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»Jeder Mensch empfängt eine doppelte Erziehung – eine, die ihm andere angedeihen lassen; und eine viel wichtigere, die er sich selber giebt.« –
Gibbon.
»Ist hier einer, den Schwierigkeiten entmutigen? der sich vor dem Sturme beugt? Der Mann wird wenig ausrichten! Ist hier aber jemand, der entschlossen ist, zu siegen? Solchen Leuten mißglückt nichts!« –
John Hunter.
»Die kluge Thatkraft übersteigt das Hemmnis Mit Wagemut; indes die blöde Thorheit Erschrickt und flieht vor Arbeit und Gefahr Und nichts vermag, weil's ihr unmöglich dünkt.« –
Rowe.
»Die beste Erziehung jedes Menschen,« sagt Sir Walter Scott, »ist die Selbsterziehung.« Der verstorbene Sir Benjamin Brodie erinnerte sich gern an dies Wort und pflegte sich der Thatsache zu rühmen, daß er in seinem Berufe ein Autodidakt war. Aber dasselbe ist notwendigerweise bei allen Männern der Fall, welche sich in der Litteratur, Wissenschaft oder Kunst ausgezeichnet haben. Die Erziehung, welche die Schule oder Universität verleiht, ist nur der Anfang und nur insofern wertvoll, als sie den Geist schult und ihn an beharrlichen Fleiß und emsiges Studium gewöhnt. Was andere in uns hineinlegen, gehört uns nicht so sehr als das, was wir uns durch eigene eifrige und ausdauernde Bemühung erringen. Das Wissen, welches wir uns durch unsere Arbeit erwerben, wird unser Besitz – unser ausschließliches Eigentum. Die Eindrücke, die man auf solche Art erhält, sind lebhafter und dauernder – und die so gewonnenen Kenntnisse prägen sich dem Geiste tiefer ein als mündliche Mitteilungen. Diese Art der Selbsterziehung lockt auch verborgene Kräfte hervor und stärkt dieselben. Die Lösung einer Aufgabe verhilft uns zur Bewältigung einer anderen; und so setzen sich die Erfahrungen in Fähigkeiten um. Unsere persönliche Anstrengung ist die Hauptsache: keine Hilfsmittel, keine Bücher, keine Lehrer und keine auswendig gelernten Lektionen können uns der eigenen Bemühung entheben.
Die besten Lehrer haben allezeit am ersten die Wichtigkeit der Selbsterziehung und die Notwendigkeit anerkannt, den Lernenden dazu anzueifern, daß er sich das Wissen durch den fleißigen Gebrauch seiner Fähigkeiten selbstthätig aneigne. Sie haben sich mehr auf das »Einüben« als auf das »Vortragen« verlassen und sich immer bemüht, ihre Schüler dazu zu bringen, daß sie an ihrem Erziehungswerk mitarbeiteten – ein Verfahren, durch welches das Lernen etwas Höheres wird als die bloß passive Aufnahme der Splitter und Brocken der Wissenschaft. In diesem Geiste wirkte der große Dr. Arnold; er suchte seinen Schülern Selbstvertrauen einzuflößen und ihre Kraft dadurch zu entwickeln, daß er sie zu energischen Anstrengungen veranlaßte – während er selbst sie nur führte, leitete, anspornte und ermutigte. »Ich möchte.« sagte er einmal, »einen jungen Menschen weit lieber nach Bandiemensland schicken, wo er um sein Brod arbeiten müßte, als nach Oxford, wo die jungen Leute in Saus und Braus leben und nicht daran denken, sich der gebotenen Vorteile zu bedienen.« Bei einer anderen Gelegenheit äußerte er: »Wenn es auf Erden etwas giebt, was wir bewundern müssen, so ist es ein Mensch, dessen geringe natürliche Gaben von Gottes Weisheit gesegnet wurden, weil ihr Besitzer sie redlich, treu und fleißig ausbildete.« Mit Bezug auf einen ehemaligen Schüler von diesem Schlage sagte er: »Vor einem solchen Manne ziehe ich den Hut ab!« In Laleham hatte Arnold einst einen ziemlich schwach beanlagten Knaben zu unterrichten. Als er ihn einmal etwas hart anließ, blickte ihm der Schüler voll ins Gesicht und sagte: »Warum sind Sie so böse auf mich, Herr Arnold? Wirklich! ich gebe mir alle Mühe!« Noch nach Jahren pflegte Arnold seinen Kindern diese Geschichte zu erzählen und hinzuzufügen: »Ich war nie in meinem Leben so bewegt – jenen Blick und jene Worte habe ich nie vergessen.«
Aus den zahlreichen, bereits angeführten Beispielen von Männern, die sich aus einer bescheidenen Stellung zu einer Hervorragenden Bedeutung in der Wissenschaft und Litteratur aufgeschwungen haben, geht hervor, daß sich die Arbeit sehr wohl mit der höchsten geistigen Bildung verträgt. Arbeit, die nicht im Übermaß betrieben wird, ist der menschlichen Konstitution ebenso gesund als angenehm. Sie erzieht den Körper wie das Studium den Geist bildet; und jener gesellschaftliche Zustand wäre der beste, in welchem ein jeder in seiner Mußezeit einige Arbeit, und bei seiner Arbeit einige Muße hätte. Auch die im Müßiggang lebenden Gesellschaftsklassen unterliegen bis zu einem gewissen Grade der Notwendigkeit der Arbeit: zuweilen suchen sie dadurch der Langenweile zu entfliehen; meistens aber folgen sie damit nur einem unwiderstehlichen Naturtriebe. Daher gehen einige in den englischen Grafschaften auf die Fuchsjagd; andere schießen Birkhühner im schottischen Hochland; noch andere begeben sich jeden Sommer auf die Wanderschaft, um die Gebirge der Schweiz zu ersteigen. Daher rührt auch der Ruder- und Rennsport, das Cricketspiel und die Turnübungen und Ringkämpfe unserer öffentlichen Schulen, durch welche unsere jungen Leute neben dem Geist auch den Körper in gesunder Weise ausbilden. Wie man sagt, machte der Herzog von Wellington, als er einst zu Eton die Belustigungen der Schüler auf dem Spielplätze beobachtete, auf welchem er selbst in seiner Jugend so manchen Tag zugebracht hatte, die folgende Bemerkung: »Hier wurde die Schlacht von Waterloo gewonnen!«
Daniel Malthus ermahnte seinen Sohn, welcher auf der Universität war, nicht nur, sich eifrig dem Studium zu widmen, sondern auch solche Belustigungen zu suchen, die eine körperliche Bewegung im Freien bedingten, und die er als das beste Mittel betrachtete, die Arbeitskraft und Genußfähigkeit des Geistes frisch zu erhalten. »Jede Art der Erkenntnis.« sagte er, »jede nähere Bekanntschaft mit der Natur oder Kunst wird deinen Geist erfreuen und kräftigen; und es wäre mir lieb, wenn das Cricketspiel das Gleiche mit deinen Armen und Beinen thäte. Ich würde es gern sehen, wenn du dich in körperlichen Übungen auszeichnetest; denn ich bin überzeugt, daß die besten und bei weitem angenehmsten Freuden des Geistes nur so lange recht genossen werden, als man noch auf den Beinen ist.« Einen noch wichtigeren Nutzen der Arbeit führt der große Theologe Jeremias Taylor an. »Fliehe den Müßiggang,« sagt er, »und fülle deine Zeit mit einer ernstlichen und nutzbringenden Thätigkeit aus! denn die böse Lust beschleicht dich am ersten in jenen unausgefüllten Augenblicken, in denen der Geist unbeschäftigt ist und der Körper ruht. Kein empfänglicher, gesunder und dabei müßiger Mensch bleibt tugendhaft, wenn er in Versuchung kommt; aber von allen Mitteln erweist sich hiergegen am wirksamsten die körperliche Arbeit, welche am leichtesten den Teufel aus dem Felde schlägt.«
Der praktische Erfolg im Leben hängt in höherem Maße von der physischen Gesundheit ab, als man im allgemeinen denkt, der Rittmeister Hodson schrieb eines Tages an einen Freund in der englischen Heimat: »Ich glaube, wenn ich hier in Indien gut vorwärts komme, so werde ich das – im wahren Sinne des Wortes – hauptsächlich meinem gesunden Magen verdanken.« Die Fähigkeit, in irgend einem Berufe ausdauernd zu arbeiten, hängt naturgemäß zum großen Teil von dem körperlichen Befinden ab; daher muß man eben auf die Gesundheit achten, durch welche die geistige Arbeit erst ermöglicht wird. Vielleicht ist auf den Mangel an körperlicher Bewegung jene unter hochgebildeten Männern häufig anzutreffende Neigung zur Unzufriedenheit, Trübseligkeit, Trägheit und Träumerei zurückzuführen, welche sich in einer Verachtung des wirklichen Lebens und in einem Abscheu vor Gebrauch und Herkommen offenbart – eine Neigung, als deren typischer Vertreter in England Lord Byron, in Deutschland aber die Romanfigur des Werther gilt. Dr. Channing nahm dieselbe Erscheinung auch in Amerika wahr, was ihn zu folgender Bemerkung veranlaßte: »Es wachsen gar zu viele unserer jungen Leute in der Schule des Weltschmerzes auf.« Das einzige Heilmittel für diese Bleichsucht jugendlicher Gemüter ist physische Bewegung – Thätigkeit. Arbeit, körperliche Beschäftigung!
Welchen Nutzen eine frühe Übung in freiwilligen mechanischen Arbeiten gewährt, läßt sich an der Jugend des Sir Isaak Newton nachweisen. Wenn er ein verhältnismäßig schwacher Schüler war, so handhabte er desto kräftiger Säge, Hammer und Handbeil – unbekümmert um den Lärm, den er damit auf seiner Stube verursachte. Er fertigte Modelle von Windmühlen, Wagen und Maschinen aller Art an; und als er älter wurde, machte es ihm Spaß, für seine Bekannten kleine Tische und Büffets zu fabrizieren. Smeaton, Watt und Stephens wußten als Knaben schon ebenso geschickt mit den verschiedensten Werkzeugen umzugehen; und wenn sie diese Art der Selbsterziehung nicht von früher Jugend an geübt hätten, so würden sie in ihrem Mannesalter wohl kaum das geleistet haben, was sie thatsächlich vollbrachten. In ähnlicher Weise bildeten sich auch die großen Erfinder und Mechaniker heran, deren Leben wir auf den vorausgehenden Seiten beschrieben haben, und bei denen die Erfindungsgabe und die Intelligenz durch die früh erlangte Geschicklichkeit der Hände praktisch unterstützt wurde. Selbst solchen Leuten, die sich aus dem Arbeiterstande zu einer mehr den Geist in Anspruch nehmenden Beschäftigung emporschwingen, ist ihre frühere Erziehung in ihrem späteren Berufe von Nutzen. Elihu Burritt behauptete, er bedürfe schwerer Arbeit, um erfolgreich studieren zu können: und mehr als einmal gab er das Unterrichten und Studieren auf, band sich seinen Lederschurz vor und stellte sich wieder in seiner Schmiede hinter den Amboß, um sich die Gesundheit seines Körpers und Geistes zu erhalten.
Wenn man die jungen Leute an die Handhabung mechanischer Werkzeuge gewöhnte, so würde man sie dadurch nicht nur mit Dingen aus dem gewöhnlichen Leben bekannt machen, sondern sie auch den Gebrauch ihrer Arme und Hände lehren, sie in gesunder Arbeit unterweisen, ihre Fähigkeiten auf greifbare und reale Gegenstände richten und ihnen einige praktische Kenntnisse in der Mechanik, sowie die Fähigkeit nützlichen Schaffens und die Gewohnheit ausdauernder physischer Anstrengung verleihen. Ein Vorzug, den die eigentlichen »arbeitenden Klassen« sicherlich den wohlhabenden Ständen gegenüber besitzen, besteht darin, daß sie sich von Jugend auf irgend einer mechanischen Beschäftigung unterziehen müssen, wodurch sie sich eine gewisse Geschicklichkeit der Hände und ein erhöhtes Maß Physischer Kraft aneignen. Der hauptsächlichste Nachteil, welcher mit dem Los der arbeitenden Klassen verknüpft ist besteht nicht darin, daß sie sich mit körperlicher Arbeit beschäftigen, sondern darin, daß sie sich ihr zu ausschließlich widmen müssen und darüber oft ihre moralische und geistige Bildung vernachlässigen. Die Jünglinge aus den bevorzugten Ständen werden in der Anschauung erzogen, daß die Arbeit gleichbedeutend mit Dienstbarkeit sei; sie fliehen sie demgemäß und bleiben in praktischer Beziehung vollkommen unwissend. Im Gegensatz dazu schließen sich die Leute der ärmeren Klassen allzu fest in den engen Kreis ihres Arbeiterberufs ein und wachsen in vielen Fällen auf, ohne lesen oder schreiben zu lernen. Es wäre aber doch wohl möglich, beide Mißstände dadurch zu vermeiden, daß man die körperliche Übung oder Arbeit mit der Pflege des Geistes vereinigte; und es machen sich bereits im Auslande verschiedene Anzeichen bemerkbar, welche eine allmähliche Einführung dieses gesunderen Erziehungssystems in Aussicht stellen.
