Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Ein Blick über die Gruppe der Kulturen erschließt Aufgaben über Aufgaben. Das 19. Jahrhundert, dessen Geschichtsforschung von der Naturwissenschaft, dessen Geschichtsdenken von den Ideen des Barock geleitet wurde, hat uns nur auf einen Gipfel geführt, von dem wir die neue Welt zu unsern Füßen sehen. Werden wir je von ihr Besitz ergreifen?

Die ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung jener großen Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß es an ernsthaften Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt. Es zeigt sich wieder der herrische Blick des Westeuropäers, der nur erfassen will, was von irgend einem Altertum her über ein Mittelalter sich ihm nähert, und alles, was seine eignen Wege geht, mit halbem Ernst behandelt. In der chinesischen und indischen Welt sind soeben einige Gebiete: Kunst, Religion und Philosophie, in Angriff genommen worden. Die politische Geschichte wird, wenn überhaupt, im Plauderstil vorgetragen. Niemand denkt daran, die großen staatsrechtlichen Probleme der chinesischen Geschichte, das Hohenstaufenschicksal des Li-wang (842), den ersten Fürstenkongreß von 659, den Kampf zwischen den Prinzipien des von dem »Römerstaate« Tsin vertretenen Imperialismus (lienheng) und der Völkerbundidee (hohtsung) zwischen 500 und 300, den Aufstieg des chinesischen Augustus Hoang-ti (221) mit derselben Gründlichkeit zu behandeln, wie es Mommsen mit dem Prinzipat des Augustus getan hat. Die Staatengeschichte Indiens mag noch so gründlich von den Indern vergessen sein, aus der Zeit Buddhas liegt trotzdem mehr Material vor als aus der antiken Geschichte im 9. und 8. Jahrhundert, aber wir tun noch heute, als hätte »der« Inder ganz in seiner Philosophie gelebt wie die Athener, welche nach der Ansicht unsrer Klassizisten ihr Leben, an den Ufern des Ilissos philosophierend, in Schönheit verbrachten. Aber auch über die ägyptische Politik ist kaum nachgedacht worden. Hinter den Namen der Hyksoszeit haben die späten ägyptischen Historiker dieselbe Krisis verborgen, welche die chinesischen als »Zeit der kämpfenden Staaten« behandeln. Das hat noch niemand untersucht. Und in der arabischen Welt reicht das Interesse genau so weit wie das antike Sprachgebiet. Was ist nicht über die Staatsschöpfung Diokletians geschrieben worden! Und was für ein Material hat man etwa über die ganz gleichgültige Verwaltungsgeschichte der kleinasiatischen Provinzen zusammengetragen – weil es griechisch geschrieben war! Aber das Vorbild Diokletians in jeder Beziehung, der Sassanidenstaat, fällt nur insoweit in den Kreis der Betrachtung, als er gerade Krieg mit Rom führte. Wie steht es aber mit dessen eigener Verwaltungs- und Rechtsgeschichte? Was ist über Recht und Wirtschaft in Ägypten, Indien und China gesammelt worden, das sich neben den Arbeiten über antikes Recht halten könnte?Es fehlt ebenso an einer Geschichte der Landschaft (also des Bodens, der Pflanzendecke und der Witterung), in der sich die Menschengeschichte seit fünftausend Jahren abgespielt hat. Aber die Menschengeschichte ringt sich so schwer von der Geschichte der Landschaft ab und bleibt mit tausend Wurzeln mit ihr so tief verbunden, daß man ohne sie das Leben, die Seele, das Denken gar nicht verstehen kann. Was die Landschaft Südeuropas betrifft, so macht seit dem Ende der Eiszeit ein unbändiger Überfluß der Pflanzenwelt allmählich der Dürftigkeit Platz. In der Folge der ägyptischen, antiken, arabischen und abendländischen Kultur hat sich um das Mittelmeer herum eine Wandlung des Klimas vollzogen, wonach der Bauer aus dem Kampf gegen die Pflanzenwelt in den für sie eintreten mußte, erst gegen den Urwald, dann gegen die Wüste sich behauptend. Die Sahara lag zur Zeit Hannibals weit im Süden von Karthago, heute dringt sie bereits in das nördliche Spanien und Italien ein; wo war sie zur Zeit der ägyptischen Pyramidenbauer mit den Wald- und Jagdbildern auf ihren Reliefs? Als die Spanier die Moriskos vertrieben, erlosch der nur noch künstlich aufrecht erhaltene Charakter