheine ernstlichen Nachsinnens, er war noch heute morgen so zärtlich, so –

Ich will nicht wissen, was in Euren vier Wänden zwischen Dir und Deinem Manne vorgeht, sagte die Baronin streng; das ist Eure Sache, da mische ich mich nicht hinein – mit dem Samtrock war das freilich anders.

Aber, Tanting, Du hast mir ja verziehen!

Ach, dummes Zeug – verzeihen! Verzeihen kann man so was nicht; man kann höchstens nicht weiter davon reden. Und das thäte ich auch nicht, und Du wärest mich überhaupt schon los, wenn Du meinem Rate gefolgt wärest und hättest Deinem Manne reinen Wein eingeschenkt. So muß ich glauben, Du schiebst es nur auf die lange Bank, um hier noch ein paar Tage herauszuschlagen.

Aber, Tanting, Du selbst hast mir erlaubt, bis Mittwoch hier zu bleiben, und meine Koffer habe ich schon nach Mailand vorausgeschickt; Du siehst doch daraus, wie guten Willen ich habe.

Na ja, meinetwegen, sagte die Baronin ärgerlich, obgleich jeder Tag verloren ist.

Und dann fürchte ich immer, fuhr Nanni fort, wenn ich Arnold sage, daß es mit Papas Angelegenheiten so schlecht steht, er wird gar nicht nach Italien reisen und gleich wieder nach Berlin zurück wollen. Und daraus kannst Du doch auch sehen, daß ich wirklich von Ben – von dem Menschen nichts mehr wissen will; er geht ja nach Berlin, da wären wir gleich wieder zusammen.

Das ist wahr, sagte die Baronin nachdenklich; Nanning, ich will Dir glauben, daß Du es ehrlich meinst. Was aber Deinen Mann betrifft, wenn der nicht nach Italien will von wegen, so überlaß das nur mir, ich werde es ihm schon klar machen. Und im Frühling kommt Ihr zurück und bleibt zu Hause, und ich besuche Dich auch, Nanning, und wir sehen uns mal zusammen Deine Wirtschaft an, während Dein Mann sein Malergeschäft betreibt und hübsch fleißig ist, wie's einer muß, der in Zukunft für Frau und Kinder allein zu sorgen hat wie andere rechtschaffene Männer. Vielleicht hat ihm das nur gefehlt, und so hätte die schlimme Geschichte für ihn und Euch noch ihr sehr Gutes.

Ach ja, sagte Nanni mit einem frommen Augenaufschlage, wenn Arnold wieder fleißig würde, wie er es in der ersten Zeit war, dann wollte ich gerne alles über mich ergehen lassen, so hart es auch ist. Aber, Tanting, die Sache ist: wovon sollen wir die teure Reise machen?

Die Baronin fing an, sich das Kleid über ihren Knieen glatt zu streichen.

Zuerst, sagte sie, habt Ihr Euer bares Reisegeld. Ich glaube, Dein Vater hat's Euch nur gegeben, damit es nicht mit in die Masse kam. Das ist nun, wie es ist, aber Ihr habt's einmal und könnt es nicht besser anwenden. Wieviel ist es noch?

Ich weiß es nicht, Arnold hat es immer eingeschlossen, ich habe mich nicht darum bekümmert.

Das ist schlimm genug; aber ungefähr wirst Du es doch wohl wissen?

Nanni schien nachzudenken.

Vielleicht sechstausend Francs, sagte sie.