Selbst der professionelle Erfolg hängt in nicht geringem Grade von der physischen Gesundheit des Menschen ab: und ein Journalist hat sogar zu behaupten gewagt, daß »die Größe unserer großen Männer ebensosehr eine Sache des Körpers als des Geistes sei.« (In einem Artikel der »Times«). Gesunde Atmungsorgane sind für den Erfolg eines Rechtsanwalts oder Politikers nicht minder unentbehrlich als ein geschulter Verstand. Die gründliche Oxydierung des Blutes durch die ungehinderte Berührung mit einer möglichst großen Luftmasse in den Lungen ist zur Erhaltung jener ungeschwächten Lebenskraft erforderlich, von welcher die energische Thätigkeit des Gehirns zum großen Teil abhängt. Der Jurist erklimmt die Höhen seines Berufes in dicht geschlossenen und heißen Gerichtsräumen; und der eifrige Parlamentsredner hat die Anstrengung und Aufregung langer und hitziger Debatten vor einem überfüllten Haufe zu ertragen. Daher werden an einen viel beschäftigten Rechtsanwalt oder thätigen Parlamentarier hinsichtlich der physischen Ausdauer und Arbeitskraft noch höhere Anforderungen gestellt als hinsichtlich der geistigen Fähigkeiten – Anforderungen, wie sie Brougham, Lyndhurst, Campbell, Peel, Graham und Palmerston (lauter Männer mit starken Lungen) in so bemerkenswerter Weise erfüllten.
Obgleich Sir Walter Scott auf der Edinburger Universität den Namen des »griechischen Dummkopfes« führte und außerdem einen lahmen Fuß hatte, so war er doch ein merkwürdig gesunder Jüngling. Im Lachsstechen nahm er es mit dem geschicktesten Fischer auf dem Tweed, im Bändigen eines wilden Pferdes mit jedem Jäger in Narrow auf. Als sich Sir Walter im späteren Leben literarischen Bestrebungen zuwandte, verlor er keineswegs seinen Geschmack an Vergnügungen in freier Luft; und wenn er vormittags an »Waverley« arbeitete, so hetzte er nachmittags Hasen. Der Professor Wilson war geradezu ein Athlet; er war im Schleudern des Wurfhammers genau so geschickt als in der Redekunst und Poesie. Auch Burns zeichnete sich als junger Mensch hauptsächlich durch seine Kunstfertigkeit im Laufen. Stoßen und Ringen aus. Einige unserer größten Theologen thaten sich in ihrer Jugend durch ihre physischen Kraftleistungen hervor. So war Isaac Narrow auf der Schule zu Chatterhouse als Faustkämpfer berühmt, in welcher Eigenschaft er sich oft genug eine blutige Nase holte: Andrew Fuller wurde als Ackerknecht in Soham hauptsächlich wegen seiner Geschicklichkeit im Boxen respektiert: und Adam Clarke befaß in seiner Knabenzeit anscheinend nur den Vorzug einer wunderbaren Körperkraft, durch die er große Steine weiterzurollen vermochte, und in welcher vielleicht schon die geheimnisvollen Ursachen jener anderen Kraft lagen, durch die er später in seinem Mannesalter gewaltige Gedanken in die Welt schleuderte.
Wenn es aber in erster Linie erforderlich ist, daß man sich die feste Basis der physischen Gesundheit sichere, so muß man doch bemerken, daß der Studierende sich ebenso notwendig, an einen regen geistigen Fleiß gewöhnen muß. Das Wort, nach welchem »die Arbeit alles überwindet« gilt besonders für die Aneignung des Wissens. Der Weg zur Gelehrsamkeit steht allen frei, die sich der erforderlichen Mühe und Anstrengung unterziehen wollen: und es giebt keine Schwierigkeiten, die so groß waren, daß sie der Lernende nicht mit festem Willen überwinden könnte. Chatterton that den charakteristischen Ausspruch: »Gott habe seine Kreaturen mit Armen in die Welt gesetzt, die lang genug wären, um alles zu erreichen, wonach sie ausgestreckt würden.« In wissenschaftlichen wie in geschäftlichen Dingen ist die Energie die Hauptsache. Wir müssen die Arbeit als »dringend« betrachten und das Eisen nicht nur schmieden, so lange es heiß ist, sondern auch so lange, bis es heiß wird! Es ist erstaunlich, wie viel in der Selbsterziehung von jenen energischen und beharrlichen Menschen geleistet werden kann, die sorgfältig jede dargebotene Gelegenheit benutzen und jeden müßigen Augenblick, den der Träge vergeuden würde, in nützlicher Weise anwenden. So studierte Ferguson die Astronomie durch Betrachtung des Firmaments, wahrend er, in einen Schafpelz gehüllt, auf den Hügeln des Hochlandes lag – und Stone die Mathematik, während er als Gärtner im Tagelohn arbeitete. Drew beschäftigte sich beim Schuhflicken mit den höchsten philosophischen Problemen: und Miller stellte geologische Untersuchungen an, während er als Tagelöhner in einem Steinbruch angestellt war.
Sir Joshua Reynolds glaubte – wie wir schon gesagt haben – so fest an die Macht des Fleißes, daß er behauptete, alle Menschen könnten Hervorragendes leisten, wenn sie nur fleißig und geduldig arbeiten wollten. Er meinte, der Weg des Genius sei reich an saurer Mühe, und es gebe für die Leistungsfähigkeit des Künstlers keine andere Grenze als seinen Fleiß, Er glaubte nicht an die sogenannte »Inspiration,« sondern traute allein dem Studium und der Arbeit. »Kein Mensch,« sagte er. »erlangt Bedeutung, wenn er nicht arbeitet.« »Habt ihr große Talente, so wird der Fleiß sie vervollkommnen; habt ihr mäßige Gaben, so wird er das Fehlende ersetzen. Nichts wird der zielbewußten Arbeit versagt: und nichts wird ohne sie erreicht.« Sir Fowell Buxton glaubte ebenso fest an die Macht des Studiums und war der bescheidenen Meinung, er könne ebensoviel leisten als andere Leute, wofern er nur das doppelte Maß der Zeit und Arbeit anwendete, das jene gebrauchten. Gewöhnliche Gaben, die sich mit ungewöhnlichem Fleiße verbanden, flößten ihm das meiste Vertrauen ein. »Ich habe,« sagt Dr. Roß, »in meinem Leben verschiedene Leute kennen gelernt, die in späteren Zeiten vielleicht für Genies gelten werden, und die sich doch alle in schwerer, zielbewußter Arbeit plagten. Der Genius wird an seinen Werken erkannt; ein Genius ohne Werke ist ein blinder Glaube, ein stummes Orakel, verdienstliche Werke aber sind das Resultat von Zeit und Arbeit und können nicht durch den bloßen Willen oder Wunsch vollbracht werden. – – – Jede große Leistung erfordert eine lange Vorbereitung. Die Geschicklichkeit kommt erst durch die Übung. Alles, was leicht erscheint – selbst das Gehen – ist im Anfang schwer gewesen. Der Redner, aus dessen Blicken das Feuer der augenblicklichen Begeisterung sprüht, und von dessen Lippen eine Flut edler Gedanken strömt, die uns durch ihre Neuheit überraschen und durch ihre Weisheit und Wahrheit erheben, hat das Geheimnis seiner Kunst nur durch geduldige Übung und nach vielen bitteren Enttäuschungen erlernt.»Die Selbstvervollkommnung – eine Ansprache an die Studenten« von George Roß, Doktor der Medizin, S. 1–20, aus dem »medizinischen Rundschreiben« (Medical Circular) abgedruckt. Diese Ansprache, der wir unser Kompliment machen, enthält viele ausgezeichnete Gedanken über die Selbsterziehung und ist in so verständigem Tone gehalten, daß sie in erweiterter Gestalt bekannt zu werden verdient.
Gründlichkeit und Genauigkeit sind beim Studium zwei sehr wichtige Erfordernisse. Als Francis Horner sich einen Plan für seine geistige Ausbildung machte, legte er einen besonderen Wert darauf, daß er seinen Fleiß möglichst ausschließlich auf einen Gegenstand richtete, um desselben völlig Herr zu werden: demzufolge beschränkte er sich auf die Lektüre weniger Bücher und widerstand mit großer Festigkeit »jeder Versuchung, oberflächlich zu lesen.« Der Wert unseres Wissens besteht nicht in seiner Menge, sondern in dem guten Gebrauch, den wir davon machen. Daher ist ein kleineres Maß genauer und gründlicher Kenntnisse für das praktische Leben, wertvoller als eine größere Menge oberflächlichen Wissens.
Ein Ausspruch Ignaz Loyolas lautete: »Wer ein Werk zu seiner Zeit gut vollbringt, leistet das Beste.« Wenn sich unsere Bestrebungen über ein zu großes Feld verbreiten, so wird dadurch unfehlbar unsere Kraft geschwächt und unser Vorwärtskommen gehindert – während wir selbst die Gewohnheit annehmen, unregelmäßig und ohne Energie zu arbeiten. Lord St. Leonards sprach einmal mit Sir Fowell Buxton über die Art, in welcher er studiert hatte, und enthüllte damit das Geheimnis seines Erfolges. »Als ich meine juristischen Studien begann.« sagte er, »beschloß ich, mir alles was ich lernte, völlig zu eigen zu machen, und nie zu etwas Neuem überzugehen, ehe ich das vorige vollkommen begriffen. Viele meiner Kommilitonen lernten in einem Tage so viel als ich in einer Woche: aber am Ende des Jahres saßen meine Kenntnisse noch so fest als zu der Stunde, da ich sie mir aneignete, während ihnen die ihrigen bereits aus dem Gedächtnis geschwunden waren.«
Nicht der ist weise, welcher viel gelernt oder studiert hat, sondern der, welcher das gelernt hat, was für seine Zwecke paßt: und welcher gleichzeitig seinen Geist mit voller Energie auf den augenblicklichen Gegenstand der Betrachtung zu lenken vermag, weil das gesamte System seiner geistigen Kräfte in einer gewohnheitsmäßigen, strengen Disciplin steht. Abernethy meinte sogar, sein Geist besäße gleich der Luft einen Sättigungspunkt: und wenn er mit mehr Wissen beschwert würde, als er fassen könnte, so hätte dies nur zur Folge, daß bei Aufnahme der neuen Kenntnisse ein Teil der alten ausgestoßen würde. Hinsichtlich des Studiums der Medizin bemerkte er: »Wenn ein Mensch eine klare Vorstellung von dem hat, was er eigentlich will, so wird er meistens auch die geeigneten Mittel zur Erreichung seines Zweckes finden.«
Das nützlichste Studium ist dasjenige, welches planmäßig und mit Verfolgung eines bestimmten Zieles betrieben wird. Je gründlicher wir uns irgend eine Art des Wissens aneignen, um so besser können wir uns seiner in jedem Augenblick bedienen. Es genügt daher nicht, daß wir Bücher besitzen, oder daß wir wissen, wo wir Auskunft über etwas finden können. Die praktische Weisheit, welche den Zwecken des Lebens dient, müssen wir mit uns herumtragen, damit sie uns zum augenblicklichen Gebrauch zur Hand sei. Es ist nicht genug, daß wir ein Kapital im Kasten verwahren, aber keinen Heller in der Tasche haben, wir müssen etwas von dem Bargelde des Wissens mit uns führen, um es gelegentlich in Umlauf setzen zu können; anderenfalls sind wir ziemlich hilflos, wenn eine derartige Forderung an uns herantritt.
Entschlossenheit und Schnelligkeit sind bei der Selbsterziehung ebenso notwendig als in geschäftlichen Angelegenheiten. Die Entwicklung dieser Eigenschaften wird dadurch befördert, daß man junge Leute zum fleißigen Gebrauch der eigenen Kraft ermutigt und ihnen schon frühe so viel Aktionsfreiheit gewährt, als irgend angänglich ist. Zu viel Bevormundung und Zwang lassen die Gewohnheit der Selbsthilfe nicht erstarken; sie gleichen Schwimmblasen, die man einem Menschen unter die Arme bindet, der nicht schwimmen gelernt hat. Die Zaghaftigkeit ist vielleicht ein größeres Hindernis der Selbstvervollkommnung, als man im allgemeinen glaubt. Jemand hat gesagt, die Hälfte aller Mißerfolge im Leben, rühre daher, daß man sein Pferd zurückhalte, wenn es laufen wolle. Dr. Johnson pflegte seinen Erfolg seinem Selbstvertrauen zuzuschreiben. Die wahre Bescheidenheit verträgt sich sehr wohl mit dem Bewußtsein des eigenen Wertes und verlangt durchaus nicht das Bekenntnis absoluter Verdienstlosigkeit. Wenn es auch Leute giebt, die sich selbst betrügen, indem sie eine zu große Zahl vor ihre Nullen setzen, so ist doch andererseits der Mangel an Mut und Selbstvertrauen, mit welchem wiederum der Mangel an energischer Thätigkeit zusammenhängt, ein Charakterfehler, der die individuelle Entwicklung arg behindert; und der Grund dafür, daß so wenig geleistet wird, liegt meistens darin, daß man so wenig unternimmt.
