Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Außerhalb der Pseudomorphose und um so kräftiger, je geringer die Macht antiken Geistes im Lande liegt, drängen alle Formen einer echten Ritterzeit hervor. Scholastik und Mystik, Lehnstreue, Minnesang, Kreuzzugsbegeisterung – das war alles in den ersten Jahrhunderten der arabischen Kultur vorhanden, man muß es nur zu finden wissen. Es gibt auch nach Septimius Severus noch dem Namen nach Legionen, aber sie sehen im Osten aus wie das Gefolge eines Herzogs; Beamte werden ernannt, aber eigentlich hat man einem Grafen ein Lehen übertragen; während der Cäsarentitel im Westen in die Hände von Häuptlingen fällt, verwandelt sich der Osten in ein frühes Kalifat, das mit dem Lehnsstaat der reifen Gotik die erstaunlichste Ähnlichkeit hat. Im Sassanidenreich, im Hauran, in Südarabien bricht eine echte Ritterzeit an. Ein König von Saba, Schamir Juharisch, lebt wie Roland und König Artus durch seine Heldentaten in der arabischen Sage fort, die ihn durch Persien bis nach China ziehen läßt.Schiele, Die Religion in Geschichte und Gegenwart I, 647. Das Reich von Ma?ân im ersten vorchristlichen Jahrtausend bestand neben dem israelitischen und läßt sich in seinen Überresten mit Mykene und Tiryns vergleichen; die Spuren reichen tief nach Afrika hinein.Bent, The sacred City of the Ethiopians (London 1893), S. 134 ff. über die Trümmer von Jeha, deren südarabische Inschriften Glaser in das 7.–5. Jahrh. v. Chr. setzt. D. H. Müller, Burgen und Schlösser Südarabiens (1879). Jetzt aber erblüht in ganz Südarabien und selbst im abessinischen Gebirge die Feudalzeit.Grimme, Mohammed, S. 26 ff. In Axum entstehen in frühchristlicher Zeit mächtige Schlösser und die Königsgräber mit den größten Monolithen der Welt.Deutsche Aksum-Expedition (1913), Bd. II. Hinter den Königen steht ein Lehnsadel der Grafen (kail) und Statthalter (kabir), Vasallen von oft zweifelhafter Treue, deren großer Besitz die Hausmacht der Könige mehr und mehr einengt. Die endlosen christlich-jüdischen Kriege zwischen Südarabien und dem Reich von AxumVon Persien führt eine uralte Völkerstraße über die Meerengen von Ormus und Bab el Mandeb durch Südarabien nach Abessinien und dem Nil. Sie ist geschichtlich wichtiger als die nördliche über die Landenge von Suez. haben ritterlichen Charakter und lösen sich oft in Einzelfehden auf, die von den Baronen von deren Burgen aus geführt werden. In Saba herrschen die – später christlichen – Hamdaniden. Hinter ihnen steht das christliche und mit Rom verbündete Reich von Axum, das um 300 vom weißen Nil bis zur Somaliküste und dem persischen Golf reicht und 525 die jüdischen Himjariten stürzt. 542 fand hier der Fürstenkongreß von Marib statt, auf dem Byzanz und Persien durch Gesandte vertreten waren. Noch heute liegen überall im Lande die zahllosen Ruinen mächtiger Schlösser, von denen man in islamischer Zeit sich nur denken konnte, daß sie von Geisterhänden erbaut seien. Die Burg Gomdan war eine Festung von zwanzig Stockwerken.Grimme, S. 43; Abbildung der ungeheuren Ruine von Gomdan S. 81. Vgl. auch die Rekonstruktionen im deutschen Aksumwerk.

Im Sassanidenreich herrschte die Ritterschaft der Dinkane, und der glänzende Hof dieser »Staufenkaiser« des frühen Ostens ist in jedem Betracht für den byzantinischen seit Diokletian vorbildlich geworden. Noch viel später wußten die Abbassiden in ihrer neugegründeten Residenz Bagdad nichts Besseres, als das Sassanidenideal eines höfischen Lebens in großer Form nachzuahmen. In Nordarabien entwickelte sich an den Höfen der Ghassaniden und Lachmiden eine echte Troubadour- und Minnepoesie, und ritterliche Dichter fochten zur Kirchenväterzeit »mit Wort, Lanze und Schwert« ihre Wettkämpfe aus. Darunter war auch ein Jude, Samuel, Burgherr auf Al Ablaq, der um fünf kostbarer Panzer willen eine Belagerung durch den König von El Hira aushielt.Brockelmann, Gesch. d. arab. Lit., S. 34. Dieser Lyrik gegenüber ist die spätarabische, wie sie seit 800 namentlich in Spanien blühte, nichts als Romantik, die zu jener altarabischen Kunst in ganz demselben Verhältnis steht wie Uhland und Eichendorff zu Walther von der Vogelweide.

Für diese junge Welt der ersten nachchristlichen Jahrhunderte hatten unsere Altertumsforscher und Theologen keinen Blick. Mit den Zuständen des spätrepublikanischen und kaiserlichen Roms beschäftigt, sehen sie hier nur primitive und jedenfalls unbedeutende Verhältnisse. Aber die Partherscharen, die wieder und wieder gegen römische Legionen anritten, waren ritterlich begeisterte Mazdaisten. Es lag Kreuzzugsstimmung über ihren Heeren. So hätte es mit dem Christentum werden können, wenn es nicht ganz der Pseudomorphose verfallen wäre. Die Stimmung war auch hier vorhanden. Tertullian sprach von der militia Christi und das Sakrament wurde als Fahneneid bezeichnet. In den späteren Heidenverfolgungen war Christus der Held, für den sein Gefolge zu Felde zog, aber einstweilen gab es statt christlicher Ritter und Grafen römische Legaten und statt der Schlösser und Turniere diesseits der römischen Grenze nur Lager und Hinrichtungen. Aber trotzdem war es ein echter Kreuzzug der Juden und kein eigentlicher Partherkrieg, der 115 unter Trajan losbrach und in dem als Vergeltung für die Zerstörung von Jerusalem die ganze ungläubige – »griechische« – Bevölkerung von Cypern, angeblich 240000 Menschen, niedergemacht wurde. Nisibis ist damals in einer vielbewunderten Belagerung von Juden verteidigt worden. Das kriegerische Adiabene war ein Judenstaat. In allen Parther- und Perserkriegen gegen Rom haben die bäuerlich-ritterlichen Aufgebote der mesopotamischen Juden in der ersten Linie gefochten.