des Landes als einer Wald- und Ackerlandschaft. Die Städte wurden Oasen in der Wüste. Zur Römerzeit hätte das keine derartige Folge gehabt. Um 3000Die neue Methode der vergleichenden Morphologie gestattet eine sichere Nachprüfung der bis jetzt mit ganz andern Mitteln versuchten Zeitansätze alter Kulturen. Aus demselben Grunde, weshalb man auch bei Verlust aller andern Nachrichten Goethes Geburt nicht hundert Jahre vor den Urfaust verlegen oder in der Laufbahn Alexanders des Großen die eines älteren Mannes vermuten würde, kann man aus einzelnen Zügen des Staatslebens, dem Geist von Kunst, Denken und Religion beweisen, daß der Anbruch der ägyptischen Kultur um 3000 und der chinesischen um 1400 erfolgt ist. Die Berechnungen französischer Forscher und neuerdings von Borchardt (Die Annalen und die zeitliche Festlegung des Alten Reiches, 1917) sind von vornherein ebenso verfehlt wie die chinesischer Historiker über die Dauer der fabelhaften Hia- und Schang-Dynastien. Ebenso ist es völlig unmöglich, daß der ägyptische Kalender im Jahre 4241 eingeführt worden ist. Wie bei jeder Zeitrechnung hat man eine Entwicklung mit tiefgreifenden Kalenderreformen anzunehmen, womit der Begriff eines Anfangsdatums überhaupt gegenstandslos wird. setzen nach einer langen »Merowingerzeit«, die in Ägypten noch deutlich übersehbar ist, die beiden ältesten Kulturen in äußerst kleinen Gebieten am unteren Nil und Euphrat ein. Früh- und Spätzeit sind hier längst durch die Namen Altes und Mittleres Reich, Sumer und Akkad unterschieden worden. Der Ausgang der ägyptischen Feudalzeit zeigt mit seiner Entstehung eines Erbadels und dem dadurch bedingten Verfall des frühen Königtums seit der sechsten Dynastie eine so erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Verlauf der Dinge in der chinesischen Frühzeit seit I-wang (934–909) und der abendländischen seit Kaiser Heinrich IV., daß eine vergleichende Untersuchung einmal gewagt werden sollte. Am Anfang des babylonischen »Barock« erscheint der große Sargon (2300), der bis ans Mittelmeer vordringt, Cypern erobert und sich im Geschmack Justinians I. und Karls V. den »Herrn der vier Weltteile« nennt. Am Nil um 1800, in »Akkad und Sumer« etwas früher, beginnen nun auch die ersten Zivilisationen, von denen die asiatische eine gewaltige Expansionskraft zeigt. Die »Errungenschaften der babylonischen Zivilisation«, vieles, was mit Messen, Zählen, Rechnen zusammenhängt, ist von da an vielleicht bis zur Nordsee und zum Gelben Meer getragen worden. Manche babylonische Fabrikmarke an einem Werkzeug mag da von germanischen Wilden als Zauberzeichen verehrt und zum Ursprung eines »urgermanischen« Ornaments geworden sein. Aber indessen ging die babylonische Welt selbst aus einer Hand in die andere. Kossäer, Assyrer, Chaldäer, Meder, Perser, Makedonier, lauter kleineEd. Meyer hat Gesch. d. A. III, 97, das kleine Perservolk, vielleicht noch zu hoch, auf eine halbe Million im Verhältnis zu den fünfzig Millionen des babylonischen Imperiums berechnet. Ein Größenverhältnis derselben Ordnung besteht zwischen den Germanenvölkern und den Legionen der Soldatenkaiser des 3. Jahrh. der römischen, und den Truppen der Ptolemäer und Römer der ägyptischen Bevölkerung gegenüber. Heerhaufen mit einem kräftigen Führer an der Spitze, haben sich da in der Hauptstadt abgelöst, ohne daß die Bevölkerung sich ernsthaft dagegen wehrte. Das ist das erste Beispiel einer »römischen Kaiserzeit«. In Ägypten entwickelten sich die Dinge nicht anders. Unter den Kossäern setzen die Prätorianer dort die Herrscher ein und ab; die Assyrer haben wie die Soldatenkaiser seit Commodus die alten staatsrechtlichen Formen aufrecht erhalten; der Perser Kyros und der Ostgote Theoderich haben sich als Reichsverweser gefühlt, Meder und Langobarden als Herrenvölker im fremden Lande. Aber das sind staatsrechtliche, nicht tatsächliche Unterschiede. Die Legionen des Afrikaners Septimius Severus wollten genau dasselbe wie Alarichs Westgoten, und in der Schlacht bei Adrianopel waren »Römer« und »Barbaren« kaum noch zu unterscheiden.