Das wären in Preußisch-Courant ungefähr fünfzehnhundert Thaler – damit könnt Ihr schon ein gutes Ende reichen; natürlich, so dürft Ihr nicht leben wie hier. Und was Ihr hier verbraucht habt, geht auf meine Rechnung! kein Wort! – ich will's so – auch die Fahne, die Du da anhast, Nanning – ich hätt's ja nicht zu leiden brauchen, daß Du sie Dir noch zuguterletzt machen ließest – machen lassen mußtest – wenn ich Dich doch einmal nicht vorher auf den Trab brachte. – Fünfzehnhundert Thaler! Hm! hm! das ist eine schöne Summe. – Freilich, Ihr seid noch immer eine große Gesellschaft, auch ohne die Pilz. Die Kinder – das ist eine schwere Last – eine sehr schwere – hm! laß mal sehen – laß mal sehen –

Die Baronin saß und sann; jetzt glättete sie die letzte Falte mit einem energischen Strich und sagte aufblickend:

Nanning, was meinst Du: könntest Du Dich wohl entschließen, die Gören so lange von Dir zu geben – mir zu geben?

In Nannis Gesicht zuckte es.

Tanting! rief sie, Tanting! Du wolltest –

Still, ich frage, ob Du willst. Sieh, Nanning, es ist ja hart – Du bist, alles in allem, nur ein leichtsinniges Ding, aber die Kinder – na, na, na! Laß nur gut sein, laß nur gut sein!

Nanni hatte sich der Tante zu Füßen geworfen und ihren blonden Kopf in den Schoß derselben gedrückt. Die Baronin war selbst viel zu bewegt, um zu bemerken, daß ihrer Nichte Gesicht, trotz des Schluchzens und trotz der krampfhaften Zuckungen der Schultern, keine Spur von Thränen zeigte, als sie jetzt wieder aufschaute und, sich mit dem Taschentuche über die Augen fahrend, zögernd sagte:

Ich kann es Dir nicht zumuten, Tanting.

Dummer Schnack, sagte die Baronin, sich mit den umgekehrten Händen die nassen Wimpern trocknend, so was mutet man den Leuten nicht zu; so was thun die Leute, wenn sie sehen, daß es nicht anders geht. Es geht nicht anders, und ich bin die Nächste dazu. Und – und – es würde mir jetzt höllisch einsam sein in Granskewitz –

Sie blickte starr vor sich hin.

Ich denke. Du willst zur Hochzeit nach England? sagte Nanni leise.

Die Baronin fuhr aus ihrem Brüten auf.

Das gehört hier nicht her, sagte sie rauh; ich nehme die Kinder; damit gut.

Wenn Arnold es nur leiden wird, sagte Nanni.

Er wird schon müssen, liebes Kind.

Er ist so furchtbar mißtrauisch, Tanting; er ist im stande, zu glauben, wir haben das so untereinander abgesprochen, um ihm bange zu machen, daß er wieder ordentlich arbeitet. Vadding hat sich so gar nichts merken lassen, als er vor unserer Abreise bei uns in Berlin war und uns das Geld brachte, und wenn er jetzt nur selbst ein Wort geschrieben hätte, anstatt es Dir durch Deinen Advokaten schreiben zu lassen.

Aber Kind, rief die Baronin ärgerlich, kannst Du denn gar nicht einsehen, daß es Matthäi am letzten sein muß, wenn Dein Vater, der doch wahrhaftig nicht blöde ist, nicht mal mehr an Euch zu schreiben wagt, sondern sich an Pasedag wendet, den er immer seinen schlimmsten Feind nennt! Und was der alte Pasedag schreibt, darauf kann man sich verlassen, wie auf Gottes Wort. Ich begreife ja auch noch nicht ganz, wie es menschenmöglich gewesen, aber er hat nie genug haben können, Dein armer Vater, und nun die neumodischen Spekulationen! Das ist ein schlimm Ding, wenn man sich darauf einläßt, und versteht nichts davon, und ist dabei so eigensinnig wie Dein Vater, und glaubt immer, daß man das Gras wachsen hört. Sag' mal, Nanning, ist denn das Haus in Berlin eigentlich auf Deinen Namen geschrieben?

Nein; Vadding meinte immer, es sei nicht nötig, und Arnold kümmerte sich ja um so was nicht. Aber warum, Tanting? dann geht das Haus auch wohl mit fort?