Im allgemeinen möchten die Menschen recht gern die Früchte der Selbsterziehung genießen; aber sie sind größtenteils durchaus abgeneigt, den unvermeidlichen Preis dafür zu zahlen, welcher in ernster Arbeit besteht. Dr. Johnson meinte, »der Widerwille gegen das Lernen sei eine Krankheit der derzeitigen Generation«; und diese Bemerkung läßt sich auch auf unsere Tage anwenden. Wir wollen nicht an die Wahrheit glauben, daß es nur einen »königlichen« Weg zur Weisheit giebt, sondern scheinen vielmehr sehr fest von der Existenz einer »volkstümlichen« Straße überzeugt zu sein, die uns zum gleichen Ziele führen könnte. Wir suchen uns das Lernen so viel als möglich zu erleichtern; wir schlagen, um uns Zeit und Mühe zu ersparen, wissenschaftliche Richtstege ein; wir lernen die französische und lateinische Sprache »in zwölf Lektionen« oder »ohne Lehrer.« Wir gleichen jener Modedame, die einen Lehrer nur unter der Bedingung engagierte, daß er sie nicht mit Verben und Participien plagte. Auf solche Weise eignen wir uns auch oberflächliche Kenntnisse in der Wissenschaft an; wir studieren Chemie, indem wir einen kleinen Cyklus von Vorlesungen anhören, die uns durch Experimente erläutert und interessant gemacht werden; und wenn wir Lachgas eingeatmet, oder gesehen haben, wie grünes Wasser in rotes verwandelt und Phosphor in Sauerstoff verbrannt wird, dann haben wir uns jenes Halbwissen angeeignet, das vielleicht besser ist als nichts, aber doch eigentlich zu nichts gut ist. So bilden wir uns zuweilen ein, belehrt zu sein, während man uns doch nur unterhalten hat.
Wenn man jungen Leuten Gelegenheit giebt, sich Kenntnisse auf so leichte Art – ohne Studium und Arbeit – anzueignen, so verleiht man ihnen damit keine Bildung. Ihr Geist wird beschäftigt, aber nicht bereichert. Er wird für den Augenblick angespornt und gewinnt eine gewisse Schärfe und Gewandtheit; wenn er aber keinen festen Willen und kein höheres Ziel als das Vergnügen hat, so wird er keinen wirklichen Gewinn davontragen. In solchen Fällen kann das Wissen nur einen flüchtigen Eindruck machen, eine vorübergehende Empfindung erregen – nichts weiter. Es ist dies in der That der reinste Epikuräismus des Verstandes, der sicherlich mehr sinnlicher als geistiger Natur ist. So liegen vielfach die besten Kräfte des Geistes – alle diejenigen, welche durch eine energische Anstrengung und selbständige Thätigkeit wachgerufen werden – in tiefem Schlummer und treten wohl nie in Aktion – wofern nicht der Alarmruf eines plötzlich hereinbrechenden Unheils oder Leides erschallt, das in solchem Falle einen Segen bedeutet, wenn es dazu beiträgt, die Kraft der Energie zu wecken, die sonst vielleicht nie aus ihrem Schlafe aufgeschreckt würde.
Wenn die jungen Leute daran gewöhnt werden, die Belehrung in der Gestalt des Vergnügens zu suchen, so werden sie natürlich nicht Lust haben, sich dieselbe durch Fleiß und Arbeit zu erwerben. Da sie sich ihre Kenntnisse und ihr Wissen »spielend« aneignen, so sind sie bald nur zu sehr geneigt, beides als eine Spielerei zu betrachten; und die hieraus resultierende Gewohnheit geistiger Zersplitterung muß im Laufe der Zeit auf ihren Geist und Charakter eine völlig entnervende Wirkung ausüben. »Ein Lesen ohne Auswahl,« sagt Robertson von Brighton, »schwächt – ähnlich wie das Rauchen – den Verstand und ist nur eine Entschuldigung des faulen Müßiggangs. Es stellt die schlimmste Art der Trägheit dar und erzeugt eine größere Unfähigkeit als irgend etwas anderes.«
Das Übel hat die Tendenz, weiter um sich zu greifen, und macht sich in mannigfacher Weise bemerklich. Das geringste Unheil, das daraus entsteht, ist die Oberflächlichkeit; das größte aber die daraus entspringende Abneigung vor ernster Arbeit und die geistige Energielosigkeit, die damit zusammenhängt. Wenn wir uns wirkliches Wissen aneignen wollen, so müssen wir uns eifrig anstrengen und denselben beharrlichen Fleiß anwenden, den unsere Vorväter bewiesen; denn heute wie zu allen Zeiten ist die Arbeit der unvermeidliche Preis, der für alles wirklich Wertvolle gezahlt werden muß. Wir müssen uns damit begnügen, energisch unseren Zweck zu verfolgen – während wir in Geduld die Resultate erwarten. Gerade auf den edelsten Gebieten kommt man nur langsam vorwärts; aber wer treu und eifrig arbeitet, wird sicherlich der einst seinen Lohn finden. Ein Mensch, in dessen Leben sich der Geist des Fleißes bethätigt, wird allmählich dazu geführt werden, sich mit immer würdigeren und nutzbringenderen Gegenständen zu beschäftigen. Aber immer weiter noch müssen wir streben; denn das Werk der Selbsterziehung ist nie vollendet. »Das Glück liegt in der Arbeit,« sagt der Dichter Oray; und der Bischof Cumberland erklärt: »Es ist besser, aufgebraucht zu werden als zu verrosten.« »Können wir uns nicht in der Ewigkeit ausruhen?« fragt Arnauld; und Marnix de St. Aldegonde, der energische, allezeit thätige Freund Wilhelms des Schweigsamen, hatte den Wahlspruch: » Repos ailleurs.«
Nur der gute Gebrauch, welchen wir von den uns verliehenen Kräften machen, giebt uns einen begründeten Anspruch auf Achtung. Wer ein einziges Talent hat und dasselbe auf rechte Art anwendet, verdient ebensoviel Ehre als ein anderer, der über zehn Talente verfügt. In dem Besitz hervorragender Geistesgaben liegt kein höheres Verdienst als in dem Antritt einer großen Erbschaft. Es kommt ganz darauf an, wie man jene Gaben gebraucht – wie man das ererbte Vermögen verwaltet. Der Geist kann große Schätze des Wissens ansammeln, Ohne sie in irgend einer Weise nutzbringend zu verwenden; auch hat die Gelehrsamkeit nur dann einen wirklichen Wert, wenn sie sich mit Herzensgüte, Weisheit und Lauterkeit des Charakters verbindet. Pestalozzi behauptete sogar, daß die ausschließliche Bildung des Geistes verderblich sei; daß alles Wissen in dem Boden eines veredelten Willens wurzeln und daraus Nahrung ziehen müsse. Der Besitz geistiger Bildung kann den Menschen vielleicht vor gemeinen Verbrechen bewahren; aber er ist keineswegs imstande, ihn vor der Selbstsucht und anderen Lastern zu schützen, wenn nicht daneben gesunde Grundsätze und gute Gewohnheiten vorhanden sind. Daher begegnen wir im täglichen Leben so vielen Menschen, die bei hoher geistiger Bildung einen erbärmlichen Charakter aufweisen – die alle Bücherweisheit in sich aufgenommen haben und doch so wenig Lebensweisheit besitzen, daß ihr Beispiel eher abschrecken als zur Nacheiferung reizen sollte. Man hört heutzutage so oft den Ausspruch: »Das Wissen ist eine Macht;« aber dasselbe könnte man ebenso gut vom Fanatismus, Despotismus und Ehrgeiz behaupten. Wenn das Wissen nicht unter der Leitung eines weisen Willens steht, so könnte es unter Umständen nur dazu dienen, schlechte Menschen noch gefährlicher zu machen und die Gesellschaft, in welcher es als das edelste Gut galt, in eine Art Hülle zu verwandeln.
Es ist sogar möglich, daß wir heutzutage der litterarischen Bildung einen zu hohen Wert beimessen. Wir bilden uns leicht ein, große Fortschritte zu machen, weil wir viele Bibliotheken, Institute und Museen besitzen. Aber für die edelste Art individueller Selbsterziehung sind derartige Hilfsmittel ebenso oft ein Hindernis als ein Vorteil. Der Besitz oder die freie Benutzung einer Bibliothek schließt ebensowenig den Begriff der Gelehrsamkeit in sich, als in dem Besitz des Reichtums der Begriff der Großmut liegt. Wenn wir auch unzweifelhaft große Hilfsmittel besitzen, so gilt doch noch heute wie einstmals die Wahrheit, daß der Einzelne Weisheit und Erkenntnis nur auf dem alten Wege der Beobachtung, Aufmerksamkeit, Beharrlichkeit und emsigen Bemühung erlangen kann. Der Besitz des bloßen Materials der Wissenschaft bedeutet noch keineswegs Weisheit und Erkenntnis; diese werden durch eine höhere Disciplin als die des Lesens gewonnen – welches letztere doch oft nur die rein passive Aufnahme der Gedanken anderer Leute darstellt und geringe oder gar keine geistige Anstrengung erfordert. Vielfach ist unser Lesen nur eine Art geistigen Rausches, welcher uns für den Augenblick in eine angenehme Erregung versetzt, aber nicht im mindesten dazu beiträgt, unseren Geist zu bereichern oder unseren Charakter zu bilden.
So wiegen sich viele in dem angenehmen Wahn, daß sie sich geistige Bildung aneignen – während sie in Wirklichkeit doch nur das minder edle Geschäft des Zeittötens betreiben, das im besten Fall nur insofern nützt, als es sie von schlimmeren Dingen abhält. Man darf auch nicht vergessen, daß alle Bücherweisheit, wie wertvoll sie auch sein mag, nur die Natur der Gelehrsamkeit an sich trägt; wogegen das Wissen, welches uns durch das praktische Leben verliehen wird, das Wesen der Weisheit besitzt; ein kleiner Vorrat der letzteren aber ist weit wertvoller als ein noch so großes Maß der ersteren. Lord Bolingbroke sagte sehr richtig: »Jedes Studium, das nicht direkt oder indirekt dazu beiträgt, uns zu besseren Männern oder Bürgern zu machen, ist im besten Falle nur eine verkappte, sinnreiche Art des Müßiggangs: wie auch das dadurch erworbene Wissen nichts weiter als eine anständige Form der Unwissenheit ist.«
So nützlich Und lehrreich eine gute Lektüre auch sein mag, so stellt sie doch nur ein besonderes Mittel der geistigen Bildung dar und hat auf die Entwicklung des Charakters einen minder großen Einfluß als die praktische Erfahrung oder das gute Beispiel. Es gab weise, tapfere und ehrenwerte Männer in England, lange bevor die Kunst des Lesens unter dem Volke verbreitet war. Die Magna Charta wurde durch Männer erwirkt, die an Stelle ihres Namens ein Zeichen unter die Urkunde setzten. Aber wenn sie die Bestimmungen der neuen Verfassung auch nicht auf dem Papier zu lesen vermochten, so wußten sie doch die Sache an sich sehr wohl nach ihrem Wert zu schätzen und haben sie wacker verteidigt. So wurde das Fundament der englischen Freiheit von Männern geschaffen, die den edelsten Charakter besaßen, obwohl sie weder lesen noch schreiben konnten. Und wir müssen in der That zugeben, daß der Hauptzweck der Bildung nicht darin liegt, daß wir unseren Geist mit den Gedanken anderer Leute anfüllen und so die passiven Recipienten ihrer Beobachtungen weiden, sondern vielmehr darin, daß wir unsere eigenen Geisteskräfte ausbilden und uns auf solche Art fähig machen, immer nutzbringender und nachhaltiger in der Lebenssphäre zu wirken, in welche wir gestellt sind. Viele unserer Landsleute, die sich durch Energie und nützliche Leistungen hervorthaten, haben nur wenig gelesen. Mindley und Stephenson erlernten die Kunst des Lesens und Schreibens erst in ihrem Mannesalter; und doch haben sie Großes geleistet und sind tüchtige Männer gewesen; John Hunter konnte mit zwanzig Jahren nur sehr mangelhaft lesen und schreiben, nahm es aber im Verfertigen von Tischen und Stühlen mit jedem Tischler auf. »Ich lese nie,« sagte der große Physiologe, als er einst seinen Hörern eine Vorlesung hielt;, »dies hier« – damit deutete er auf irgend einen Teil des vor ihm liegenden Objekts – »das ist der Gegenstand, den Sie studieren müssen, wenn Sie sich in Ihrem Berufe auszeichnen wollen.« Als man ihm erzählte, einer seiner Zeitgenossen habe es ihm zum Vorwurf gemacht, daß er die toten Sprachen nicht verstehe, entgegnete er: »Ich würde es übernehmen, ihm an dem toten Körper Dinge zu zeigen, die er in keiner toten oder lebenden Sprache würde bezeichnen können.«
Es kommt also nicht auf die Menge, sondern auf den Zweck der Kenntnisse an. Alles Wissen sollte das Ziel haben, uns höhere Weisheit und Charakterfestigkeit zu verleihen – uns besser, glücklicher und nützlicher zu machen – d. h. wohlthätiger, energischer und leistungsfähiger in allen edleren Bestrebungen des Lebens. »Wenn die Menschen erst einmal in die Gewohnheit verfallen, das Talent an sich zu bewundern und zu ermutigen, ohne auf den moralischen Charakter – der in seiner konkreten Gestalt durch das religiöse und politische Glaubensbekenntnis dargestellt wird – einen Wert zu legen: so befinden sie sich bereits auf dem breiten Wege des Verderbens« (»Saturday Review«). Wir müssen selbst etwas sein und leisten und uns nicht damit zufrieden geben, darüber nachzulesen und nachzudenken, was andere Menschen gewesen sind oder geleistet haben. Es liegt uns ob, unsere beste Erkenntnis im Leben zu bethätigen, unsere besten Gedanken in Thaten umzusetzen. Wir sollten wenigstens wie Richter sagen können: »Ich habe aus mir gemacht, was aus diesem Stoff gemacht werden konnte: und mehr kann kein Mensch von mir verlangen;« denn es ist jedes Menschen Aufgabe, sich mit Gottes Hilfe so zu bilden und zu führen, wie es seinen Pflichten und den Fähigkeiten entspricht, die ihm verliehen worden sind.
