Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Der Steinkoloß »Weltstadt« steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig »Gewordenen«. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste geworden.

Diese letzten Städte sind ganz Geist. Ihre Häuser sind nicht mehr wie noch die der ionischen und Barockstädte Abkömmlinge des alten Bauernhauses, von dem einst die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmungsgeist geschaffen hat. Solange der Herd im frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat nur als Ganzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.

Jetzt beginnen die alten gewachsenen Städte mit ihrem gotischen Kern aus Dom, Rathaus und spitzgiebligen Gassen, um deren Türme und Tore die Barockzeit einen Ring von geistigeren, helleren Patrizierhäusern, Palästen und Hallenkirchen gelegt hatte, nach allen Seiten in formloser Masse überzuquellen, mit Haufen von Mietskasernen und Zweckbauten sich in das verödende Land hineinzufressen, das ehrwürdige Antlitz der alten Zeit durch Umbauten und Durchbrüche zu zerstören. Wer von einem Turm auf das Häusermeer herabsieht, erkennt in dieser steingewordenen Geschichte eines Wesens genau die Epoche, wo das organische Wachstum endet und die anorganische und deshalb unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt. Und jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen, vollkommen landfremden Gebilde einer reingeistigen Freude am Zweckmäßigen, die Städte der Stadtbaumeister, die in allen Zivilisationen dieselbe schachbrettartige Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben. Diese regelmäßigen Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt. In der antiken Welt beginnt die Reihe der »abstrakten« Städte mit Thurioi, das Hippodamos von Milet 441 »entwarf«. Priene, wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der Grundfläche vollkommen ignoriert, Rhodos, Alexandria folgen als Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit. Die islamischen Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später die Riesenstadt Samarra am TigrisSamarra zeigt wie die Kaiserfora in Rom und die Ruinen von Luxor und Karnak amerikanische Verhältnisse. Die Stadt erstreckt sich 33 km lang am Flusse hin. Der Palast Balkuwara, den der Kalif Mutawakkil für einen seiner Söhne erbauen ließ, bildet ein Quadrat von 1250 m Seitenlänge. Eine der Riesenmoscheen mißt 260x180 m. Schwarz, Die Abbassidenresidenz Samarra (1910). Herzfeld, Ausgrabungen von Samarra (1912). planmäßig angelegt. In der westeuropäisch-amerikanischen Welt ist das erste große Beispiel der Grundriß von Washington (1791). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Weltstädte der Hanzeit in China und die der Maurya-Dynastie in Indien dieselben geometrischen Formen besessen haben. Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe – lange nach 2000 – Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden.

Selbst in dieser letzten Gestalt seines Daseins ist das Formideal des antiken Menschen noch der körperliche Punkt. Während die Riesenstädte der Gegenwart unseren ganzen Hang zum Unendlichen zur Schau tragen: die Durchsetzung einer weiten Landschaft mit Vororten und Villenkolonien, ein mächtiges Netz von Verkehrsmitteln jeder Art nach allen Seiten und innerhalb des dicht bebauten Geländes ein geregelter Schnellverkehr in, unter und über breiten Straßenzügen, will die echt antike Weltstadt sich nicht ausbreiten, sondern immer mehr verdichten: die Straßen eng und schmal, jeden Eilverkehr ausschließend, wie er doch auf den römischen Heerstraßen voll ausgebildet war; keine Neigung, vor der Stadt zu wohnen oder auch nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Stadt soll auch jetzt noch ein Körper sein, dicht und rund, soma im strengsten Sinne. Der Synoikismos, der in der antiken Frühzeit allenthalben die Landbevölkerung in die Stadt gezogen und damit erst den Typus der Polis geschaffen hatte, wiederholt sich am Ende noch einmal in absurder Form: jeder will in der Mitte der Stadt wohnen, in ihrem dichtesten Kerne, sonst fühlt er sich nicht als Mensch einer Stadt. Alle diese Städte sind nur City, nur Innenstadt. Der neue Synoikismos bildet statt der Vorortzone die Welt der oberen Stockwerke aus. Rom hatte im Jahre 74 trotz der ungeheuren Kaiserbauten den geradezu lächerlichen Umfang von 19 ½ km.Friedländer, Sittengeschichte Roms, I S. 5; man vergleiche dies mit dem nicht entfernt so stark bevölkerten Samarra; die »spätantiken« Großstädte auf arabischem Boden sind auch in dieser Hinsicht nicht antik. Die Gartenvorstadt von Antiochia war im ganzen Osten berühmt. Dies führt dahin, daß diese Körper überhaupt nicht in die Breite, sondern unablässig in die Höhe wuchsen. Die Mietskasernen Roms, wie die berüchtigte Insula Feliculae, erreichten bei einer Straßenbreite von 3–5 MeternDie Stadt, welche der ägyptische Julian Apostata, Amenophis IV., sich in Tell al Amarna baute, hatte Straßen bis zu 45 m Breite. Borchardt, Zeitschrift für Bauwesen LXVI, 524. Höhen, die im Abendlande noch nirgends und in Amerika nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Capitol hatten unter Vespasian die Dächer schon die Höhe des Bergsattels erreicht.Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart (1910), S. 211 ff. Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan und heute in London und Berlin. Diodor erzählt von einem abgesetzten ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte.