Ja, liebes Kind, wenn es nicht auf Deinen Namen steht, dann sieht es schlimm aus. Dann werden Dir wohl nur Deine Sachen bleiben; Ihr sollt ja prachtvoll eingerichtet sein.

Es ist hernach noch so viel dazu gekommen, sagte Nanni; die Rechnungen habe ich immer an Vadding geschickt; wenn er sie nur bezahlt hat!

Ja, ging denn das Geld nicht durch Deine oder Deines Mannes Hände?

Vadding sagte immer, das sei seine Sache, und wurde immer so ärgerlich, wenn ich mal davon anfing.

O, Kind, Kind, das ist ja eine heillose Wirtschaft! rief die Baronin; das mußte ja ein Ende mit Schrecken nehmen. Na, na, laß nur gut sein, laß nur gut sein! Pasedag und ich müssen sehen, wie wir die Sache in den besten Schick bringen. So, Nanning, das wollte ich Dir noch einmal ans Herz – Herr des Himmels, die Leute unten warteten vorhin schon mit dem Essen. Und Du sollst Dich noch umziehen – ich will Dir –

Nein, Tanting, danke, sagte Nanni, ich komme schon allein zurecht; das Mädchen muß auch jeden Augenblick wieder hier sein. Setzt Euch nur immer hin! – Tanting! –

Die Baronin, die bereits an der Thür war, blieb stehen.

Tanting, hast Du ihr was davon gesagt?

Ihr? –ja so!

Die Baronin schüttelte den Kopf.

Wir sprechen kaum noch über ihre eigenen Angelegenheiten miteinander, über Deine schon lange nicht.

Und nicht wahr, Tanting, was der Herr Vogel da aufgebracht hat, daß Arnold und sie sich vorher gekannt haben sollen –

Ist dummes Zeug! sagte die Baronin ärgerlich.

Ach, Tanting, hätte ich doch nur Deinen Malte heiraten können! uns allen wäre jetzt besser.

Geschehene Dinge sind nicht zu ändern, murmelte die Baronin und machte die Thür hinter sich zu.

Nanni schob den Riegel vor und knöpfte ihr Reithabit wieder auf, aber nur, um sich zu überzeugen, daß das kleine Ledertäschchen, welches sie vorgestern, als die Pilz die Uhr vom Uhrmacher zurückbrachte, aus der Kassette genommen, noch an seinem Platze an der Innenseite des Korsetts war. Es schien ein halbes Wunder, daß er das Verschwinden des Täschchens noch nicht entdeckt hatte. Sie war darauf vorbereitet gewesen. Sie würde ruhig gesagt haben: nachdem er einmal den Schlüssel habe liegen lassen, könne es auch zum zweitenmal geschehen, und sie habe ihn schon oft gebeten, das Geld bei sich zu tragen, und wolle es jetzt anstatt seiner thun. Nun war das nicht mehr nötig; nun würde er die Entdeckung nicht eher machen, als bis sie fort war. Die Flucht hatte erst von unterwegs stattfinden sollen, wo Benvenuto, der natürlich nicht nach Berlin ging, sondern ihnen heimlich folgte, für die passende Gelegenheit sorgen sollte. Und sie hatte sehr stark gehofft, diese Gelegenheit werde sich bereits in Genf finden, und deshalb nicht, wie sie eben der Tante und auch ihrem Manne gesagt, die Sachen nach Mailand, sondern bloß bis Genf vorausgeschickt, und wohlbedacht den Schein in ihrem Portemonnaie behalten. Das mußte, gelang die Flucht in Genf nicht, sofort herauskommen; aber an Erklärungen, Ausflüchten in solchen Fällen hatte es ihr nie gefehlt.