Selbsterziehung und Selbstbeherrschung sind der Anfang der Lebensweisheit und haben ihre gemeinsame Wurzel in der Selbstachtung. Hieraus aber entspringt die Hoffnung, welche die Gefährtin der Macht und die Mutter des Erfolgs ist: denn wer zuversichtlich hofft, ist mit Wunderkraft begabt. Auch der Bescheidenste darf sagen: »Mich selbst zu achten und meine Kräfte zu entwickeln – das ist die vornehmste Pflicht meines Lebens! Als integrierender und verantwortlicher Teil des großen gesellschaftlichen Systems bin ich es der Gesellschaft und ihrem Urheber schuldig, daß ich meinen Leib, meine Seele oder meine geistigen Instinkte weder erniedrige noch zerstöre. Ich habe im Gegenteil die Verpflichtung, alle Teile meiner Konstitution so viel als möglich zu vervollkommenen. Ich soll nicht nur meine bösen Triebe bekämpfen, sondern auch die in meiner Natur schlummernden guten Keime zum Leben erwecken. Und indem ich mich selbst achte, muß ich auch andere respektieren – wie sie ihrerseits verpflichtet sind, mich zu achten.« Das ist das Gebot der gegenseitigen Achtung, Gerechtigkeit und Ordnung, dessen schriftliche Beglaubigung und Bürgschaft die Gesetze sind.
Die Selbstachtung ist das stolzeste Kleid, in welches der Mensch sich hüllen – das erhebendste Gefühl, das seine Seele durchdringen kann. Einer der weisesten Lehrsprüche aus den »goldenen Versen« des Pythagoras ist derjenige, welcher den Schüler ermahnt, »sich selbst zu ehren.« Von diesem erhabenen Grundsatz geleitet, wird er seinen Körper nicht durch Ausschweifungen, seine Seele nicht durch gemeine Gedanken beflecken. Diese Gesinnung, im täglichen Leben bethätigt, bildet die Wurzel aller Tugenden – der Reinheit. Mäßigkeit, Züchtigkeit, Sittlichkeit und Religion. »Die fromme und gerechte Selbstehrung,« sagte Milton, »darf als der Lebenssaft und Urquell gelten, aus welchem alle löblichen und würdigen Unternehmungen ihre Kraft ziehen.« Wer von sich selbst gering denkt, erniedrigt sich dadurch nicht nur in seiner eigenen Achtung, sondern sinkt auch in der Achtung der anderen. Und der Gesinnung werden die Thaten entsprechen. Der Mensch kann nicht zur Höhe streben, wenn er den Blick zur Erde richtet; will er emporsteigen, so muß er das Auge erheben. Auch der bescheidenste Mensch vermag durch diesen Gedanken Kraft zu gewinnen. Sogar die Armut wird durch die Selbstachtung geadelt und erleuchtet; und es ist wahrlich ein erhabener Anblick, den ein armer Mann gewährt, wenn er inmitten der Versuchungen standhaft bleibt und es verschmäht, sich durch gemeine Handlungen zu erniedrigen.
Man muß sich aber hüten, den Wert der Selbstvervollkommnung dadurch herabzusetzen, daß man dieselbe zu ausschließlich als ein Mittel des weltlichen Erfolgs betrachtet. In diesem Lichte betrachtet, ist die Bildung ohne Frage eines der besten Anlageobjekte für Zeit und Arbeit. Auf jedem Gebiet des Lebens befähigt die Intelligenz den Menschen, sich schneller den Umständen anzupassen, bessere Arbeitsmethoden zu erfinden und sich in jeder Beziehung geeigneter, geschickter und leistungsfähiger zu zeigen. Sowohl der, welcher mit dem Kopfe, als auch ein anderer, der mit den Händen arbeitet wird seine Aufgabe mit klarerem Blick erfassen und die Empfindung einer wachsenden Kraft haben – die vielleicht das köstlichste Bewußtsein ausmacht, welches den menschlichen Geist erfüllen kann. Die Fähigkeit der Selbsthilfe wird allmählich zunehmen und im Verein mit der gesteigerten Selbstachtung den Menschen gegen Versuchungen niederer Art wappnen. Die Gesellschaft mit ihrem Treiben wird für ihn ein höheres Interesse gewinnen; seine Sympathien werden sich vertiefen und erweitern; und er wird so dazu geführt werden, nicht nur für sich, sondern auch für andere zu arbeiten.
Die Selbsterziehung wird aber nicht immer eine so hervorragende Bedeutung verleihen wie in den zahlreichen, bisher angeführten Fällen. Die große Mehrheit der Menschen – so gebildet sie auch sein mag – wird sich notgedrungen in den gewöhnlichen Zweigen der Industrie beschäftigen müssen; und kein noch so hoher Bildungsgrad, den man der Gesamtheit verleihen könnte, vermöchte sie – was übrigens auch durchaus nicht wünschenswert wäre – von dem notwendigen Tagewerk der menschlichen Gesellschaft zu befreien. Auch glauben wir, daß sich dasselbe recht wohl vollbringen läßt. Wir können den Wert der Arbeit dadurch erhöhen, daß wir sie mit edlen Gedanken verbinden, welche sowohl der niedrigsten als auch der höchsten Stellung zur Zierde gereichen. Wie arm oder bescheiden ein Mensch auch sein mag: so könnte ihn doch der größte Denker der Gegenwart oder irgend einer anderen Zeit in seiner Wohnung – und wäre es die armseligste Hütte – besuchen und ihm eine Zeitlang Gesellschaft leisten. So kann uns also die Gewohnheit, gute Bücher zu lesen, ein großes Vergnügen und eine erhöhte Bildung verschaffen, während sie gleichzeitig einen sanften, wohlthätigen Zwang auf die ganze Haltung unseres Charakters und Lebens ausübt. Und wenn die Bildung uns keine weltlichen Schätze verleiht, so bringt sie uns doch jedenfalls in die Gesellschaft erhabener Gedanken. Ein Edelmann fragte einst einen Weisen in verächtlichem Tone: »Was habt Ihr mit all Eurer Philosophie erreicht?« – »Zum wenigsten habe ich an mir selbst einen guten Gesellschafter gewonnen,« lautete die Antwort des weisen Mannes.
Aber viele verzagen an dem Werk der Selbstvervollkommnung und verlieren gänzlich den Mut, weil sie in der Welt nicht so vorwärts kommen, wie sie es zu verdienen meinen. Wenn sie ihre Eichel in die Erde gesteckt haben, soll mit einem Schlage eine Eiche daraus werden. Sie betrachten das Wissen – so zu sagen – als einen Handelsartikel und fühlen sich nun enttäuscht, wenn sie sehen, daß es nicht so hoch im Preise steht, als sie dachten. Herr Tremenheere erzählt in einem seiner Schulberichte (von 1840-1841) die folgende Geschichte: Ein Schulmeister in Norfolk sah zu seinem Kummer die Zahl seiner Schüler rasch abnehmen. Als er die Eltern fragte, warum sie ihre Kinder nicht mehr zur Schule schickten, antworteten ihm die meisten, sie hätten gedacht, »ihre Kinder würden durch den Unterricht besser daran sein als bisher:« aber da sie gesehen, »daß er ihnen doch nichts nütze,« so hätten sie die Kleinen aus der Schule genommen und wollten nun überhaupt nichts mehr von der Bildung wissen!