Aber kein Elend, kein Zwang, selbst nicht die klare Einsicht in den Wahnsinn dieser Entwicklung setzt die Anziehungskraft dieser dämonischen Gebilde herab. Das Rad des Schicksals rollt dem Ende zu; die Geburt der Stadt zieht ihren Tod nach sich. Anfang und Ende, Bauernhaus und Häuserblock verhalten sich wie Seele und Intelligenz, wie Blut und Stein. Aber »Zeit« ist nicht umsonst ein Wort für die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit. Es gibt hier nur ein Vorwärts, kein Zurück. Das Bauerntum gebar einst den Markt, die Landstadt, und nährte sie mit seinem besten Blute. Nun saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste ermattet und stirbt. Wer einmal der ganzen sündhaften Schönheit dieses letzten Wunders aller Geschichte verfallen ist, der befreit sich nicht wieder. Ursprüngliche Völker können sich vom Boden lösen und in die Ferne wandern. Der geistige Nomade kann es nicht mehr. Das Heimweh nach der großen Stadt ist stärker vielleicht als jedes andere. Heimat ist für ihn jede dieser Städte, Fremde ist schon das nächste Dorf. Man stirbt lieber auf dem Straßenpflaster, als daß man auf das Land zurückkehrt. Und selbst der Ekel vor dieser Herrlichkeit, das Müdesein vor diesem Leuchten in tausend Farben, das taedium vitae, das zuletzt manche ergreift, befreit sie nicht. Sie tragen die Stadt mit sich in ihre Berge und an das Meer. Sie haben das Land in sich verloren und finden es draußen nicht wieder.