So hatten sie und Benvenuto sich die Sache noch gestern Abend vorgestellt, als sie nach dem Diner, welches Lady Ballycastle in ihren Räumen der ganzen Gesellschaft gegeben, während Arnold und Angela am Flügel konzertierten, auf ein paar Minuten in der Fensternische des Salons sich heimlich sprechen durften; jetzt war es mit einem so zahmen Plane nichts mehr; es mußte heute noch geschehen, oder es geschah nie. Sie war vor Schreck fast vom Pferde gefallen, als Arnold, schon dicht vor Glion, an ihre Seite geritten kam und ihr in halblautem Tone Dinge sagte – Dinge! Ob Jean oder die Pilz sie verraten, das hatte sie nicht recht begriffen – so viel stand fest: von diesem Augenblick war Benvenuto und, was ein gut Teil schlimmer, war sie ihres Lebens vor dem Wütenden nicht mehr sicher. Und, was sie noch immer gehofft, daß sie ihm, kam es zum äußersten, seine Intrigue mit Angela vorhalten könnte – es wollte ja, schien es, trotzdem sie und Benvenuto völlig überzeugt waren, kein Mensch daran glauben: die Tante nicht – sie hatte es ja noch eben deutlich ausgesprochen – Lady Ballycastle nicht, welche die Pilz durch Miß Flinch hatte sondieren müssen, und die gesagt hatte, wenn keine besseren Beweise da wären, mit solchen Klatschereien dürfe man dem Herrn Kapitän nicht kommen; und als sie vorhin Herrn Swift die Andeutungen gemacht, schien der gar nicht zu verstehen, was sie meinte, trotzdem sie doch recht verständlich gesprochen – die Menschen waren eben blind, aber das half nun nichts: damit war im entscheidenden Augenblick, der noch heute abend kommen konnte – ganz sicher kommen würde, nichts zu machen. – Ein kalter Schauder überlief sie.

Was sollte sie thun? Sollte sie, während die anderen zu Tische gingen, sich aus dem Hause stehlen, nach Montreux hinablaufen und von dort zu entkommen suchen? Aber der Zug Bex- Lausanne-Genf – sie hatte vorhin das Mädchen, welches sie bediente, und das glücklicherweise deutsch sprach, ausgefragt und wußte nun von allem genau Bescheid – passierte erst um 4 Uhr 20 Minuten Montreux. Das war viel zu spät: man würde fragen, ihr nachsetzen, sie noch auf dem Wege einholen, auf dem Bahnhofe abfassen – es ging nicht. Und dann, wenn es ging, wenn sie selbst nach Paris, das ihr erstes Ziel sein sollte, entkam, würde Benvenuto nachkommen? So sicher war sie Benvenutos nicht, und was sollte sie ohne ihn in der weiten Welt anfangen? Ihre achttausend Francs – es waren achttausend und nicht sechs-, wie sie der Tante gesagt – würden schnell genug zu Ende sein – nein, ohne Benvenuto nicht, aber wie – wie mit ihm?