Auch in anderen Klassen treffen wir dieselbe niedrige Auffassung der Bildung an: und die falschen Lebensanschauungen, welche in der Gesellschaft mehr oder weniger verbreitet sind, bestärken dieselben noch. Wer aber die Bildung nicht als eine Kraft betrachtet, die den Charakter stärkt und den Geist entwickelt, sondern darin nur ein Mittel sieht, durch das man anderen in der Welt den Rang abläuft oder sich geistig zerstreut oder unterhält – der stellt sie in der That auf ein sehr niedriges Niveau. »Das Wissen ist,« sagt Bacon, »nicht ein Kaufladen, sondern ein reiches Schatzhaus – zum Ruhme des Schöpfers und zur Aushilfe für die menschliche Kraft.« Es ist ohne Zweifel sehr löblich, wenn ein Mensch sich emporzuarbeiten und seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern sucht; aber dies darf nicht auf Kosten seiner Persönlichkeit geschehen. Wer seinen Geist zum bloßen Sklaven des Körpers macht, erniedrigt ihn; und wenn wir mit einer Jammermiene umhergehen und unser trauriges Los beklagen, das uns nicht den weltlichen Erfolg gebracht, der schließlich mehr von den geschäftlichen Tugenden des Fleißes und der Aufmerksamkeit als von dem eigentlichen Wissen abhängt – so beweisen wir damit einen beschränkten Geist und ein mürrisches Gemüt. Solche Menschen können nicht besser zurechtgewiesen werden als durch die Worte Robert Southeys, der einem Freunde, welcher sich seinen Rat erbat, folgendes schrieb: »Ich möchte dir einen Rat geben, wenn es etwas nützen könnte; aber es giebt kein Heilmittel für Leute, die krank sein wollen. Ein guter und verständiger Mann kann zuweilen der Welt zürnen oder auch zu Zeiten um sie trauern; wer aber seine Pflicht in ihr erfüllt, kann sicherlich nicht ewig mit ihr unzufrieden sein. Wenn es einem Manne von guter Erziehung, der Gesundheit, Augen, Hände und Muße besitzt, an würdigen Zielen fehlt, so kann dies nur daher kommen, daß der allmächtige Gott alle diese Segnungen an einen Mann verschwendete, der ihrer nicht wert war.« Man setzt die Bildung aber auch herab, wenn man sie als ein bloßes Mittel der geistigen Zerstreuung und Unterhaltung betrachtet. Dieser Anschauung huldigen in unseren Tagen gar viele. Das Wohlgefallen an leichtfertiger und aufregender Lektüre ist fast zu einer Manie geworden, deren Einfluß sich in mannigfacher Weise in unserer modernen Litteratur bemerkbar macht. Um dem Geschmack des Publikums zu schmeicheln, müssen unsere Bücher und Zeitschriften scharf gepfeffert, amüsant und komisch sein; es dürfen darin weder vulgäre Redensarten, noch zahlreiche Beispiele von Verletzungen göttlicher und menschlicher Gesetze fehlen. Douglas Ferrold bemerkte einmal bezüglich dieser Tendenz: »Ich bin überzeugt – oder vielmehr ich hoffe – daß die Welt endlich dessen müde werden wird, daß man alle Dinge ins Lächerliche zieht. Schließlich hat das Leben doch etwas Ernsthaftes, und die Geschichte der Menschheit kann nicht ganz und gar eine Komödie sein. Aber manche Menschen, glaube ich, möchten sogar eine komische »Bergpredigt« schreiben. Man denke sich einmal eine komische »Geschichte Englands;« eine Posse, die Alfred den Großen, einen Schwank, der Sir Thomas More zum Helden hätte; oder ein Lustspiel, das die Geschichte seiner Tochter behandelte, die sich das Haupt des Toten ausbat und bestimmte, daß es auf ihre Brust gelegt würde, wenn sie selbst im Sarge ruhte! Wahrhaftig – die Welt wird dieser Blasphemien müde werden!« – John Sterling äußerte sich in ähnlichem Sinne. »Die Zeitschriften und Romane dieser Generation,« sagte er, »sind für uns alle – und ganz besonders für diejenigen, deren Charakter noch in der Bildung begriffen ist – ein neuer und sehr wirksamer Ersatz für die Plagen Ägyptens – ein Ungeziefer, das uns das gesunde Wasser verdirbt und uns in unseren Wohnräumen belästigt.« Als eine Erfrischung nach der Arbeit und eine Erholung nach ernsteren Beschäftigungen ist die Lektüre einer gut geschriebenen Erzählung, die von einem begabten Autor herrührt, ein hohes geistiges Vergnügen, das für alle Arten von Lesern – alte wie junge – einen großen Reiz hat; auch würden wir niemand, der sich dabei in vernünftigen Grenzen hält, in diesem Genuß beschränken wollen. Bildet aber – wie bei manchen Leuten, welche die Schmöker aus den Bücherfächern der Leihbibliotheken förmlich verschlingen – die Romanlitteratur die einzige geistige Kost, und werden die Mußestunden fast ausschließlich mit dem Studium jener trügerischen Bilder des menschlichen Lebens angefüllt, welche sich in so vielen Romanen vorfinden, so ist dies viel schlimmer als Zeitverschwendung – es ist geradezu verderblich! Der gewohnheitsmäßige Romanleser giebt sich so oft künstlich erzeugten Empfindungen hin, daß darüber sein gesundes und natürliches Gefühl leicht verdorben oder abgestumpft wird. »Ich mag durchaus kein Trauerspiel sehen.« sagte einmal ein lustiger Herr zu dem Erzbischof von York, »es würde mir das Herz zerreißen.« – Das Mitleid, welches durch die poetische Fiktion hervorgerufen wird, setzt sich nicht in Thaten um; die Gefühle, die dabei erregt werden, legen uns weder Unbequemlichkeiten noch Opfer auf; und so kommt es, daß ein Herz, welches allzuoft durch die Phantasie gerührt worden ist, unempfindlich gegen die Wirklichkeit wird. Indem sich so allmählich der Stahl des Charakters abnutzt, verliert dieser selbst seine Elastizität. »Daß ein Mensch sich in seinem Geiste schöne Bilder der Tugend ausmale,« sagt der Bischof Butler, »ist weder nötig noch trägt es dazu bei, in ihm die Gewohnheit der Tugend auszubilden: es kann vielmehr ganz im Gegenteil darauf hinwirken, sein Gemüt zu verhärten und es allmählich immer unempfänglicher zu machen.«
Wenn das Vergnügen auf das richtige Maß beschränkt wird, so ist es gesund und empfehlenswert: im Übermaß genossen, verdirbt es aber die menschliche Natur und ist etwas, wovor wir uns sorgfältig hüten müssen. Man führt oft den alten Reimspruch an:
»Lauter Arbeit ohne Spiel
Macht' den Hans so dumm und still;«
aber Spiel ohne Arbeit würde auf ihn sicher einen noch viel schädlicheren Einfluß ausgeübt haben. Nichts ist für einen Jüngling verderblicher, als wenn seine Seele mit Vergnügungen übersättigt wird. Die besten geistigen Kräfte werden dadurch geschwächt; einfache Freuden verlieren den Reiz; der Geschmack an edleren Vergnügungen geht verloren; und den Arbeiten und Pflichten des Lebens gegenüber empfindet der Blasierte gewöhnlich nur Abneigung und Ekel. Die »flottlebenden« jungen Leute erschöpfen nicht nur ihre Lebenskraft, sondern verschließen sich auch die Quellen des wahren Glückes. Da sie ihrer Jugend vorausgeeilt sind, kann von einer gesunden Charakter- oder Geistesentwicklung bei ihnen nicht die Rede sein. Ein Kind ohne Einfalt, ein Mädchen ohne Unschuld, ein Knabe ohne Wahrhaftigkeit – sie alle gewähren keinen traurigeren Anblick als der Mann, der seine Jugend in leichtfertigen Genüssen verschwendet und vergeudet hat. Mirabeau sagte von sich selbst: »Meine Jugendjahre haben schon viel von dem Vermögen meines Mannesalters aufgebraucht und einen großen Teil meiner Lebenskraft verzehrt.« Wie sich das Unrecht, das wir heute einem anderen zufügen, gegen uns selber kehrt, so steigen die Sünden unserer Jugend in unserem Alter vor uns auf, um uns zu peinigen. Wenn Lord Bacon sagt, daß »die natürliche Kraft der Jugend manche Excesse überstehe, die das Konto des Mannes bis ins Alter belasten,« so spricht er damit eine physische und moralische Wahrheit aus, die wir in unserer Lebensführung nicht genug beherzigen können. »Ich versichere dir,« schrieb der Italiener Giusti an einen Freund, »daß ich für mein Dasein einen schweren Preis zahle. Unser Leben steht uns wahrlich nicht frei zur Verfügung. Die Natur stellt sich im Anfang so, als ob sie es uns schenke; aber nachher schickt sie uns ihre Rechnung zu.« Die schlimmste Folge der jugendlichen Thorheit ist nicht, daß sie die Gesundheit zerstört, sondern vielmehr, daß sie auch das Mannesalter befleckt. Der ausschweifende Jüngling wird ein lasterhafter Mann, der kaum tugendhaft leben könnte, wenn er es auch wollte. Die einzige Möglichkeit der Rettung liegt für solche Menschen darin, daß in ihrem Geist ein lebhaftes Pflichtgefühl erweckt wird, und daß sie sich ernstlich mit nützlicher Arbeit beschäftigen.
Hinsichtlich der geistigen Begabung war Benjamin Constant sicherlich einer der bedeutendsten Franzosen; aber da er schon mit zwanzig Jahren blasiert war, so stellte sein Leben nicht eine Ernte der großen Thaten dar, die er mit einem gewöhnlichen Maße von Fleiß und Selbstbeherrschung hätte vollbringen können, sondern ein langes Trauerspiel. Er plante so viele Dinge, die nie zur Ausführung kamen, daß man ihn bald »Constant l' Inconstant« nannte. Er hatte einen fließenden, brillanten Stil: und er hegte den ehrgeizigen Wunsch, Bücher zu schreiben, »welche von der Welt nicht sobald vergessen werden sollten.« Aber während Constant in den erhabensten Gedanken zu schwelgen schien, befleißigte er sich leider eines höchst verächtlichen Wandels; und der transcendentale Idealismus seiner Bücher konnte unmöglich eine Entschuldigung für die Gemeinheit seines Lebens sein. Er besuchte Spielhöllen, während er sein Werk über die Religion schrieb; und er hatte einen unehrenhaften Liebeshandel, während er an seinem »Adolphe« arbeitete. Trotz all seiner geistigen Kräfte war er kraftlos, weil er nicht an die Tugend glaubte. »Pah!« sagte er, »was ist Ehre oder Würde! Je länger ich lebe, desto klarer wird es mir, daß nichts daran ist!« – Das war der Verzweiflungsschrei eines Elenden. Er nannte sich selbst »Asche und Staub.« »Ich gleite über die Erde wie ein Schatten« sagte er, »und Elend und Langeweile sind meine Begleiter.« Er wünschte sich Voltaires Energie, die ihm noch lieber gewesen wäre als sein Genius. Aber er hatte keine Willenskraft, sondern nur Wünsche: sein Leben, frühzeitig erschöpft, war nur noch ein Trümmerhaufen. Er sprach von sich selbst als von einem Menschen, der mit einem Fuße in der Luft schwebte. Er gestand, daß er keine Grundsätze und keinen moralischen Halt habe. Daher hat er trotz seiner glänzenden Talente doch schließlich nichts geleistet: und nachdem er viele Jahre ein erbärmliches Leben geführt, starb er in Verzweiflung und Jammer.
Die Laufbahn Augustin Thierrys, des Verfassers der »Geschichte der normannischen Eroberung,« bildet einen merkwürdigen Gegensatz zu derjenigen Constants. Sein ganzes Leben war ein überraschendes Beispiel von Beharrlichkeit, Fleiß, Selbsterziehung und unermüdlicher Hingabe an die Wissenschaft. In diesen Bestrebungen ging ihm sein Augenlicht und seine Gesundheit – aber nie seine Liebe zur Wahrheit verloren. Selbst als er so schwach war, daß er sich – wie ein hilfloses Kind auf dem Arm der Wärterin – aus einem Zimmer ins andere tragen lassen mußte, selbst da verlor er nicht seinen tapferen Mut: und blind und kraftlos, wie er war, beschloß er seine literarische Laufbahn mit diesen erhabenen Worten: »Wenn das Interesse der Wissenschaft – wie ich es hoffe – zu den großen nationalen Interessen gehört, so habe ich meinem Vaterlande ebensoviel gegeben als der Soldat, welcher verstümmelt auf dem Schlachtfelde liegt. Was auch das Schicksal meiner Werke sei, dies Beispiel, denke ich, wird nicht verloren gehen. Ich wünschte wohl, daß es zur Bekämpfung der eigentümlichen moralischen Schwäche – der Krankheit unserer heutigen Generation – beitrüge, und daß es einige jener entnervten Naturen, denen es an Glauben und Arbeit fehlt, und die nirgend einen Gegenstand der Verehrung oder Bewunderung entdecken können, auf den rechten Weg zurückführte! Wie darf man mit solcher Bitterkeit sagen, daß es in unserer Welt – so wie sie nun einmal ist – nicht Luft für alle Lungen, nicht Beschäftigung für alle Geister gehe?! Können wir denn in ihr nicht Ruhe und ernstes Studium finden? und ist dieser Zufluchtsort, diese Hoffnung, dies Arbeitsfeld nicht jedem erreichbar? Hierdurch können wir die bösen Tage ertragen, ohne ihren Druck allzusehr zu empfinden. Jeder kann sich sein Geschick selbst schmieden – jeder sein Leben edel anwenden. Das habe ich gethan; und das würde ich wieder thun, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte. Blind und – ohne Hoffnung auf Genesung – fast ununterbrochen leidend, darf ich dies Zeugnis ablegen, ohne fürchten zu müssen, daß es verdächtig erscheine. Es giebt etwas in der Welt, das besser ist als der Sinnengenuß, besser als das Glück – ja, selbst besser als die Gesundheit: es ist dies die Hingabe an die Wissenschaft!«