Seit 1500 entstehen drei neue Kulturen, zuerst die indische im oberen Pendschab, um 1400 die chinesische am mittleren Hoangho, um 1100 die antike am Ägäischen Meere. Wenn die chinesischen Historiker von den drei großen Dynastien – Hia, Schang, Dschou – reden, so entspricht das etwa der Meinung Napoleons, der sich als den Begründer der vierten Dynastie nach den Merowingern, Karolingern und Capetingern bezeichnete. In Wirklichkeit hat jedesmal die dritte den ganzen Verlauf der Kultur miterlebt. Als 441 der Titularkaiser der Dschou-Dynastie zum Staatspensionär des »östlichen Herzogs« und als 1792 »Louis Capet« hingerichtet wurde, ging jedesmal auch die Kultur zur Zivilisation über. Aus der letzten Schangzeit haben sich einige hochaltertümliche Bronzen erhalten, die zur späteren Kunst in demselben Verhältnis stehen wie die mykenische zur frühantiken Keramik und die karolingische Kunst zur romanischen. Die vedische, homerische und chinesische Frühzeit zeigen mit ihren Pfalzen und Burgen, mit Rittertum und Feudalherrschaft das ganze Bild der Gotik, und die »Zeit der großen Protektoren« (Ming-dschu 685–591) entspricht durchaus der Zeit Cromwells, Wallensteins, Richelieus und der älteren antiken Tyrannis.

480–230 setzen die chinesischen Historiker die »Zeit der kämpfenden Staaten« an, die zuletzt in eine hundertjährige ununterbrochene Folge von Kriegen mit Massenheeren und furchtbaren sozialen Erschütterungen auslief und aus welcher der Römerstaat Tsin als Begründer des chinesischen Imperiums hervorging. Das erlebte Ägypten 1800–1550 (seit 1675 die »Hyksoszeit«), die Antike von Chäronea und in furchtbarster Form von den Gracchen an bis Actium (133–31); es ist das Schicksal der westeuropäisch-amerikanischen Welt im 19. und 20. Jahrhundert.

Der Schwerpunkt wird unterdessen, wie von Attika nach Latium, von Hoangho (bei Ho-nan-fu) zum Jangtsekiang (heute Provinz Hupei) verlegt. Der Sikiang war den chinesischen Gelehrten damals so undeutlich wie den alexandrinischen die Elbe, und von der Existenz Indiens hatten sie noch keine Ahnung.

