Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Die innere Geschichte der Wortsprachen zeigt demnach bis jetzt drei Stufen. Auf der ersten erscheinen innerhalb hochentwickelter, aber wortloser Mitteilungssprachen die ersten Namen als Größen eines neuartigen Verstehens. Die Welt erwacht als Geheimnis. Das religiöse Denken beginnt. Auf der zweiten wird nach und nach eine vollständige Mitteilungssprache in grammatische Werte umgesetzt Die Geste wird zum Satz und der Satz verwandelt die Namen in Worte. Der Satz wird zugleich die große Schule des Verstehens gegenüber dem Empfinden, und das immer feinere Bedeutungsgefühl für abstrakte Beziehungen im Satzmechanismus ruft einen überquellenden Reichtum von Flexionen hervor, die sich vor allem an Substantiv und Verb, das Raumwort und das Zeitwort, heften. Es erscheint die Blütezeit der Grammatik, für die man – mit großer Vorsicht – vielleicht die zwei Jahrtausende vor Beginn der ägyptischen und babylonischen Kultur ansetzen darf. Die dritte Stufe wird durch einen raschen Flexionsverfall und damit den Ersatz der Grammatik durch die Syntax bezeichnet. Die Durchgeistigung des menschlichen Wachseins ist so weit vorgeschritten, daß es der Versinnlichung durch Flexionen nicht mehr bedarf und sich statt durch eine bunte Wildnis von Wertformen durch kaum merkliche Andeutungen im knappsten Sprachgebrauch (Partikel,Wortstellung, Rhythmus) sicher und frei mitteilen kann. Am Sprechen in Worten ist das Verstehen zur Herrschaft über das Wachsein gelangt; heute ist es im Begriff, sich vom Zwange des sinnlich-sprachlichen Mechanismus zugunsten einer reinen Mechanik des Geistes zu befreien. Nicht die Sinne, die Geister treten in Fühlung.

In diese dritte Stufe der Sprachgeschichte, welche an sich im biologischen WeltbildVgl. Bd. II, S. 588. verläuft und also dem Menschen als Typus zugehört, greift nun die Geschichte der hohen Kulturen ein, die mit einer ganz neuen »Sprache der Ferne«, der Schrift, und durch die Gewalt ihrer Innerlichkeit dem Schicksal der Wortsprachen eine plötzliche Wendung gibt. Die ägyptische Schriftsprache ist schon um 3000 in rascher grammatischer Zersetzung begriffen, das Sumerische in der eme-sal (Weibersprache) genannten Literatursprache ebenfalls; das Schriftchinesisch, das allen Umgangssprachen der chinesischen Welt gegenüber längst eine Sprache für sich bildet, ist schon in den ältesten bekannten Texten so gänzlich flexionslos, daß erst in neuester Zeit festgestellt werden konnte, daß es wirklich einmal eine Flexion besessen hat. Das indogermanische System kennen wir nur im vollsten Verfall. Von den Kasus des Altvedischen – um 1500 – sind in den antiken Sprachen ein Jahrtausend später nur Trümmer erhalten. Seit Alexander dem Großen ist in der hellenistischen Umgangssprache der Dual aus der Deklination und das ganze Passiv aus der Konjugation verschwunden. Die abendländischen Sprachen, obwohl sie von denkbar verschiedenster Herkunft sind, die germanischen aus primitiven, die romanischen aus hochzivilisierten Verhältnissen stammen, verändern sich in gleicher Richtung: die romanischen Kasus sind bis auf einen verschwunden, die englischen mit der Reformation sämtlich. Die deutsche Umgangssprache hat den Genitiv im Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig eingebüßt und ist im Begriff, den Dativ aufzugeben. Nur wer einmal den Versuch macht, ein Stück schwerer und bedeutungsreicher Prosa etwa aus Tacitus oder Mommsen in eine sehr alte flexionsreiche Sprache »rückwärts« zu übertragen – unsere gesamte Übersetzungsarbeit erfolgt aus älteren in jüngere Sprachzustände –, wird den Beweis erhalten, daß die Zeichentechnik sich inzwischen in eine Denktechnik verflüchtigt hat, welche der verkürzten, aber mit Bedeutungsgehalt durchsättigten Zeichen gleichsam nur zu Anspielungen bedarf, die ausschließlich ein Eingeweihter der betreffenden Sprachgemeinschaft versteht. Dies ist der Grund, weshalb ein westeuropäischer Mensch vom Verstehen der heiligen chinesischen Bücher unbedingt ausgeschlossen bleibt, aber ebenso von dem Verständnis der Urworte jeder anderen Kultursprache, dem λόγος, der ἀρχή im Griechischen, dem atman und brahman im Sanskrit, die auf eine Weltanschauung hinweisen, in der man aufgewachsen sein muß, um ihre Zeichen zu begreifen.

