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Aber gleichviel, ob ein Mensch für das Leben oder das Denken geboren ist, solange er handelt oder betrachtet, ist er wach, und als Wachender ist er beständig »im Bilde«, nämlich eingestellt auf einen Sinn, den die Lichtwelt um ihn herum gerade in diesem Augenblick für ihn besitzt. Es ist schon früher bemerkt worden, daß die zahllosen Einstellungen, die im Wachsein des Menschen wechseln, sich deutlich in zwei Gruppen unterscheiden, Welten des Schicksals und Taktes und Welten der Ursachen und Spannungen. Jeder erinnert sich der beinahe schmerzhaften Umstellung, wenn er etwa eben einen physikalischen Versuch beobachtet und plötzlich genötigt wird, über ein Tagesereignis nachzudenken. Ich nannte die beiden Bilder die »Welt als Geschichte« und die »Welt als Natur«. In jenem bedient sich das Leben des kritischen Verstehens; es hat das Auge in seiner Gewalt; gefühlter Takt wird zur innerlich geschauten Wellenlinie, erlebte Erschütterungen werden im Bilde zur Epoche. In diesem herrscht das Denken selbst; kausale Kritik läßt das Leben zum starren Prozeß werden, den lebendigen Gehalt einer Tatsache zur abstrakten Wahrheit, die Spannung wird zur Formel.
Wie ist das möglich? Beides ist ein Augenbild, aber doch so, daß man sich dort den nie wiederkehrenden Tatsachen hingibt, und hier Wahrheiten in ein unveränderliches System bringen will. Im Geschichtsbilde, das nur gestützt ist auf Wissen, bedient sich das Kosmische des Mikrokosmischen. In dem, was wir Gedächtnis und Erinnerung nennen, liegen die Dinge wie im inneren Licht und vom Takt unseres Daseins durchflutet da. Das chronologische Element im weitesten Sinne, die Daten, Namen, Zahlen, verrät, daß Geschichte, sobald sie gedacht wird, der Grundbedingung alles Wachseins nicht entbehren kann. Im Naturbilde ist das stets vorhandene Subjektive das Fremde und Trügende, in der Welt als Geschichte trügt das ebenso unvermeidliche Objektive, die Zahl.
Die naturhaften Einstellungen sollen und können bis zu einem gewissen Grade unpersönlich sein. Man vergißt sich selbst darüber. Das Bild der Geschichte aber besitzt jeder Mensch, jede Klasse, Nation, Familie in bezug auf sich selbst. Natur enthält das Merkmal der Ausdehnung, die alle umschließt. Geschichte aber ist das, was aus dunkler Vergangenheit auf den Schauenden zukommt und von ihm aus weiter in die Zukunft will. Er ist als der Gegenwärtige stets ihr Mittelpunkt, und es ist ganz unmöglich, in der sinnvollen Anordnung der Tatsachen die Richtung auszuschalten, die dem Leben und nicht dem Denken angehört. Jede Zeit, jedes Land, jede lebendige Menge hat ihren eignen historischen Horizont, und der berufene Geschichtsdenker zeigt sich eben darin, daß er das von seiner Zeit geforderte Geschichtsbild wirklich entwirft.
Deshalb unterscheiden sich Natur und Geschichte wie echte und scheinbare Kritik, Kritik verstanden als Gegensatz zur Lebenserfahrung. Naturwissenschaft ist Kritik und nichts andres. In der Geschichte aber kann Kritik nur die Voraussetzung an Wissen schaffen, an dem dann der historische Blick seinen Horizont entwickelt. Geschichte ist dieser Blick selbst, gleichviel wohin er sich richtet. Wer diesen Blick besitzt, kann jede Tatsache und jede Lage »historisch« verstehen. Natur ist ein System, und Systeme kann man erlernen.