Wie auf der andern Seite der Weltkugel die Kaiser des julisch-claudischen Hauses, erscheint hier der gewaltige Wang-dscheng, der in den Entscheidungskämpfen Tsin zur Alleinherrschaft führt und 221 den Titel Augustus (»Schi« bedeutet genau dasselbe) und den Cäsarennamen Hoang-ti annimmt. Er begründet den »chinesischen Frieden«, führt in dem erschöpften Imperium seine große Sozialreform durch und beginnt bereits, ganz römisch, den Bau des chinesischen Limes, der berühmten Mauer, für die er 214 einen Teil der Mongolei erobert. (Bei den Römern beginnt sich seit der Varusschlacht der Begriff einer feststehenden Grenze gegen die Barbaren zu bilden; die Befestigungen sind dann noch im 1. Jahrhundert angelegt worden.) Er hat auch als der erste in großen Kriegszügen die barbarischen Stämme südlich des Jangtsekiang unterworfen und das Gebiet durch Militärstraßen, Ansiedlungen und Kastelle gesichert. Ebenso römisch ist aber auch die Familiengeschichte seines Hauses, das in neronischen Greueln rasch zu Ende ging, in denen der Kanzler Lui-schi, der erste Gatte der Kaisermutter, und der große Staatsmann Li-sze, der Agrippa seiner Zeit und Begründer der chinesischen Einheitsschrift, eine Rolle spielten. Es folgen die beiden Han-Dynastien (die westliche 206 v. – 23 n., die östliche 25–220), unter denen die Grenze sich immer weiter ausdehnte, während in der Hauptstadt Eunuchenminister, Generale und Soldaten die Herrscher ihrer Wahl ein- und absetzten. Es sind seltsame Augenblicke, als unter den Kaisern Wu-ti (140–86) und Ming-ti (58–76) die chinesisch-konfuzianische, die indisch-buddhistische und die antik-stoische Weltmacht sich dem Kaspischen Meer so weit genähert hatten, daß eine Berührung leicht hätte eintreten können.Denn selbst Indien hatte damals imperialistische Tendenzen in der Maurya- und Sunga-Dynastie zum Ausdruck gebracht, die bei dem ganzen indischen Wesen nur wirr und folgenlos sein konnten.

Der Zufall hat es gefügt, daß die schweren Angriffe der Hunnen sich damals an dem chinesischen Limes brachen, der gerade jedesmal durch einen kräftigen Kaiser verteidigt wurde. Die entscheidende Niederlage der Hunnen erfolgte 124–119 durch den chinesischen Trajan Wu-ti, der auch Südchina endgültig einverleibte, um einen Weg nach Indien zu bekommen, und der eine ungeheure, festungsartig gesicherte Militärstraße nach dem Tarim baute. Sie wandten sich endlich nach dem Westen und erschienen später, mit einem Schwarm germanischer Stämme vor sich her, vor dem römischen Grenzwall. Hier gelang es ihnen. Das römische Imperium ging zugrunde, und die Folge war, daß nur das chinesische und indische Imperium noch heute bestehen als bevorzugte Objekte immer wechselnder Gewalten. Heute sind es die »rothaarigen Barbaren« des Westens, die in den Augen der hochzivilisierten Brahmanen und Mandarinen keine andere und bessere Rolle spielen als die Moguln und Mandschu, und die ebenfalls ihre Nachfolger finden werden. Auf dem Kolonisationsgebiet des zerstörten römischen Imperiums bereitete sich dagegen im Nordwesten die Vorkultur des Abendlandes vor, während sich im Osten bereits die arabische Frühzeit entwickelt hatte.