Coleridge hatte in vielen Beziehungen Ähnlichkeit mit Constant. Er besaß bei ebenso glänzenden Fähigkeiten einen fast ebenso unbeständigen Sinn. Unter seinen großen geistigen Gaben fehlte die des Fleißes; und methodische Arbeit war ihm zuwider. Ihm mangelte es auch an Stolz und Selbständigkeit; denn er hielt es für keine Schande, daß sein Weib und seine Kinder von der Geistesarbeit des edlen Southey lebten, während er selbst sich nach Highgate-Grove zurückzog, um dort seinen Schülern Vorlesungen über Transcendentalphilosophie zu halten und verächtlich auf die ehrliche Arbeit herabzusehen, die drunten in dem Lärm und Rauch von London vollbracht wurde. Obwohl er sich recht gut seinen Unterhalt hätte verdienen können, so kam es ihm doch nicht schimpflich vor, die Wohlthaten seiner Freunde anzunehmen; und trotz seiner erhabenen philosophischen Ideen unterzog er sich Demütigungen, vor denen mancher Tagelöhner zurückgeschreckt wäre. Wie anders war dagegen Southey! Er arbeitete – außer an Werken eigener Wahl – nicht nur oft an langweiligen und reizlosen Aufträgen, sondern beschäftigte sich auch fortgesetzt und höchst eifrig mit gelehrten Forschungen – aus reiner Liebe zur Wissenschaft. Jedem Tag, jeder Stunde war eine bestimmte Arbeit zugeteilt, bald drängten ihn seine Verleger zur Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen; bald mußten, die laufenden Ausgaben des großen Haushaltes in verständiger Weise geregelt werden. Für Southey gab es keine Ernte, wenn seine Feder ruhte. »Meine Wege,« pflegte er zu sagen, »sind so breit wie eine königliche Chaussee; aber meine Mittel liegen in einem Tintenfaß.«
Als Robert Nicoll »Coleridges Erinnerungen« gelesen, schrieb er an einen Freund: »Welche reichen Geistesgaben wurden von diesem Manne aus Mangel an ein wenig Energie und Entschlossenheit vergeudet!« Nicoll selbst war ein redlicher und tapferer Mann. Er starb jung – aber erst, nachdem er in seinem Leben vielen Schwierigkeiten begegnet war und dieselben überwunden hatte. Als er seine Laufbahn als Besitzer eines kleinen Buchladens begann, drückte ihn eine Schuld von nur zwanzig Pfund so sehr, daß er sagte, »sie hinge ihm wie ein Mühlstein am Halse, und er würde – wenn er sie erst einmal abgezahlt hätte – sich von keinem Sterblichen mehr etwas borgen.« In einem Briefe, den er um jene Zeit an seine Mutter schrieb, äußerte er: »Fürchte nichts für mich, teure Mutter! ich fühle, daß ich täglich kräftiger und hoffnungsfreudiger werde. Je mehr ich denke und überlege – denn das Denken, nicht das Lesen ist letzt meine Beschäftigung – um so mehr fühle ich, daß ich, wenn nicht reicher, so doch immer weiser werde – und das ist viel wertvoller. Dem Schmerz, der Armut und all den anderen wilden Bestien, die unser Leben bedrohen und meine Mitmenschen so in Schrecken setzen, glaube ich furchtlos ins Auge schauen zu können, ohne meine Selbstachtung, den Glauben an die hohe Bestimmung des Menschen oder mein Gottvertrauen zu verlieren. Es giebt einen geistigen Standpunkt, den man nur nach schweren inneren Kämpfen erreicht, von dem aus man aber auch – wie ein Wanderer von einem hohen Berge – auf die unten tobenden Stürme hinunterblickt, während man selbst im Sonnenschein wandelt. Ich will nicht sagen, daß ich diesen Standpunkt schon erreicht habe; aber ich fühle, daß ich ihm täglich näher komme.« Nicht das Behagen, sondern die Anstrengung – nicht die günstigen, sondern die schwierigen Lebensumstände bilden den menschlichen Charakter. Es giebt wohl keine Lebensstellung, in welcher wir irgend eine Art von Erfolg erringen könnten, ohne daß sich uns Schwierigkeiten entgegenstellten, die besiegt werden müßten. Die letzteren sind aber unsere besten Lehrer, wie wir unseren Fehlern oft unsere besten Erfahrungen verdanken. Charles James Fox pflegte zu sagen, daß er mehr Vertrauen zu einem Manne habe, der trotz seiner Mißerfolge seinen Weg mutig fortsetze, als zu der glänzenden Laufbahn eines Glückspilzes. »Es klingt ja recht schön,« meinte er, »wenn man mir erzählt, daß ein junger Mann sich durch eine glänzende erste Rede ausgezeichnet habe. Er kann dann weiterstreben oder sich auch an seinem ersten Triumph genügen lassen. Aber wenn man mir einen jungen Mann zeigt, der – obwohl ihm der erste Versuch mißlang – dennoch mutig seinen Weg fortsetzt: so will ich dafür bürgen, daß jener junge Mensch mehr leisten wird als der größte Teil derer, welche bei der ersten Probe Glück hatten.« Wir lernen die Weisheit eher durch Mißerfolge als durch Erfolge. Wir finden oft das rechte Mittel erst dadurch, daß wir zuvor ein falsches gebraucht; und wahrscheinlich hat noch nie jemand eine Entdeckung gemacht, der nicht zuvor einen Irrtum begangen. Der vergebliche Versuch, eine Saugpumpe in Thätigkeit zu setzen, deren Kolben mehr als dreiunddreißig Fuß über der zu hebenden Wasserfläche stand, veranlaße denkende Männer, die Gesetze des Luftdruckes zu studieren, und eröffnete dem Genius eines Galilei, Torrecelli und Boyle ein neues Forschungsgebiet. John Hunter pflegte zu sagen, daß die Chirurgie keine Fortschritte machen würde, so lange die Wundärzte nicht den Mut hätten, neben ihren Erfolgen auch ihre Mißerfolge bekannt zu machen. Der Ingenieur Watt äußerte, dem Ingenieurwesen thäte vor allem eine Geschichte der Irrtümer not: »wir brauchen,« sagt er, »ein Verzeichnis unserer Fehler.« Als Sir Humphry Davy einmal einem geschickt ausgeführten Experiment beiwohnte, bemerkte er: »Ich danke meinem Schöpfer, daß ich nicht ein gewandter Experimentator bin; denn meine wichtigsten Entdeckungen verdanke ich meinen Irrtümern.« Ein anderer berühmter Forscher auf dem Gebiet der Physik erzählte, er sei allemal, wenn er bei seinen Untersuchungen einem anscheinend unüberwindlichen Hindernis begegnete, einer Entdeckung auf der Spur gewesen. Die größten Dinge – große Gedanken, Entdeckungen oder Erfindungen – wurden unter Schwierigkeiten geplant, in Kummer überdacht und schließlich mit Mühe ausgeführt.
Beethoven sagte von Rossini, er hätte einen guten Musiker abgeben können, wenn er nur als Junge tüchtig geprügelt worden wäre; nun aber habe ihn die Leichtigkeit, mit welcher er komponierte, verdorben. Wer Kraft in sich fühlt, braucht einen Zusammenstoß mit feindlichen Meinungen nicht zu fürchten; viel eher hätte er Grund, sich vor ungerechtfertigten Lobsprüchen und einer allzu freundlichen Kritik in acht zu nehmen. Als Mendelssohn in den Birminghamer Konzertsaal trat, in welchem sein »Elias« zum erstenmal aufgeführt wurde, sagte er lachend zu einem seiner Freunde und Kritiker: »Nun lassen Sie mich Ihre Krallen fühlen! Sagen Sie mir nicht, was Ihnen an meinem Werk gefällt, sondern was Ihnen daran mißfällt!«
Man hat sehr richtig bemerkt, daß die Niederlage die Tüchtigkeit des Feldherrn besser erprobe als der Sieg. Washington verlor mehr Schlachten als er gewann; aber schließlich hatte er doch Erfolg. Die Römer begannen ihre ruhmreichsten Feldzüge fast immer mit Niederlagen. Moreau pflegte von seinen Freunden mit einer Trommel verglichen zu werden, von der man nur etwas hörte, wenn sie geschlagen würde. Wellingtons militärisches Genie bildete sich im Kampfe mit anscheinend unüberwindlichen Schwierigkeiten aus, die aber nur dazu dienten, seinen Willen zu stählen und ihm Gelegenheit zu geben, seine hohen Gaben als Mensch und Feldherr um so glänzender zu beweisen. Ebenso sammelt der tüchtige Seemann seine besten Erfahrungen aus Stürmen und Orkanen, durch die er Selbstvertrauen, Mut und hohe Disciplin gewinnt; und unsere britischen Seeleute verdanken ihre unübertreffliche Erziehung wahrscheinlich in erster Linie schweren Seegängen und stürmischen Winternächten. Die Not ist vielleicht eine harte Lehrmeisterin; trotzdem ist sie immerhin die beste, die man finden kann. Die Feuerprobe des Mißgeschicks muß uns naturgemäß erschrecken; aber dennoch müssen wir sie im gegebenen Fall tapfer und mannhaft bestehen. Burns sagt sehr richtig:
»Siehst Scheiden und Leiden
Du an als bittre Pein:
Belehren, belehren
Thun sie dich nur allein!« –
»Süß ist die Frucht der Leiden;« denn sie offenbaren unsere Kraft und erwecken unsere Energie. Wenn der Charakter einen wirklichen Wert hat, so wird er denselben im Unglück zeigen – wie würzige Kräuter den kräftigsten Wohlgeruch ausströmen, wenn sie gerieben werden. »Die Leiden,« sagt ein altes Sprichwort, »sind die Leiter, auf der man zum Himmel emporsteigt.« »Was hat denn die Armut so Schlimmes an sich, daß man darüber murren müßte?« fragt Richter. »Sie gleicht nur dem Schmerz, den ein Mädchenohr empfindet, wenn man es durchbohrt, um es mit köstlichem Geschmeide zu schmücken.« Die Erfahrung hat gelehrt, daß die segensreiche Schule des Unglücks starke Naturen im allgemeinen befähigt, ihren Charakter zu behaupten. Schon manche, die Entbehrungen tapfer ertrugen und Hindernisse mutig bekämpften, sind später außer stande gewesen, den gefährlicheren Einflüssen des Glückes zu widerstehen. Nur den Schwachen beraubt der Wind des Mantels; ein Mann, von mittelmäßigen Kräften ist viel eher in Gefahr, ihn zu verlieren, wenn ihn die Strahlen einer allzu freundlichen Sonne bescheinen. Daher bedarf es – um rechtschaffen zu bleiben – im Glück oft einer besseren Selbstzucht und eines stärkeren Charakters als im Unglück. Einige großmütige Naturen werden durch die guten Tage noch menschenfreundlicher und wärmer; aber auf viele hat der Reichtum durchaus nicht diesen Einfluß. Er verhärtet die schlechten Herzen nur noch mehr und macht die, welche vorher gemein und knechtisch gesinnt waren, gemein und übermütig. Aber während das Glück zum Stolz verführt, verleiht das Unglück den entschlossenen Herzen eine hohe Kraft. »Die Mühsal,« sagt Burke. »ist eine strenge Zuchtmeisterin, die uns von einem väterlichen Beschützer und Erzieher verordnet ist, der uns besser kennt und auch mehr liebt, als wir selbst dies thun. Wer mit uns kämpft, stärkt unsere Nerven und erhöht unsere Geschicklichkeit; unser Feind ist daher unser Gehilfe.« Ohne den notwendigen Kampf mit Schwierigkeiten wäre das Leben leichter; aber die Menschen würden weniger wert sein. Denn weise bestandene Prüfungen erziehen den Charakter und lehren uns die Kunst der Selbsthilfe – sodaß die Trübsal oft unsere beste Lehrerin ist, wenn wir es auch nicht einsehen. Als der wackere junge Hodson ungerechterweise seines indischen Kommandos entsetzt und durch unverdiente Vorwürfe und Verleumdungen schwer bedrängt wurde, hatte er doch den Mut, zu einem Freunde zu sagen: »Ich will dem Schlimmsten – wie dem Feinde auf dem Schlachtfelde – kühn ins Antlitz schauen und die mir zugewiesene Arbeit entschlossen und nach besten Kräften ausführen; denn ich bin überzeugt, daß alles seinen Zweck hat; und daß selbst unangenehme, aber gewissenhaft erfüllte Pflichten ihren Lohn mit sich bringen – oder anderenfalls doch eben »Pflichten« sind und daher erfüllt werden müssen.«
In den Kämpfen des Lebens handelt es sich meistens um die Erstürmung einer Höhe; wenn man dieselbe ohne Kampf erreichte, so würde keine Ehre damit verbunden sein. Ohne Hindernisse ist kein Erfolg, ohne Bemühung kein Resultat möglich. Schwierigkeiten mögen den Schwachen erschrecken; aber dem Entschlossenen und Tapferen dienen sie nur als nützlicher Sporn. Alle Erfahrungen lehren, daß die auf dem Wege des menschlichen Fortschritts aufgetürmten Hindernisse größtenteils durch standhaftes Streben und ehrlichen Eifer – durch Thätigkeit, Beharrlichkeit und vor allem durch jene Entschlossenheit überwunden werden können, die sich weder durch Schwierigkeiten noch durch Mißgeschick einschüchtern läßt.
Die Schule der Not ist die beste Schule moralischer Zucht – sowohl für Völker als auch für Individuen; und eine Geschichte dieser Schule würde zugleich eine Geschichte alles Großen und Edlen sein, das je von Menschen vollbracht wurde. Es läßt sich schwer nachweisen, wieviel die nördlichen Völker den Einflüssen eines verhältnismäßig rauhen und wechselnden Klimas, sowie denen eines ursprünglich unfruchtbaren Bodens verdanken; beide bilden einen Faktor ihrer Existenz, der sie zu einem beständigen Kampfe mit Schwierigkeiten zwingt, von denen die Bewohner sonnigerer Himmelsstriche nichts wissen. So mag es denn auch kommen, daß, wenn auch unsere schönsten Produkte exotisch sind, doch der Fleiß und die Geschicklichkeit, die zu ihrer Gewinnung notwendig waren, von Männern ausgeübt wurden, die in unserer Heimat aufwuchsen und hinter den Bewohnern keines Landes der Erde zurückstehen.
Die Schwierigkeiten, welche dem einzelnen Menschen entgegentreten, dienen zu seiner Vervollkommnung. Der Kampf mit ihnen stählt seine Kraft, vermehrt seine Geschicklichkeit und stärkt ihn zu künftiger Anstrengung – wie ein Rennpferd, das daran gewöhnt wird, bergauf zu laufen, schließlich seine Aufgabe mit Leichtigkeit erfüllt. Der Weg zum Erfolg mag steil sein und die Energie dessen, der den Gipfel erreichen möchte, auf eine harte Probe stellen. Aber die Erfahrung lehrt den Menschen bald erkennen, daß sich alle Hindernisse mit der erforderlichen Anstrengung überwinden lassen – daß sich die Brennessel weich wie Seide anfühlt, wenn man sie herzhaft anfaßt – und daß das beste Mittel zur Erreichung des gewünschten Zwecks die moralische Überzeugung ist, daß man ihn erreichen kann und wird. So verschwinden die Schwierigkeiten von selbst, wenn man den festen Willen hat, sie zu überwinden.