Die historische Einstellung beginnt für jeden mit den frühesten Eindrücken der Kindheit. Kinderaugen sehen scharf und die Tatsachen der nächsten Umgebung, das Leben der Familie, des Hauses, der Straße werden bis in ihre letzten Gründe gefühlt und geahnt, lange bevor die Stadt mit ihren Bewohnern in den Gesichtskreis tritt und während noch die Worte Volk, Land, Staat keinen irgendwie greifbaren Inhalt besitzen. Ein ebenso gründlicher Kenner ist der primitive Mensch für alles, was ihm in seinem engen Kreise als Geschichte lebendig vor Augen steht. Vor allem das Leben selbst, das Schauspiel von Geburt und Tod, Krankheit und Alter, dann die Geschichte der kriegerischen und geschlechtlichen Leidenschaften, die er selbst erlebt oder an anderen beobachtet hat, die Schicksale der Nächsten, der Sippe, des Dorfes, ihre Handlungen und deren Hintergedanken, Erzählungen von langer Feindschaft, Kämpfen, Sieg und Rache. Die Lebenshorizonte weiten sich; nicht ein Leben, sondern das Leben entsteht und vergeht, nicht Dörfer und Sippen, sondern ferne Stämme und Länder, nicht Jahre, sondern Jahrhunderte treten vor das Auge. Die wirklich miterlebte, in ihrem Takt noch mitgefühlte Geschichte reicht niemals über die Generation des Großvaters hinaus, weder für die alten Germanen und die heutigen Neger noch für Perikles oder Wallenstein. Hier schließt ein Horizont des Lebens ab und es beginnt eine neue Schicht, deren Bild sich auf Überlieferung und historische Tradition gründet, welche das unmittelbare Mitfühlen einem deutlich gesehenen und durch lange Übung gesicherten Gedächtnisbilde einordnet, ein Bild, das für die Menschen verschiedener Kulturen in sehr verschiedener Weite entwickelt ist. Für uns beginnt mit diesem Bilde die eigentliche Geschichte, in der wir sub specie aeternitatis leben, für die Griechen und Römer hört sie hier auf. Für Thukydides hatten schon die Ereignisse der Perserkriege,Er habe festgestellt, daß sich vor seiner Zeit nichts von Bedeutung ereignet habe, schreibt er – um 400! – auf der ersten Seite seines Geschichtswerkes. für Cäsar die Punischen Kriege keine lebendige Bedeutung mehr. Über das alles hinaus aber entstehen neue historische Einzelbilder von den Schicksalen der Pflanzen- und Tierwelt, der Landschaft, der Gestirne und fließen mit den letzten Bildern der Natur zusammen in mythischen Vorstellungen von Weltanfang und Weltende.
Das Naturbild des Kindes und des Urmenschen entwickelt sich aus der kleinen Technik des Alltags, die beide immer wieder zwingt, sich von dem angstvollen Schauen in die weite Natur den Sachlagen der nächsten Umgebung kritisch zuzuwenden. Wie die jungen Tiere entdeckt ein Kind seine ersten Wahrheiten durch das Spiel. Das Spielzeug untersuchen, die Puppe zerbrechen, den Spiegel umkehren, um zu sehen, was dahinter ist, das Triumphgefühl, etwas als richtig festgestellt zu haben, was nun immer so bleiben muß – darüber hinaus ist keine Naturforschung je gedrungen. Diese kritische Erfahrung erwirbt sich der Urmensch an seinen Waffen und Werkzeugen, an den Stoffen für seine Kleidung, Nahrung und Wohnung, an Dingen also, insofern sie tot sind. Das gilt auch von Tieren, die er jetzt plötzlich nicht mehr als Lebewesen versteht, indem er als Verfolger oder Verfolgter ihre Bewegungen beobachtet und berechnet, sondern als eine Zusammensetzung von Fleisch und Knochen, die er im Hinblick auf einen bestimmten Zweck unter Absehen von der Eigenschaft des Lebendigseins ganz mechanisch betrachtet, genau so wie er ein Ereignis eben noch als die Tat eines Dämons und gleich darauf als Kette von Ursache und Wirkung auffaßt. Es ist dieselbe Umstellung, die auch der reife Kulturmensch täglich und stündlich immer wieder vollzieht. Auch um diesen Naturhorizont legt sich eine weitere Schicht, die aus den Eindrücken von Regen, Blitz und Sturm, Tag und Nacht, Sommer und Winter, dem Mondwechsel und dem Gang der Gestirne gebildet wird. Hier zwingen religiöse Schauer voller Angst und Ehrfurcht ihn zu einer Kritik von ganz anderem Range. Wie er in jenem Geschichtsbilde die letzten Tatsachen des Lebens ergründen wollte, so sucht er hier die letzten Wahrheiten der Natur festzustellen. Was jenseits aller Grenzen des Verstehens liegt, nennt er die Gottheit, und alles diesseits Liegende sucht er als Wirkung, Schöpfung und Offenbarung der Gottheit kausal zu begreifen.
Jede Sammlung von naturhaft Festgestelltem hat also eine doppelte Tendenz, die von Urzeiten her unverändert geblieben ist. Die eine richtet sich auf ein möglichst vollständiges System technischen Wissens, das zu praktischen, wirtschaftlichen und kriegerischen Zwecken dient, das viele Tierarten in hoher Vollendung ausgebildet haben und das von da an über die frühmenschliche Kenntnis des Feuers und der Metalle in gerader Linie zur Maschinentechnik der heutigen faustischen Kultur führt. Die andre hat sich erst mit der Ablösung des rein menschlichen Denkens vom Sehen durch die Wortsprache gebildet und erstrebt ein ebenso vollständiges theoretisches Wissen, das wir in seiner ursprünglichen Form religiös und in der in späten Kulturen daraus abgeleiteten naturwissenschaftlich nennen. Das Feuer ist für den Krieger eine Waffe, für den Handwerker ein Teil seines Werkzeuges, für den Priester ein Zeichen der Gottheit und für den Gelehrten ein Problem. Das alles aber gehört der naturhaften Einstellung des Wachseins an. In der Welt als Geschichte erscheint nicht das Feuer überhaupt, sondern der Brand von Karthago und Moskau und die Flamme der Scheiterhaufen, auf denen Huß und Giordano Bruno verbrannt wurden.