Die äußere Sprachgeschichte ist für uns gerade in den wichtigsten Abschnitten so gut wie verloren. Ihre Frühzeit liegt tief im primitiven Zeitalter, und es sei noch einmal darauf hingewiesen,Vgl. Bd. II, S. 588. daß wir uns die »Menschheit« hier in Gestalt vereinzelter ganz kleiner Trupps vorzustellen haben, die sich im weiten Räume verlieren. Eine Wandlung der Seele tritt ein, wenn die wechselseitige Fühlung Regel und zuletzt selbstverständlich geworden ist, aber eben deshalb besteht kein Zweifel, daß diese Fühlung mittelst der Sprache zuerst gesucht und dann geregelt oder abgewehrt wird, und daß erst mit dem Eindruck der von Menschen erfüllten Erde das einzelne Wachsein gespannter, geistiger, klüger wird und die Wortsprache emporzwingt, so daß vielleicht die Entstehung der Grammatik mit dem Rassemerkmal der großen Zahl in Verbindung steht.

Seitdem ist kein grammatisches System mehr entstanden; es haben sich nur aus vorhandenen neuartige abgezweigt. Über diese eigentlichen Ursprachen, ihren Bau und Klang, wissen wir nichts. Soweit wir zurückblicken können, werden fertig ausgebildete Sprachsysteme als etwas ganz Natürliches von jedermann gebraucht, von jedem Kinde gelernt. Daß es je anders gewesen sein könne, daß einst vielleicht ein tiefer Schauder das Hören solcher seltenen und geheimnisvollen Sprachen begleitet hat – wie es in historischer Zeit mit der Schrift der Fall war und noch ist –, erscheint uns unglaubwürdig. Und doch sollten wir mit der Möglichkeit rechnen, daß Wortsprachen in einer Welt wortloser Mitteilungsweisen einmal Standesvorrecht gewesen sind, ein eifersüchtig behüteter Geheimbesitz. Daß ein Hang dazu vorliegt, zeigen tausend Beispiele, das Französisch als Diplomaten-, das Latein als Gelehrten-, das Sanskrit als Priestersprache. Es gehört zum Stolz rassiger Kreise, miteinander reden zu können, ohne von den andern verstanden zu werden. Eine Sprache für jedermann ist gemein. »Mit einem reden dürfen« ist ein Vorzug oder eine Anmaßung. Noch der Gebrauch der Schriftsprache unter Gebildeten und die Verachtung des Dialekts ist ein Zeugnis echten Bürgerstolzes. Nur wir leben in einer Zivilisation, in welcher die Kinder mit Selbstverständlichkeit das Schreiben wie das Gehen lernen. In allen früheren Kulturen war es eine seltene und nicht jedem zugängliche Kunst. Ich bin überzeugt, daß es mit der Wortsprache einmal nicht anders gewesen ist.