Wir vermögen viel zu vollbringen, wenn wir es nur versuchen; aber wenige machen den Versuch, wenn sie nicht dazu gezwungen werden. »Wenn ich nur dies oder das thun könnte!« seufzt der verzagte Jüngling. Aber mit Wünschen allein richtet man nichts aus! Der Wunsch muß zum festen Vorsatz und zur Bemühung werden; und ein einziger energischer Versuch ist mehr wert als tausend Wünsche. Diese dornigen »Wenns« – welche das Murren der Ohnmacht und Verzagtheit bedeuten – umhegen gar oft gestrüppartig das Feld der Möglichkeit und verhindern, daß irgend etwas gethan oder auch nur versucht wird. »Schwierigkeiten,« sagt Lord Lyndhurst, »lassen sich überwinden; man kämpfe nur mit ihnen! Gewandtheit wird durch Übung – Kraft und Festigkeit durch wiederholte Anstrengung gewonnen. So können Geist und Charakter zu einer fast vollkommenen Selbstzucht erzogen, und befähigt werden, mit einer Anmut, Lebhaftigkeit und Freiheit zu wirken, die denjenigen fast unbegreiflich ist, welche nicht ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben.«
Alles Lernen beruht auf einer Bewältigung von Schwierigkeiten; und das Überwinden einer derselben verhilft immer zum Besiegen einer anderen. Viele Dinge, die bei oberflächlicher Betrachtung wenig Wert für die Erziehung zu haben scheinen – wie z. B. das Studium der toten Sprachen oder jene Lehre von den Verhältnissen der Linien und Flächen, die wir als Mathematik bezeichnen – sind in Wahrheit von dem größten Nutzen: weniger wegen der Kenntnisse, welche sie verleihen, als wegen der geistigen Entwicklung, welche sie bewirken. Die Beschäftigung mit diesen Studien ruft ungewöhnliche Anstrengungen hervor und läßt die Kraft des Fleißes sich in einer Weise bethätigen, wie sie sonst wohl nie zum Vorschein gekommen wäre. So führt eins zum anderen; und die Arbeit dauert das ganze Leben hindurch, weil der Kampf mit den Schwierigkeiten erst aufhört, wenn es mit dem Leben und der Weiterbildung zu Ende ist. Die Hingabe an das Gefühl der Mutlosigkeit hat aber noch keinem über ein Hindernis hinweggeholfen und wird das auch nie thun. Sehr verständig war der Rat, welchen D'Alembert einem Studenten erteilte, der sich bei ihm darüber beklagte, daß er die Anfangsgründe der Mathematik nicht zu fassen vermöge; der betreffende Rat lautete: »Fahren Sie nur fort, mein Lieber! dann werden Sie schon Zuversicht und Kraft gewinnen.«
Die Tänzerin, die eine Pirouette schlägt, der Geigenspieler, bei eine Sonate vorträgt – beide haben ihre Geschicklichkeit nur durch geduldige Übung und nach vielen Mißerfolgen errungen. Als jemand Carissimi wegen der Leichtigkeit und Anmut seiner Melodien lobte, rief er: »Ach! Sie haben keine Ahnung, mit wie viel Mühe diese Leichtigkeit erworben wurde.« Sir Joshua Reynolds gab auf die Frage, wieviel Zeit er wohl zur Fertigstellung eines gewissen Gemäldes gebraucht habe, zur Antwort: »Mein ganzes Leben.« Henry Clay, der amerikanische Redner, beschrieb zur Belehrung einiger junger Leute das Geheimnis seines rhetorischen Erfolges in folgender Weise: »Was ich im Leben erreicht habe,« sagt er, »verdanke ich hauptsächlich dem einen Umstände, daß ich im Alter von siebenundzwanzig Jahren die dann jahrelang fortgesetzte Gewohnheit annahm, täglich einen Abschnitt aus einem historischen oder wissenschaftlichen Werke zu lesen und darüber einen Vortrag zu halten. Diese Übungen im freien Sprechen fanden zuweilen auf einem Spaziergange durch die Felder oder Wälder, zuweilen aber auch in einem entlegenen Stallgebäude statt, wo Pferde und Rinder meine Zuhörer waren. Dieser frühen Übung der Kunst aller Künste verdanke ich die ersten und stärksten Impulse, die mich auf meiner Bahn weitergeführt und auf mein späteres Schicksal bestimmend eingewirkt haben.«
Der irische Redner Curran hatte als Knabe eine so mangelhafte Aussprache, daß man ihn in der Schule den »stotternden Jack Curran« nannte. Während er die Rechte studierte und immer noch mit seinem Sprachfehler zu kämpfen hatte, wurde er einmal von einem Mitgliede des von ihm besuchten Debattierklubs als »Redner Stumm« verspottet und dadurch zu einer ungeahnten Beredsamkeit entflammt. Gerade so, wie es einst Cowper bei einer ähnlichen Gelegenheit ergangen war, vermochte Curran, als er aufstand, kein Wort hervorzubringen; der Spott aber wirkte auf ihn wie ein Sporn; und er antwortete mit einer glänzenden Rede. Nachdem er so zufällig die Gabe der Beredsamkeit in sich entdeckt, wandte er sich seinen Studien mit verdoppelter Energie zu. Er verbesserte seine Artikulation dadurch, daß er laut, emphatisch und deutlich mehrere Stunden hindurch hervorragend schöne Stellen aus den besten Büchern las, – wobei er seine Gesichtszüge in einem Spiegel betrachtete und sich diejenigen Handbewegungen anzugewöhnen suchte, welche am besten zu seiner etwas linkischen und schwerfälligen Gestalt paßten. Er erfand auch zu seiner Übung Rechtsfälle, in denen er die Sache seines fingierten Klienten mit einem so großen Eifer verfocht, als ob er vor einer Jury spräche. Wenn Lord Eldon es als die erste Bedingung künftigen Ruhmes bezeichnete, daß man »nicht einen Schilling wert sei«: so besaß Curran zu Anfang seiner Laufbahn diese Qualifikation vollkommen. Während er sich eifrig in seinem juristischen Berufe weiter bildete und noch immer mit jener Schüchternheit rang, die ihn damals in seinem Debattierklub überkam, wurde er bei einer Gelegenheit durch den Richter (Robinson) zu einer ungemein scharfen Erwiderung veranlaßt. Im Laufe der betreffenden Verhandlung bemerkte Curran, »er sei dem von Seiner Herrlichkeit angeführten Gesetze in keinem der in seiner Bibliothek befindlichen Bücher begegnet.« »Das ist wohl möglich, mein Herr,« sagte der Richter in verächtlichem Tone; »ich vermute aber, daß Ihre Bibliothek sehr klein ist.« Seine Herrlichkeit war als ein politischer Fanatiker und als Verfasser mehrerer anonymer Flugschritten bekannt, die sich durch eine ungewöhnliche Heftigkeit und Pedanterie auszeichneten, Curran, den die Anspielung auf seine beschränkten Mittel reizte, erwiderte folgendermaßen: »Es ist wahr, mein Lord, daß ich arm bin, und daß dieser Umstand eine größere Ausdehnung meiner Bibliothek verhindert hat; meine Bücher sind nicht zahlreich, aber vortrefflich und von mir – wie ich hoffe – mit Verständnis gelesen worden. Ich habe mich auf meinen hohen Beruf lieber durch das Studium weniger guter, als durch die Abfassung vieler schlechter Bücher vorbereitet. Ich schäme mich meiner Armut nicht; aber ich würde mich eines Reichtums schämen, den ich mir durch Gemeinheit und Bestechlichkeit erworben hätte. Wenn ich mir nicht eine vornehme Stellung erringe, so werde ich doch wenigstens ehrlich bleiben. Wäre das letztere nicht der Fall und stiege ich durch schlechte Mittel zu Rang und Würde empor: so würde ich, wie ich es aus so manchem Beispiel ersehen, dadurch zwar eine größere Bedeutung gewinnen, aber auch um so allgemeiner und gründlicher verachtet werden.«
Die äußerste Armut ist kein Hindernis für die gewesen, welche sich der Selbstvervollkommnung befleißigten. Der als Sprachforscher bekannte Professor Alexander Murray lernte schreiben, indem er seine Buchstaben mit einem verkohlten Heidekrautstengel auf eine alte Wollkratze malte. Das einzige Buch, welches sein Vater – ein armer Schäfer – besaß, war eine Penny-Ausgabe des »Kleinen Katechismus:« aber dies Büchlein galt für zu kostbar, um zum allgemeinen Gebrauch zu dienen: es wurde sorgfältig in einem Tassenspind für die sonntäglichen Katechisationen aufbewahrt. Da der Professor Moor als junger Mann zu arm war, um sich Newtons »Principia« zu kaufen, so borgte er sich das Werk und schrieb es von Anfang bis zu Ende eigenhändig ab. Viele arme Studenten, die sich ihren täglichen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen mußten, waren nur imstande, gelegentlich hier und da ein Körnlein des Wissens aufzulesen – wie sich die Vögel mühselig ihr Futter zur Winterszeit suchen, wenn die Felder mit Schnee bedeckt sind. Aber sie strebten vorwärts – mit wachsender Zuversicht und Hoffnung. William Chambers, ein wohlbekannter Autor und Verleger aus Edinburg, beschrieb einst in jener Stadt vor einer Versammlung von jungen Leuten zu deren Aufmunterung den bescheidenen Anfang seiner Laufbahn kurz in folgender Weise: »Ich stehe vor Ihnen als ein Autodidakt,« sagte er. »Meine Bildung war derart, wie man sie auf einer einfachen schottischen Dorfschule empfängt; und erst seitdem ich als armer Junge nach Edinburg gekommen, widmete ich – nach der Arbeit des Tages – meine Abende der Pflege jener geistigen Kräfte, die der Allmächtige mir verliehen. Von sieben oder acht Uhr morgens bis neun oder zehn Uhr abends war ich als Buchhändlerlehrling beschäftigt; und nur die Nachtstunden, welche ich dem Schlafe entzog, konnte ich dem Studium widmen. Ich las keine Romane, sondern wandte meine Aufmerksamkeit der Physik und anderen nützlichen Wissenschaften zu. Ich erlernte auch die französische Sprache. Wenn ich auf jene Zeit zurückblicke, so thue ich dies mit großem Vergnügen und empfinde fast ein Gefühl des Bedauerns darüber, daß ich sie nicht noch einmal durchleben kann; denn ich genoß – während ich nicht einen Sixpence in der Tasche hatte und in einer Bodenkammer zu Edinburg meinen Studien oblag – mehr Freuden, als ich jetzt empfinde, wenn ich in einem eleganten und behaglichen Wohnzimmer sitze.«
Was uns William Cobbett über die Art berichtet, wie er die englische Grammatik erlernte, ist interessant und belehrend für alle, die sich unter Schwierigkeiten zu bilden suchen. »Ich studierte die Grammatik,« sagt er, »während ich als gemeiner Soldat diente und als täglichen Sold einen Sixpence erhielt. Der Rand meiner Koje oder meines Feldbettes war mein Studiersessel; mein Tornister diente mir zum Bücherschrank; und ein Brett, welches auf meinen Knien ruhte, war mein Schreibtisch; trotzdem nahm das Studium noch nicht ein Jahr meines Lebens in Anspruch. Ich besaß kein Geld, um mir Kerzen oder Brennöl zu kaufen; und an den Winterabenden hatte ich selten ein anderes Licht als das des Feuers – und auch das nur gelegentlich. Wenn ich nun unter solchen Umständen – ohne einen Verwandten oder Freund, der mich hätte beraten oder ermutigen können – mein Unternehmen ausführte: darf sich dann wohl ein anderer Jüngling mit seiner Armut, seiner allzugroßen Arbeitslast oder seinem Mangel an Raum und anderen Bequemlichkeiten entschuldigen? Das Geld, welches ich zum Anlauf einer Feder oder eines Bogens Papier brauchte, mußte ich mir von meiner Nahrung absparen, obwohl ich halb verhungert war. Ich war keinen Augenblick ungestört; ich las und schrieb unter dem Geschwätz, Gelächter, Gesang, Gejohle und Gezänk von mindestens zehn höchst leichtfertiger Menschen, die gerade um jene Stunde unter keinerlei Kontrolle standen. Man schätze den Heller, den ich dann und wann für Tinte, Feder oder Papier ausgeben mußte, nicht gering! Ach, er war für mich eine bedeutende Summe! Ich war damals so groß wie heute; ich war kräftig und hatte viel Bewegung. Das Geld, was für uns nicht zum Ankauf der Lebensmittel verausgabt wurde, betrug wöchentlich zwei Pence pro Mann. Ich erinnere mich – ach, nur zu wohl! – daß ich einmal an einem Freitag nach Bestreitung aller notwendigen Ausgaben einen halben Penny erübrigt hatte, für den ich mir am nächsten Morgen einen geräucherten Hering kaufen wollte. Als ich mich aber abends entkleidete, während ich einen fast unerträglichen Hunger empfand, bemerkte ich, daß ich meinen halben Penny verloren hatte! Ich vergrub meinen Kopf in die elende Bettdecke und weinte wie ein Kind! Und wiederum sage ich: wenn ich unter diesen Umständen mein Unternehmen fortsetzen und durchführen konnte – sollte dann irgend ein Jüngling in der Welt sich mit der Ausrede entschuldigen dürfen, daß er solches nicht vermöchte?«