Und auch, was Benvenuto betraf, war kein Augenblick zu verlieren. Noch hatte er keine leiseste Ahnung von dem, was geschehen war; noch hielt er ihren Vater für das, wofür sie ihn selbst bis vor drei Tagen gehalten: für einen reichen Mann, der in alles, was sie von ihm verlangte, willigen würde, auch in ihre Scheidung von dem ihm so verhaßten Schwiegersohn, um den neuen mit offenen Armen zu empfangen und ihm natürlich hinterher das viele Geld, das die Geschichte gekostet, bei jeder Gelegenheit vorzurücken. Sie hatte schon im voraus so gelacht, wenn sie sich die Scenen vorstellte: das höhnisch-grimmige Gesicht von Vadding und die dumm-verlegene Miene von Benvenuto! Das würde ja nun nimmer sein; sie hatte noch bis heute nicht recht glauben mögen, daß die Schreckensnachrichten der Tante in ihrem ganzen Umfange begründet seien; jetzt zweifelte sie nicht mehr, und jetzt mußte Benvenuto vor dem Risse stehen, womöglich auch noch Vadding durchfüttern, und Vadding hatte immer einen guten Appetit gehabt!– Benvenuto würde sich schön für die Aussicht bedanken, obgleich er ja hinterher froh sein könnte, daß er nicht auch noch die Kinder in den Kauf bekam! Die hatten ihr in den letzten Tagen doch ein bißchen schwer auf der Seele gelegen. Die Kinder machten sich nichts aus ihr – das wußte sie ja – und wenn man das weiß und stündlich sieht, ist es so schwer, sich aus den Kindern was zu machen! – aber irgendwo mußten sie doch bleiben, und wie sollte Arnold, wenn er kein Geld verdiente, die hungrigen Münder stopfen! Also würden sie doch ihr, trotzdem sie der schuldige Teil, zugefallen sein. Nun gingen sie vorläufig mit Tanting nach Granskewitz, und später – was später werden sollte, darüber wollte sie in Paris nachdenken. Das entzückende Paris – es war ihre große Schwärmerei. Sie waren auf ihrer Hochzeitsreise da gewesen – zwei Wochen – die französischen Maler, die Arnold so fetierten, hatten ihm alle zugeredet, länger zu bleiben, womöglich ganz und gar, und sie wäre so gern geblieben! Es war so wunderschön und so amüsant, trotzdem sie die Leute nicht verstand. Und die Herren Kollegen von Arnold waren so galant gegen sie gewesen, besonders der Monsieur Alfons de – irgend etwas mit oille – und sie war überzeugt, daß Arnold nur aus Eifersucht gegen den Monsieur Alfons so schnell wieder abgereist war! Und nun mit ihrem lieben Hasenfuß, der so brillant französisch sprach und alle Welt in Paris kannte, auf den Straßen zu flanieren – vor den schönen Läden, in denen er ihr die schönsten Hüte kaufen würde – alles – er würde gewiß furchtbar viel Geld verdienen – nein, sie mußte hin, sie wollte hin, und wenn sie geradezu weglaufen sollte – es würde sich schon eine Gelegenheit finden – auf der Promenade nach Tisch – im Walde – nur beileibe sich nichts merken lassen! lustig sein, kreuzfidel, mochte Arnold noch so wilde Augen machen. Wie sie ihn haßte! wie er das schändliche Wort, das er ihr vorhin in das Gesicht geworfen, büßen sollte! wie sie ihm den Aerger – denn ärgern würde es ihn doch furchtbar – so recht von ganzem Herzen gönnte! Es war rein zum Lachen, wenn sie sich das vorstellte –

So schwirrte, wirbelte es durch Nannis Kopf, während sie auf das Mädchen wartete, das trotz all ihres Klingelns nicht wiederkam, und inzwischen mit halbaufgeknöpftem Reithabit sich die Hände und das Gesicht wusch und ihre Haare, so gut es gehen wollte, arrangierte. Endlich!

Aber es war Angela, welche die Baronin gebeten hatte, sich doch einmal nach der Säumigen umzusehen.

Von selbst wären Sie freilich nicht gekommen, sagte Nanni und machte dabei einen Mund wie ein weinendes Kind.

Bleiben Sie, wie Sie sind, sagte Angela.

Sie haben gut reden mit Ihrem hübschen, eleganten Promenadenkleide.

Das mir gewiß nicht so gut steht wie Ihnen Ihr Reitkleid.

Wenn Sie die Verantwortung übernehmen wollen? sagte Nanni mit einem Blicke in den Spiegel.

Ja, ja!

Sie Gute, Einzige!

Sie wollte Angela um den Hals fallen; Angela wehrte ab.

Lassen Sie sich doch ein bißchen von mir lieb haben!

Lassen Sie mich Ihnen lieber ein wenig helfen!

Ein paar Minuten später traten die beiden Damen Arm in Arm in den Speisesaal zu der Gesellschaft, welche der zierlich gedeckte Tisch bereits seit einer Stunde erwartete.


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