Diese arabische Kultur ist eine Entdeckung.Vgl. Bd. II, Kap. III. Ihre Einheit ist von späten Arabern geahnt worden, den abendländischen Geschichtsforschern aber so völlig entgangen, daß nicht einmal eine gute Bezeichnung für sie aufzufinden ist. Der herrschenden Sprache nach könnte man Vorkultur und Frühzeit aramäisch, die Spätzeit arabisch nennen. Einen wirklichen Namen gibt es nicht. Die Kulturen lagen hier dicht beieinander und deshalb haben sich die ausgedehnten Zivilisationen mehrfach übereinander geschichtet. Die arabische Vorzeit selbst, die sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation. Ägyptische und indische Zivilisation reichen fühlbar herüber. Arabischer Geist hat dann aber, meist in spätantiker Maske, seinen Zauber auf die beginnende Kultur des Abendlandes ausgeübt, und die arabische Zivilisation, die sich in der Seele des Volkes in Südspanien, der Provence und Sizilien über die heute noch nicht ganz erstorbene antike geschichtet hat, wurde das Vorbild, an dem gotischer Geist sich erzog. – Die zugehörige Landschaft ist merkwürdig ausgedehnt und zerrissen. Man muß sich nach Palmyra oder Ktesiphon versetzen und von da aus hineindenken: im Norden Osrhoëne; Edessa wurde das Florenz der arabischen Frühzeit. Im Westen Syrien und Palästina, wo das neue Testament und die jüdische Mischna entstanden, mit Alexandria als ständigem Vorposten. Im Osten erlebte der Mazdaismus eine gewaltige Erneuerung, welche der Geburt des Messias im Judentum entspricht und von der wir aus den Trümmern der Awestaliteratur nur schließen können, daß sie stattgefunden haben muß. Hier sind auch der Talmud und die Religion Manis entstanden. Tief im Süden, der künftigen Heimat des Islam, hat sich eine Ritterzeit voll entfalten können wie im Sassanidenreich. Noch heute liegen dort die Ruinen unerforschter Burgen und Schlösser, von denen aus die Entscheidungskriege zwischen dem christlichen Staat von Axum an der afrikanischen Küste und dem jüdischen der Himjariten an der arabischen geleitet wurden, die man von Rom und Persien aus diplomatisch schürte. Im äußersten Norden liegt Byzanz mit seinem sonderbaren Gemisch spätzivilisierter antiker und früher ritterlicher Formen, das sich vor allem in der Geschichte des byzantinischen Heerwesens so verwirrend ausspricht. Der Islam hat dieser Welt endlich und viel zu spät das Bewußtsein der Einheit verliehen, und darauf beruht das Selbstverständliche seines Sieges, das ihm Christen, Juden und Perser fast willenlos zuführte. Aus dem Islam hat sich dann die arabische Zivilisation entwickelt, die in ihrer höchsten geistigen Vollendung stand, als vorübergehend die Barbaren des Abendlandes hereinbrachen und nach Jerusalem zogen. Wie mag sich dies Schauspiel in den Augen vornehmer Araber ausgenommen haben? Etwas bolschewistisch vielleicht? Für die Politik der arabischen Welt waren die Verhältnisse in »Frankistan« etwas, auf das man herabsah. Noch als während des Dreißigjährigen Krieges, der von hier aus betrachtet »im fernen Westen« vor sich ging, der englische Gesandte in Konstantinopel die Türkei gegen das Haus Habsburg aufzubringen versuchte, hat man dort sicherlich in dem Bewußtsein gehandelt, daß diese kleinen Raubstaaten am Horizont der arabischen Welt für die großen Verhältnisse der Politik von Marokko bis nach Indien kaum in Betracht kämen. Eine Ahnung von der Zukunft werden weite Kreise selbst bei der Landung Napoleons in Ägypten noch nicht gehabt haben.

Inzwischen war in Mexiko eine neue Kultur entstanden. Sie liegt so weit von allen andern entfernt, daß keine Kunde je hinüber und herüber gedrungen ist. Um so erstaunlicher ist die Ähnlichkeit ihrer Entwicklung mit der antiken. Das wird die Philologen mit Entsetzen erfüllen, wenn sie vor diesen Teocallis an ihre dorischen Tempel denken, und doch ist es gerade ein antiker Zug, der mangelnde Wille zur Macht in der Technik, der die Art der Bewaffnung bestimmt und damit die Katastrophe möglich gemacht hat.

Denn diese Kultur ist das einzige Beispiel für einen gewaltsamen Tod. Sie verkümmerte nicht, sie wurde nicht unterdrückt oder gehemmt, sondern in der vollen Pracht ihrer Entfaltung gemordet, zerstört wie eine Sonnenblume, der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt. Alle diese Staaten, darunter eine Weltmacht und mehr als ein Staatenbund, deren Größe und Mittel denen der griechischrömischen Staaten zur Zeit Hannibals weit überlegen waren, mit ihrer gesamten hohen Politik, mit sorgfältig geordnetem Finanzwesen, hochentwickelter Gesetzgebung, mit Verwaltungsgedanken und wirtschaftlichen Gewohnheiten, wie sie die Minister Karls V. nie begriffen hätten, mit reichen Literaturen in mehreren Sprachen, einer durchgeistigten und vornehmen Gesellschaft in großen Städten, wie das Abendland damals keine einzige aufzuweisen hatte – das alles wurde nicht etwa durch einen verzweifelten Krieg gebrochen, sondern durch eine Handvoll Banditen in wenigen Jahren so vollständig vertilgt, daß die Reste der Bevölkerung bald nicht einmal eine Erinnerung bewahrten. Von der Riesenstadt Tenochtitlan blieb kein Stein über dem Boden, in den Urwäldern von Yukatan liegen die Großstädte der Mayareiche dicht beieinander und fallen rasch der Vegetation zum Opfer. Wir wissen von keiner einzigen, wie sie hieß. Von der Literatur sind drei Bücher übriggeblieben, die niemand lesen kann.