Aber nicht einmal Byzanz hat sich dem Geiste der arabischen Feudalzeit ganz entziehen können, die unter einer Schicht spätantiker Verwaltungsformen namentlich im Innern Kleinasiens zur Entstehung eines echten Lehnswesens führte. Es gab da mächtige Geschlechter, deren Vasallentreue unzuverlässig war und die alle den Ehrgeiz hatten, den byzantinischen Thron in ihren Besitz zu bringen. »Anfänglich an die Hauptstadt gebunden, die nur mit Erlaubnis des Kaisers verlassen werden durfte, saß dieser Adel später auf seinen weitgedehnten Domänen in der Provinz und bildete seit dem 4. Jahrhundert als Provinzaristokratie einen wirklichen Stand, der im Laufe der Zeit für sich eine gewisse Unabhängigkeit von der kaiserlichen Macht beanspruchte.«Roth, Sozial- und Kulturgesch. d. Byzant. Reiches, S. 15.

Das »römische Heer« hat sich im Osten in weniger als zwei Jahrhunderten aus einer modernen Armee in ein Ritterheer zurückverwandelt. Die römische Legion ist durch die Maßnahmen der Severer um 200 verschwunden.Delbrück, Geschichte der Kriegskunst II, S. 222. Im Westen sanken sie zu Horden herab; im Osten entstand im 4. Jahrhundert ein spätes, aber echtes Rittertum. Den Ausdruck gebraucht schon Mommsen, ohne seine Tragweite zu erkennen.Gesammelte Schriften IV, S. 532. Der junge Adlige erhielt eine sorgfältige Ausbildung im Einzelkampf, zu Pferde, mit Bogen und Lanze. Kaiser Gallienus, der Freund Plotins und Erbauer der Porta Nigra, eine der bedeutendsten und unglücklichsten Erscheinungen aus der Zeit der Soldatenkaiser, bildete um 260 aus Germanen und Mauren eine neue Art von berittener Truppe, seine Gefolgstreuen. Es ist bezeichnend, daß in der Religion des römischen Heeres die alten Stadtgottheiten zurücktreten und unter den Namen des Mars und Herkules die germanischen Götter des persönlichen Heldentums an die Spitze gelangen.A. v. Domaszewski, Die Religion des römischen Heeres, S. 49. Die palatini Diokletians sind nicht ein Ersatz für die von Septimius Severus aufgelösten Prätorianer, sondern ein kleines wohldiszipliniertes Ritterheer, während die comitatenses, das große Aufgebot, in numeri, »Fähnlein« geordnet werden. Die Taktik ist die einer jeden Frühzeit, welche auf persönliche Tapferkeit stolz ist. Der Angriff erfolgt in der germanischen Form des Gevierthaufens (»Eberkopfes«). Unter Justinian ist das der Zeit Karls V. genau entsprechende System der Landsknechte voll ausgebildet, die von Kondottieribuccellarii, Delbrück II S. 354. in der Art Frundsbergs angeworben werden und unter sich Landsmannschaften bilden. Der Zug des Narses wird von ProkopGotenkrieg IV, 26. ganz wie die großen Werbungen Wallensteins beschrieben.

Aber daneben erscheint in diesen frühen Jahrhunderten auch eine prachtvolle Scholastik und Mystik magischen Stils, die an den berühmten Hochschulen des gesamten aramäischen Gebiets zu Hause ist: den persischen von Ktesiphon, Resain, Dschondisabur, den jüdischen von Sura, Nehardea und Pumbadita, denen anderer »Nationen« von Edessa, Nisibis, Kinnesrin. Hier sind die Hauptsitze einer blühenden Astronomie, Philosophie, Chemie und Medizin, aber nach Westen hin wird diese große Erscheinung durch die Pseudomorphose verdorben. Was magischen Ursprungs und Geistes ist, geht zu Alexandria und Beirut in die Formen griechischer Philosophie und römischer Rechtswissenschaft über; es wird in antiken Sprachen niedergeschrieben, in fremde und längst erstarrte Literaturformen gepreßt und durch die greisenhafte Denkweise einer ganz anders angelegten Zivilisation verfälscht. Damals und nicht mit dem Islam beginnt die arabische Wissenschaft. Aber weil unsere Philologen nur das entdeckten, was in spätantiker Fassung in Alexandria und Antiochia erschien, und von dem ungeheuren Reichtum der arabischen Frühzeit und den wirklichen Mittelpunkten ihres Forschens und Schauens nichts ahnten, konnte die absurde Meinung entstehen, »die Araber« seien geistige Epigonen der Antike gewesen. In Wirklichkeit ist so gut wie alles, was – von Edessa aus gesehen – jenseits der Philologengrenze dem heutigen Auge als Frucht spätantiken Geistes gilt, nichts als der Widerschein früharabischer Innerlichkeit. Damit stehen wir vor der Pseudomorphose der magischen Religion.


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