Was den Weltstadtmenschen unfähig macht, auf einem anderen als diesem künstlichen Boden zu leben, ist das Zurücktreten des kosmischen Taktes in seinem Dasein, während die Spannungen des Wachseins immer gefährlicher werden. Man vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos die tierhafte Seite, das Wachsein, zum pflanzenhaften Dasein hinzutritt, nicht umgekehrt. Takt und Spannung, Blut und Geist, Schicksal und Kausalität verhalten sich wie das blühende Land zur versteinerten Stadt, wie etwas, das für sich da ist, zu einem andern, das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen Takt, der sie durchseelt, ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts als Spannung. Die Köpfe aller zivilisierten Menschen von Rang werden ausschließlich von dem Ausdruck der schärfsten Spannung beherrscht. Intelligenz ist nichts als Fähigkeit zu angespanntestem Verstehen. Diese Köpfe sind in jeder Kultur der Typus ihres »letzten Menschen«. Man vergleiche damit Bauernköpfe, wenn sie im Straßengewühl einer Großstadt auftauchen. Der Weg von der bäuerlichen Klugheit – der Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt, die wie bei allen klugen Tieren auf gefühltem Takt beruhen – über den städtischen Geist zur weltstädtischen Intelligenz – das Wort gibt schon in dem scharfen Klange die Abnahme der kosmischen Unterlage vortrefflich wieder – läßt sich auch als die beständige Abnahme des Schicksalsgefühls und die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses nach Kausalität bezeichnen. Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine meisterhafte Übung im Denken, etwas Fleischloses, Mageres. Die intelligenten Gesichter aller Rassen sind einander ähnlich. Es ist die Rasse selbst, die in ihnen zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das Notwendige und Selbstverständliche des Daseins besteht, je mehr die Gewohnheit um sich greift, sich alles »klar zu machen«, desto mehr wird die Angst des Wachseins kausal gestillt. Daher die Gleichsetzung von Wissen und Beweisbarkeit und der Ersatz des religiösen Mythos durch den kausalen: die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte Geld als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz zum ländlichen Güterverkehr, der Takt ist und nicht ein System von Spannungen.

Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die »Zerstreuung«. Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des »Vergnügens« und die geistige der »Aufregung« des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene Mystik – das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten – man wird das alles in Rom wiederfinden, und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung auf die indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen. Um nur eins zu nennen: wenn man das Kamasutram liest, versteht man, was für Leute am Buddhismus ebenfalls Geschmack fanden; und man wird nun auch die Stierkampfszenen in den kretischen Palästen mit ganz anderem Auge betrachten. Es liegt ein Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ist ein Parfüm darüber gebreitet wie über den fashionablen stadtrömischen Isiskult in der Nachbarschaft des Circus Maximus.

Und nun geht aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser, das Wachsein immer angespannter wird, endlich jene Erscheinung hervor, die im stillen längst vorbereitet war und jetzt plötzlich in das helle Licht der Geschichte rückt, um dem ganzen Schauspiel ein Ende zu bereiten: die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen. Es handelt sich hier nicht um etwas, das sich mit alltäglicher Kausalität, etwa physiologisch, begreifen ließe, wie es die moderne Wissenschaft selbstverständlich versucht hat. Hier liegt eine durchaus metaphysische Wendung zum Tode vor. Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus, als Menge; in diesem Gesamtwesen erlischt die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus. Man versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf seiner Scholle sitzt oder von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit seinem Blute zu haften. Er wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und der Ahn von künftigen Enkeln. Sein Haus, sein Eigentum: das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören von Leib und Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes und inniges Verbundensein von ewigem Land und ewigem Blute: erst damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten die großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod jenen metaphysischen Zauber, der seinen sinnbildlichen Niederschlag in Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen findet. Das alles ist für den »letzten Menschen« nicht mehr vorhanden. Intelligenz und Unfruchtbarkeit sind in alten Familien, alten Völkern, alten Kulturen nicht nur deshalb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen Mikrokosmos die über alles Maß angespannte tierhafte Lebensseite die pflanzenhafte aufzehrt, sondern weil das Wachsein die Gewohnheit einer kausalen Regelung des Daseins annimmt. Was der Verstandesmensch mit einem äußerst bezeichnenden Ausdruck Naturtrieb nennt, wird von ihm nicht nur »kausal« erkannt, sondern auch gewertet und findet im Kreise seiner übrigen Bedürfnisse den angemessenen Platz. Die große Wendung tritt ein, sobald es im alltäglichen Denken einer hochkultivierten Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern »Gründe« gibt. Die Natur kennt keine Gründe. Überall, wo es wirkliches Leben gibt, herrscht eine innere organische Logik, ein »es«, ein Trieb, die vom Wachsein und dessen kausalen Verkettungen durchaus unabhängig sind und von ihm gar nicht bemerkt werden. Der Geburtenreichtum ursprünglicher Bevölkerungen ist eine Naturerscheinung, über deren Vorhandensein niemand nachdenkt, geschweige denn über ihren Nutzen oder Schaden. Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden. Da beginnt eine weise Beschränkung der Geburtenzahl – die bereits Polybios als das Verhängnis von Griechenland beklagt, die aber schon lange vor ihm in den großen Städten üblich war und in römischer Zeit einen erschreckenden Umfang angenommen hat –, die zuerst mit der materiellen Not und sehr bald überhaupt nicht mehr begründet wird. Da beginnt denn auch, und zwar im buddhistischen Indien so gut wie in Babylon, in Rom wie in den Städten der Gegenwart, die Wahl der »Lebensgefährtin« – der Bauer und jeder ursprüngliche Mensch wählt die Mutter seiner Kinder – ein geistiges Problem zu werden. Die Ibsenehe, die »höhere geistige Gemeinschaft« erscheint, in welcher beide Teile »frei« sind, frei nämlich als Intelligenzen, und zwar vom pflanzenhaften Drange des Blutes, das sich fortpflanzen will; und Shaw darf den Satz aussprechen, »daß die Frau sich nicht emanzipieren kann, wenn sie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder, gegen die Gesellschaft, gegen das Gesetz und gegen jeden, außer gegen sich selbst, von sich wirft«.B. Shaw, Ibsenbrevier, S. 57. Das Urweib, das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber taucht das Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganzen weltstädtischen Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, »sich gegenseitig zu verstehen«. Es ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie »sich selbst gehört«. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle unfruchtbar. Dieselbe Tatsache in Verbindung mit denselben »Gründen« findet sich in der alexandrinischen und römischen und selbstverständlich in jeder anderen zivilisierten Gesellschaft, vor allem auch in der, in welcher Buddha herangewachsen ist, und es gibt überall, im Hellenismus und im 19. Jahrhundert so gut wie zur Zeit des Laotse und der Tscharvakalehre eine Ethik für kinderarme Intelligenzen und eine Literatur über die inneren Konflikte von Nora und Nana.