Das Furchtbarste an diesem Schauspiel ist, daß es nicht einmal zu den Notwendigkeiten der abendländischen Kultur gehörte. Es war eine Privatsache von Abenteurern, und niemand in Deutschland, England und Frankreich hat damals geahnt, was hier vor sich ging. Wenn irgendwo auf Erden, so wurde hier gezeigt, daß es keinen Sinn in der Menschengeschichte, daß es nur eine tiefe Bedeutung in den Lebensläufen der einzelnen Kulturen gibt. Ihre Beziehungen untereinander sind ohne Bedeutung und zufällig. Der Zufall war hier so grauenhaft banal, so geradezu lächerlich, daß er in der elendsten Posse nicht angebracht werden dürfte. Ein paar schlechte Kanonen und einige hundert Steinschloßgewehre haben die Tragödie eingeleitet und zu Ende geführt.

Eine gesicherte Kenntnis auch nur der allgemeinsten Geschichte dieser Welt ist für alle Zeiten unmöglich. Ereignisse vom Range der Kreuzzüge und der Reformation sind spurlos der Vergessenheit verfallen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Forschung wenigstens die Umrisse der späteren Entwicklung festgestellt, und mit Hilfe dieser Daten vermag die vergleichende Morphologie das Bild durch das der andern Kulturen zu erweitern und zu vertiefen.Der folgende Versuch beruht auf den Angaben von zwei amerikanischen Werken: L. Spence, The civilization of ancient Mexico, Cambr. (1912), und H. J. Spinden, A study of Maya art, its subject, matter and historical development, Cambr. (1913), die unabhängig voneinander den Versuch einer Chronologie machen und zu einer gewissen Übereinstimmung gelangt sind. Danach liegen die Epochen dieser Kultur je etwa 200 Jahre später als die der arabischen und je etwa 700 Jahre vor denen der abendländischen. Eine Vorkultur, die wie in Ägypten und China Schrift und Kalender entwickelt hat, war vorhanden, ist aber für uns nicht mehr erkennbar. Die Zeitrechnung begann mit einem Anfangsdatum, das weit vor Christi Geburt liegt, dessen Lage zu diesem Datum aber mit Sicherheit nicht mehr festzustellen ist. Sie beweist jedenfalls den außerordentlich stark entwickelten historischen Sinn des mexikanischen Menschen.

Die Frühzeit der »hellenischen« Mayastaaten ist durch die datierten Reliefpfeiler der alten Städte CopanDiese Namen sind die der heutigen Dörfer nahe bei den Ruinen. Die wirklichen Namen sind verschollen. (im Süden), Tikal und etwas später Chichen Itza (im Norden), Naranjo, Seibai bezeugt (etwa 160–450). Am Ausgang dieser Periode wird Chichen Itza mit seinen Bauten für Jahrhunderte vorbildlich; daneben die prachtvolle Blüte von Palenque und Piedras Negras (im Westen). Das würde der Spätgotik und Renaissance entsprechen (450–600, abendländisch 1250–1400?). In der Spätzeit (Barock) erscheint Champutun als Mittelpunkt der Stilbildung; jetzt beginnt die Einwirkung auf die »italischen« Nahuavölker auf der Hochebene von Anahuac, die künstlerisch und geistig nur empfangend, in ihren politischen Instinkten den Maya weit überlegen sind (etwa 600–960, antik 750–400, abendländisch 1400–1750?). Nun beginnt der »Hellenismus« der Maya. Um 960 wird Uxmal gegründet und bald eine Weltstadt vom ersten Range wie die ebenfalls an der Schwelle der Zivilisation gegründeten Weltstädte Alexandria und Bagdad; wir finden daneben eine Reihe glänzender Großstädte wie Labna, Mayapan, Chacmultun und wieder Chichen Itza. Sie bezeichnen den Höhepunkt einer großartigen Architektur, die keinen neuen Stil mehr hervorbringt, aber die alten Motive mit erlesenem Geschmack und in gewaltigen Maßen verwendet. Die Politik wird durch die berühmte Liga von Mayapan (960–1195) beherrscht, ein Bündnis von drei führenden Staaten, welche die Lage trotz großer Kriege und wiederholter Revolutionen, wie es scheint, doch etwas künstlich und gewaltsam aufrecht erhalten (antik 350–150, abendländisch 1800–2000).