Das Tempo der Sprachgeschichte ist ein ungeheuer geschwindes. Ein Jahrhundert bedeutet da schon viel. Ich erinnere an jene Gebärdensprache der Indianer Nordamerikas, die notwendig wurde, weil die rasche Veränderung der Dialekte eine andere Verständigung zwischen den Stämmen ausschloß. Man vergleiche auch die kürzlich entdeckte Foruminschrift (um 500) mit dem Latein des Plautus(um 200) und dieses mit der Sprache Ciceros. Nimmt man an, daß die ältesten Vedatexte den Sprachzustand von 1200 v. Chr. festgehalten haben, so kann schon der Zustand von 2000 so gänzlich anders gewesen sein, daß ihn kein indogermanischer Forscher mit seiner Methode der Rückschlüsse auch nur von fern vermutet. Aber das Allegro wird zum Lento in dem Augenblick, wo die Schrift, die Sprache der Dauer, eingreift und die Systeme auf ganz verschiedenen Altersstufen festhält und lähmt. Gerade das macht diese Entwicklung so undurchsichtig: wir besitzen nur Reste von Schriftsprachen. Aus der ägyptischen und babylonischen Sprachenwelt gibt es noch Originale von 3000, aber die ältesten indogermanischen Reste sind Abschriften, deren Sprachzustand viel jünger ist als ihr Inhalt.

Das alles hat die Schicksale von Grammatik und Wortschatz in ganz verschiedener Weise bestimmt. Die erste haftet am Geist, der zweite an Dingen und Orten. Einer natürlichen inneren Veränderung unterliegen nur grammatische Systeme. Zu den psychologischen Voraussetzungen des Wortgebrauchs gehört es dagegen, daß zwar die Aussprache sich verändert, die innere mechanische Lautstruktur aber desto fester gehalten wird, denn auf ihr beruht das Wesen der Benennung. Die großen Sprachfamilien sind lediglich grammatische Familien. Die Worte sind in ihnen gewissermaßen heimatlos und wandern von einer zu anderen. Es ist ein Grundfehler der Sprachforschung, voran der indogermanischen, Grammatik und Wortschatz als Einheit zu behandeln. Alle Fachsprachen, die Jäger-, Soldaten-, Sport-, Seemanns-, Gelehrtensprache, sind in Wirklichkeit nur Wortbestände, die innerhalb eines jeden grammatischen Systems gebraucht werden können. Der halbantike Wortschatz der Chemie, der französische der Diplomatie, der englische des Rennplatzes hat sich in allen modernen Sprachen gleichmäßig eingebürgert. Redet man hier von Fremdworten, so gehören die »Wurzeln« aller alten Sprachen zum weitaus größten Teil dazu. Alle Namen haften an den Sachen, die sie bezeichnen, und teilen deren Geschichte. Im Griechischen sind die Metallnamen fremder Herkunft und ebenso Worte wie ôá?ñïò, ÷éôþí, ï?íïò. In den hethitischen Texten von BoghazköiPaul Jensen, Sitz. Preuß. Akad. (1919), 367 ff. kommen indische Zahlworte vor, und zwar in Fachausdrücken, die mit der Zucht des Pferdes dorthin gelangt sind. Lateinische Verwaltungsausdrücke sind in Menge in den griechischen Osten,L. Hahn, Rom und Romanismus im griech.-röm. Osten (1906). deutsche seit Peter dem Großen in das Russische gedrungen, arabische Worte in die Mathematik, Chemie und Astronomie des Abendlandes. Die Normannen, selbst Germanen, haben das Englische mit französischen Worten überschwemmt. Im Bankwesen der germanischen Sprachgebiete wimmelt es von italienischen Ausdrücken, und in noch viel höherem Grade müssen in primitiver Zeit mit dem Getreidebau, der Viehzucht, den Metallen, den Waffen und überhaupt mit jedem Handwerk, dem Tauschverkehr und allen rechtlichen Beziehungen der Stämme untereinander Massen von Bezeichnungen von einer Sprache zur anderen gewandert sein, ganz wie auch der Bestand an geographischen Namen immer in den Besitz der gerade herrschenden Sprache übergeht, so daß ein großer Teil der griechischen Ortsnamen karisch, der deutschen keltisch ist. Man darf ohne Übertreibung behaupten: je allgemeiner ein indogermanisches Wort verbreitet ist, desto jünger ist es, desto wahrscheinlicher ist es Fremdwort. Gerade die altertümlichsten Namen sind streng bewahrter Eigenbesitz. Latein und Griechisch haben nur ganz junge Worte gemeinsam. Oder gehören Telephon, Gas, Automobil zum Wortbestand des »Urvolkes«? Angenommen einmal, daß von den arischen »Urworten« drei Viertel aus dem Ägyptischen oder Babylonischen des 3. Jahrtausends stammten, so würden wir im Sanskrit nach einem Jahrtausend schriftloser Entwicklung nichts mehr davon bemerken, denn auch die zahllosen lateinischen Lehnworte im Deutschen sind längst völlig unkenntlich geworden. Die Endung -ette in Henriette ist etruskisch – wie viele »echt arische« oder »echt semitische« Endungen mögen sonst noch fremd und als Fremdlinge nur nicht mehr nachweisbar sein? Wie erklärt sich die auffallende Ähnlichkeit vieler Worte in australischen und indogermanischen Sprachen?