Kinderreichtum, dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur – Ibsen hat sie nicht vergessen; sie steht in seiner »Komödie der Liebe«.

Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.

Wenn irgend etwas, so beweist der allbekannte »Untergang der Antike«, der sich lange vor dem Einbruch der germanischen Wandervölker vollendete, daß Kausalität mit Geschichte nichts zu tun hat.Zum Folgenden vgl. die Darstellung bei Ed. Meyer, Kl. Schriften (1910), S. 145 ff. Das Imperium genießt den vollkommensten Frieden; es ist reich, es ist hochgebildet; es ist gut organisiert; es besaß von Nerva bis Marc Aurel eine Herrscherreihe, wie sie der Cäsarismus keiner zweiten Zivilisation aufzuweisen hat. Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch und in Masse hin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindergesetzgebung des Augustus, dessen lex de maritandis ordinibus auf die römische Gesellschaft bestürzender wirkte als die Niederlage des Varus, trotz der massenhaften Adoptionen, der ununterbrochenen Ansiedlung von Soldaten barbarischer Herkunft, um Menschen in die verödende Landschaft zu bringen, trotz der ungeheuren Alimentationsstiftungen des Nerva und Trajan, um die Kinder unbemittelter Eltern aufzuziehen. Italien, dann Nordafrika und Gallien, endlich Spanien, das unter den ersten Kaisern am dichtesten von allen Teilen des Reichs bevölkert war, sind menschenleer und verödet. Das berühmte und bezeichnenderweise in der modernen Volkswirtschaft immer wiederholte Wort des Plinius: latifundia perdidere Italiam, jam vero et provincias, verwechselt Anfang und Ende des Prozesses: der Großgrundbesitz hätte nie diese Ausdehnung gewonnen, wenn das Bauerntum nicht vorher von den Städten aufgesogen worden wäre und das Land zum mindesten innerlich bereits preisgegeben hätte. Das Edikt des Pertinax von 193 enthüllt endlich den erschreckenden Stand der Dinge: In Italien und den Provinzen wird jedem gestattet, verödetes Land in Besitz zu nehmen. Wenn er es bebaut, soll er Eigentumsrecht darüber erhalten. Die Geschichtsforscher brauchten sich den übrigen Zivilisationen nur ernsthaft zuzuwenden, um die gleiche Erscheinung überall festzustellen. Im Hintergrund der Ereignisse des Neuen Reiches, vor allem von der 19. Dynastie an, ist eine gewaltige Abnahme der Bevölkerung deutlich zu verspüren. Ein Stadtbau, wie ihn Amenophis IV. in Tell el Amarna ausführte, mit Straßenzügen bis zu 45 m Breite, wäre bei der früheren Bevölkerungsdichte undenkbar gewesen, und ebenso die notdürftige Abwehr der »Seevölker«, deren Aussichten auf Besitznahme des Reiches damals sicherlich nicht schlechter waren als die der Germanen vom 4. Jahrhundert an, und endlich die unaufhörliche Einwanderung der Libyer in das Delta, wo um 945 einer ihrer Führer – genau wie 476 n. Chr. Odoaker – die Herrschaft über das Reich an sich nahm. Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem Cäsar Asoka heraus.Wir kennen in China im 3. Jahrh. v. Chr. – also in der chinesischen Augustuszeit! – Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerungsziffer. A. v. Rosthorn, Das soziale Leben der Chinesen (1919), S. 6. Wenn die Mayabevölkerung in ganz kurzer Zeit nach der spanischen Eroberung geradezu verschwand und die großen menschenleeren Städte dem Urwald anheimfielen, so beweist das nicht allein die Brutalität der Eroberer, die in diesem Punkte einer jungen und fruchtbaren Kulturmenschheit gegenüber wirkungslos gewesen wäre, sondern ein Erlöschen von innen heraus, das ohne Zweifel schon längst begonnen hatte. Und wenn wir uns der eigenen Zivilisation zuwenden, so sind die alten Familien des französischen Adels zum weitaus größten Teil nicht durch die französische Revolution ausgerottet worden, sondern seit 1815 ausgestorben; die Unfruchtbarkeit breitete sich von ihm auf das Bürgertum und seit 1870 auf die gerade durch die Revolution fast neu geschaffene Bauernschaft aus. In England und noch weit mehr in den Vereinigten Staaten, und zwar gerade in deren wertvollster, alteingewanderter Bevölkerung im Osten, hat der »Rasseselbstmord«, gegen den Roosevelt sein bekanntes Buch geschrieben hat, längst im großen Stile eingesetzt.

Deshalb finden wir auch in diesen Zivilisationen schon früh die verödeten Provinzstädte und am Ausgang der Entwicklung die leerstehenden Riesenstädte, in deren Steinmassen eine kleine Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der Steinzeit in Höhlen und Pfahlbauten. Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische Reisende Hsiuen-tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig unbewohnte Häuserwüste, und viele der großen Mayastädte müssen schon zur Zeit des Cortez leer gestanden haben. Wir besitzen eine lange Reihe antiker Schilderungen von Polybios an;Strabo, Pausanias, Dio Chrysostomus, Avien u. a., Ed. Meyer, Kl. Schriften, S. 164 ff. die altberühmten Städte, deren leerstehende Häuserreihen langsam zusammenstürzen, während auf dem Forum und im Gymnasium Viehherden weiden und im Amphitheater Getreide gebaut wird, aus dem noch die Statuen und Hermen hervorragen. Rom hatte im 5. Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber die Kaiserpaläste waren noch bewohnbar.

Damit findet die Geschichte der Stadt ihren Abschluß. Aus dem ursprünglichen Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt herangewachsen, bringt sie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieser großartigen Entwicklung und deren letzter Blüte, dem Geist der Zivilisation zum Opfer und vernichtet damit zuletzt auch sich selbst.


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