Der Ausgang dieser Periode wird durch eine große Revolution bezeichnet und im Zusammenhang damit greifen die »römischen« Nahuamächte endgültig in die Verhältnisse der Maya ein. Mit ihrer Hilfe hat Hunac Ceel einen allgemeinen Umsturz herbeigeführt und Mayapan zerstört (um 1190, antik etwa 150). Was jetzt folgt, ist die typische Geschichte einer ausgereiften Zivilisation, in welcher einzelne Völker um die militärische Vormacht ringen. Die großen Mayastädte versinken in das beschauliche Glück des römischen Athen und Alexandria. Inzwischen entwickelt sich aber am äußersten Horizont des Nahuagebietes das jüngste dieser Völker, die Azteken, urwüchsig, barbarisch und mit einem unersättlichen Willen zur Macht. Sie gründen 1325 Tenochtitlan (antik etwa Zeit des Augustus), das sich bald zur gebietenden Hauptstadt der ganzen mexikanischen Welt erhebt. Um 1400 beginnt die militärische Expansion im großen Stil; die eroberten Gebiete werden durch Militärkolonien und ein Netz von Heerstraßen gesichert, die abhängigen Staaten durch eine überlegene Diplomatie im Zaume und voneinander getrennt gehalten; das kaiserliche Tenochtitlan wuchs zu riesenhaftem Umfange heran mit einer internationalen Bevölkerung, unter der keine Sprache des Weltreichs fehlte. Die Nahuaprovinzen waren politisch und militärisch gesichert; man drang rasch nach Süden vor und schickte sich an, die Hand auf die Mayastaaten zu legen; es ist nicht abzusehen, welchen Gang die Dinge innerhalb der nächsten hundert Jahre genommen haben würden, da kam das Ende.

Das Abendland befand sich damals etwa auf der Stufe, welche die Maya um 700 schon überschritten hatten. Erst die Zeit Friedrichs des Großen wäre reif gewesen, die Politik der Liga von Mayapan zu verstehen. Was die Azteken um 1500 organisierten, liegt für uns noch in weiter Zukunft. Was aber schon damals den faustischen Menschen von dem jeder andern Kultur unterschied, war sein unstillbarer Drang in die Ferne, der letzten Endes auch die Vernichtung der mexikanischen und peruanischen Kultur veranlaßt hat. Dieser Drang ist ohne Beispiel und meldet sich auf allen Gebieten. Gewiß, der ionische Stil ist in Karthago und Persepolis nachgeahmt worden; der hellenistische Geschmack hat in der indischen Gandarakunst Bewunderer gefunden; wieviel Chinesisches in die urgermanische Holzbaukunst des hohen Nordens gedrungen ist, wird vielleicht eine künftige Forschung aufdecken. Der Moscheenstil herrschte von Hinterindien bis in das nördliche Rußland und das westliche Afrika und Spanien. Aber alles das verschwindet gegen die Expansionskraft der abendländischen Stile. Es ist selbstverständlich, daß die Stilgeschichte selbst sich nur auf ihrem Mutterboden vollendet, aber ihre Resultate erkennen keine Grenze an. Auf dem Platz, wo Tenochtitlan gestanden hatte, errichteten die Spanier eine Kathedrale im Barockstil mit Meisterwerken der spanischen Malerei und Plastik; die Portugiesen haben bereits in Vorderindien, italienische und französische Baumeister des späten Barock tief in Polen und Rußland gearbeitet. Das englische Rokoko und vor allem Empire besitzt eine weite Provinz in den Pflanzerstaaten Nordamerikas, deren wundervolle Zimmer und Möbel in Deutschland viel zu wenig bekannt sind. Der Klassizismus wirkte bereits in Kanada und am Kap; seitdem gibt es keine Schranke mehr. Und auch auf jedem andern Formgebiet bestand die Beziehung dieser jungen zu den alten noch bestehenden Zivilisationen darin, daß sie sie sämtlich durch eine immer dichtere Schicht westeuropäisch-amerikanischer Lebensformen überdeckte, unter denen die alte eigne Form langsam dahinschwindet.


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