Das indogermanische System ist sicherlich das jüngste und deshalb das geistigste. Die von ihm abgeleiteten Sprachen beherrschen heute die Erde, aber ist es um 2000 als grammatische Sonderkonstruktion überhaupt schon vorhanden gewesen? Bekanntlich wird heute eine einzige Ausgangsform für das Arische, Semitische und Hamitische als wahrscheinlich angenommen. Die ältesten indischen Schriftreste fixieren den Sprachzustand vielleicht von 1200, die ältesten griechischen vielleicht von 700. Aber indische Personen- und Götternamen kommen zugleich mit dem Pferde schon viel früher in Syrien und Palästina vor,Ed. Meyer, Gesch. d. Alt.21, § 455, 465. und zwar erscheinen ihre Träger wohl zunächst als Söldner, dann als Machthaber. Man erinnere sich, wie die spanischen Feuerwaffen einst auf die Mexikaner gewirkt haben. Sollten diese Landwikinger – mit dem Pferd verwachsene Menschen, deren schreckenerregenden Eindruck noch die Kentaurensage spiegelt – sich um 1600 überall abenteuernd in den nordischen Ebenen festgesetzt und die Sprache und Götterwelt der indischen Ritterzeit mitgebracht haben? Zugleich mit dem arischen Standesideal der Rasse und Lebensführung? Nach dem, was oben über Rasse gesagt worden ist, würde das ohne alle »Wanderungen« eines »Urvolkes« das Rasseideal arisch sprechender Gebiete erklären. Die ritterlichen Kreuzfahrer haben ihre Staaten im Morgenlande nicht anders begründet, und zwar an genau derselben Stelle wie 2500 Jahre früher die Helden mit den Mitanni-Namen.Spengler unterscheidet hier noch nicht die Streitwagen- von den viel späteren Reitervölkern. Siehe Tabelle I. H.K.

Oder war dies System um 3000 nur ein bedeutungsloser Dialekt einer Sprache, die verloren ist? Die romanische Sprachfamilie beherrschte um 1600 n. Chr. alle Meere. Um 400 v. Chr. besaß die »Ursprache« am Tiber ein Gebiet von 50 Quadratmeilen. Es ist sicher, daß das geographische Bild der grammatischen Familien um 4000 noch ein sehr buntes war. Die semitisch-hamitisch-arische Gruppe – wenn sie einmal eine Einheit gewesen ist – hatte damals wohl kaum sehr große Bedeutung. Wir stoßen bei Schritt und Tritt auf die Trümmer alter Sprachfamilien, die sicherlich einst zu sehr verbreiteten Systemen gehörten: das Etruskische, Baskische, Sumerische, Ligurische, die alten kleinasiatischen Sprachen sind darunter. Im Archiv von Boghazköi sind bis jetzt acht neue Sprachen festgestellt worden, die um 1000 im Gebrauch gewesen sind. Bei dem damaligen Tempo der Veränderung kann das Arische um 2000 eine Einheit mit Sprachen gebildet haben, von denen wir es heute nicht erraten würden.


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