Man hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß ein in London lebender Franzose, der aus politischen Gründen die Heimat meiden mußte, ebenso merkwürdige Beweise von Beharrlichkeit und Fleiß gegeben hat. Sein eigentlicher Beruf war der eines Maurers, und als solcher war er auch eine Zeitlang beschäftigt: als aber die Arbeit knapp wurde, verlor er seine Stelle, und das Gespenst der Armut grinste ihn an. In dieser Not wandte er sich an einen gleichfalls im Exil lebenden Landsmann, der als Lehrer der französischen Sprache ein gutes Einkommen hatte, und fragte ihn, was er wohl thun könnte, um sich seinen Unterhalt zu verdienen. Die Antwort lautete: »Werden Sie Lehrer wie ich!« – »Lehrer?« rief der Maurer erstaunt; »ich, ein Handwerker, der doch nur ein schlechtes Französisch spricht! Sicherlich soll das nur ein Scherz sein!« – »Im Gegenteil,« antwortete der andere; »ich meine es ganz im Ernst und rate Ihnen nochmals: werden Sie Lehrer! Vertrauen Sie sich meiner Leitung an; ich will Ihnen schon beibringen, wie man andere unterrichtet!« – »Nein, nein!« versetzte der Maurer; »das ist unmöglich; ich bin zum Lernen zu alt; ich bin auch nicht gebildet genug; ich kann auf keinen Fall Lehrer werden.« – Damit ging er weg und suchte wieder Beschäftigung in seinem Handwerk. Von London ging er in die Provinzen und legte mehrere hundert englische Meilen zurück, ohne daß es ihm gelang, eine Anstellung zu finden. Nach der Hauptstadt zurückgekehrt, suchte er wieder seinen früheren Ratgeber auf und sagte: »Ich habe mich überall nach Arbeit umgethan und keine gefunden; so will ich denn nun versuchen, Lehrer zu werden!« – Er stellte sich sogleich unter die Leitung seines Mentors; und da er einen großen Fleiß, eine rasche Fassungsgabe und einen scharfen Verstand besaß, so erlernte er nicht nur bald die Anfangsgründe der Grammatik, sondern auch die Regeln des Satzbaues und Stils, sowie (was ihm besonders not that) die korrekte Aussprache des klassischen Französisch. Als er nach der Meinung seines Freundes und Lehrers genügend vorbereitet war, um selbst Unterricht erteilen zu können, bemühte er sich um eine ausgebotene Stelle und erhielt dieselbe auch: und so wurde aus unserem Handwerker wirklich und wahrhaftig ein Lehrer! Es traf sich so, daß das Seminar, an welchem er angestellt wurde, in einer Vorstadt von London lag, in welcher er früher als Maurer gearbeitet hatte; und das erste, was er jeden Morgen erblickte, wenn er durch das Fenster seines Ankleidezimmer schaute, war eine Reihe von Hausschornsteinen, die er selbst gebaut hatte! Er fürchtete eine Zeitlang, er könnte im Dorfe als der ehemalige Arbeiter erkannt werden und dadurch das in sehr gutem Rufe stehende Seminar in Mißkredit bringen. Doch diese Furcht war unbegründet; denn er erwies sich als ein sehr tüchtiger Lehrer, dessen Schüler bei mehr als einer Gelegenheit öffentlich wegen ihrer guten Kenntnisse in der französischen Sprache belobt wurden. Unterdessen erwarb er sich die Achtung und Freundschaft aller, die ihn kennen lernten – seiner Kollegen wie seiner Schüler; und als dieselben die Geschichte seiner Vergangenheit – seiner Kämpfe und Bedrängnisse – erfuhren, bewunderten sie ihn mehr als je.
Ebenso unermüdlich arbeitete Sir Samuel Romilly an seiner Selbstvervollkommnung. Als Sohn eines von einem französischen Refugié abstammenden Goldschmieds empfing er in seiner Jugend nur eine geringe Bildung; aber er wußte diesem Mangel durch Fleiß und zielbewußte Arbeit abzuhelfen. »In meinem sechzehnten Jahre,« sagt er in seiner Selbstbiographie, »faßte ich den Entschluß, mich ernstlich dem Studium der lateinischen Sprache zu widmen, von welcher ich zu jener Zeit nicht viel mehr als einige der bekanntesten grammatikalischen Regeln wußte. Im Laufe der drei oder vier Jahre, die ich darauf verwendete, las ich fast alle Prosaschriftsteller aus dem Zeitalter des klassischen Lateins – mit Ausnahme derer, welche sich speciell mit einer Fachwissenschaft beschäftigen, wie Varro, Columella und Celsus. Livius, Sallustius und Tacitus habe ich dreimal von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Ich habe die berühmtesten Reden Ciceros studiert und einen großen Teil des Homer übersetzt. Terentius, Virgil, Horaz, Ovid und Juvenal habe ich wieder und immer wieder gelesen.« Er beschäftigte sich auch mit Geographie, Naturgeschichte und Naturphilosophie und erwarb sich eine bedeutende allgemeine Bildung. Mit sechzehn Jahren wurde er als Aktuar an dem Kanzleigericht (Court of Chancery) angestellt, wo er schwer arbeiten mußte; später wurde er in den Advokatenstand aufgenommen und gewann schließlich durch Fleiß und Beharrlichkeit eine hervorragende Bedeutung. Unter dem Ministerium Fox wurde er im Jahre 1806 Generalprokurator und erlangte eine immer größere Berühmtheit in seinem Berufe. Trotzdem plagte ihn beständig eine peinliche und fast niederdrückende Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, die ihn antrieb, unaufhörlich an seiner Weiterbildung zu arbeiten. Seine Selbstbiographie ist reich an belehrenden Thatsachen, die so viel als ganze Bände von Lebensregeln wert sind und mit Aufmerksamkeit gelesen zu werden verdienen.
Sir Walter Scott liebte es, die Laufbahn seines jungen Freundes John Leyden als eins der merkwürdigsten, ihm bekannten Beispiele von der Macht der Beharrlichkeit anzuführen. Als Sohn eines Schäfers aus einem der wildesten Thäler in Roxburghshire hatte dieser Freund sich seine Kenntnisse fast ausschließlich durch Selbstunterricht erworben. Wie so manche Söhne schottischer Schäfer – z. B. wie Hogg, der dadurch schreiben lernte, daß er, während er seine Schafe auf dem Bergabhange hütete, die Buchstaben aus einem gedruckten Buche nachmalte – oder wie Cairns, der sich von dem Amte eines Schäfers auf den Lammermoor-Hills durch Fleiß und Tüchtigkeit zu der Professur aufschwang, die er nun so ehrenvoll verwaltet – oder auch wie Murray, Ferguson und viele andere – war Leyden schon früh von einem lebhaften Wissensdurst erfüllt. Als armer, barfüßiger Junge wanderte er täglich sechs bis acht Meilen durch das Moor, um in der kleinen Dorfschule zu Kirkton lesen zu lernen: und dies war der einzige Unterricht, den er empfing – alles übrige eignete er sich selbst an. Er machte es möglich, die Edinburger Universität besuchen zu können, und bot dort dem äußersten Mangel Trotz. Er wurde zuerst als Besucher eines kleinen Buchladens bemerkt, dessen Inhaber der später als Verleger so bekannt gewordene Archibald Constable war. Er hockte bei demselben oft stundenlang auf einer an dem Büchergestell lehnenden Leiter, mit irgend einem großen Folianten in der Hand, über dessen Inhalt er die kärgliche Mahlzeit von Brot und Wasser vergaß, die ihn daheim in seiner elenden Wohnung erwartete. Er hatte keinen höheren Wunsch als den, zu Büchern und Vorlesungen zu gelangen. So arbeitete und kämpfte er vor den Thoren der Wissenschaft, bis seine unbezwingliche Energie alle Hindernisse aus dem Wege räumte. Ehe er sein neunzehntes Jahr erreicht hatte, setzte er alle Professoren der Edinburger Universität durch seine gründliche Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache, sowie durch seine ungewöhnlich hohe allgemeine Bildung in Erstaunen. Da er eine Vorliebe für Indien hatte, bemühte er sich, dort eine Anstellung als Civilbeamter zu erhalten, was ihm jedoch nicht gelang. Indessen teilte man ihm mit, daß die Stelle eines Assistenzarztes frei wäre und ihm eventuell verliehen werden könnte. Er war nicht Arzt und verstand von dem medizinischen Beruf nicht mehr als ein Kind; aber er konnte ja lernen, was er nicht wußte. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß er in sechs Monaten zur Abfahrt bereit sein müsse. Unerschrocken ging er ans Werk und eignete sich in der genannten kurzen Zeit die Kenntnisse an, zu deren Erlangung sonst gewöhnlich drei Jahre gebraucht wurden. Nach Ablauf der sechs Monate bestand er mit Glanz sein Examen. Scott und noch ein paar Freunde sorgten für seine Ausrüstung; und er segelte nach Indien ab, nachdem er das schöne Gedicht »die Bilder der Kindheit« veröffentlicht. In Indien versprach er einer der bedeutendsten Orientforscher zu werden; aber unglücklicherweise wurde er von einem ansteckenden Fieber ergriffen und starb in jungen Jahren.
Das Leben des verstorbenen Dr. Lee, des Professors der hebräischen Sprache an der Universität Cambridge, ist eins der merkwürdigsten Beispiele der Neuzeit, für den Erfahrungssatz, daß der geduldige Fleiß und der feste Wille imstande sind, dem Menschen zu einer ehrenvollen literarischen Laufbahn zu verhelfen. Er empfing seinen Unterricht in einer Armenschule zu Lognor bei Shrewsbury, wo er sich so wenig hervorthat, daß sein Lehrer ihn als einen der ärgsten Dummköpfe bezeichnete, die ihm je durch die Hände gegangen. Danach kam er zu einem Zimmermann in die Lehre und beschäftigte sich mit dem erlernten Handwerk, bis er sein Mannesalter erreichte. Seine Mußestunden füllte er mit Lesen aus; und da in einigen seiner Bücher lateinische Citate vorkamen, so erwachte in ihm der Wunsch, die Bedeutung derselben zu verstehen. Er kaufte sich demgemäß eine lateinische Grammatik und machte sich daran, die Sprache der Römer zu erlernen – in unbewußter Übereinstimmung mit Stone, dem Gärtner des Herzogs von Argyle, der lange zuvor die Äußerung gethan: »Wird man nicht durch die bloße Kenntnis der vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets befähigt, alles zu lernen, was man sonst noch wissen möchte?« Indem Lee früh aufstand und spät zu Bett ging, gelang es ihm, die lateinische Sprache zu erlernen, ehe noch seine Lehrzeit abgelaufen war. Als er eines Tages in einem Betsaal arbeitete, fiel ihm eine griechische Ausgabe des Neuen Testaments in die Hände, die in ihm sofort den Wunsch wachrief, auch die Sprache der Athener zu verstehen. Er verkaufte daher einige seiner lateinischen Bücher und erwarb dafür ein grammatikalisches Lehrbuch sowie ein Lexikon der griechischen Sprache, welche letztere er bald bewältigte, da das Lernen ihm eine Lust war. Dann tauschte er durch Kauf und Verkauf seine griechischen Bücher wieder gegen einige hebräische ein und erlernte auch die Sprache der Juden ohne den Beistand eines Lehrers – ohne Hoffnung auf Ruhm oder Lohn, einzig dem Triebe seines Genius folgend. Danach wandte er sich dem Studium des chaldäischen, syrischen und samaritanischen Dialektes zu; aber die damit verbundene Anstrengung schadete seiner Gesundheit, und die nächtliche Beschäftigung mit den Büchern rief bei ihm ein Augenleiden hervor. Nachdem er eine Zeitlang pausiert und seine Gesundheit gekräftigt, machte er sich von neuem an die Arbeit. Da er für einen vorzüglichen Handwerker galt, so blühte sein Geschäft empor, und er durfte daran denken, sich zu verheiraten – was er mit achtundzwanzig Jahren that. In der Absicht, jetzt nur noch an den Unterhalt seiner Familie zu denken und auf den Luxus der Litteratur zu verzichten, verkaufte er seine sämtlichen Bücher. Er wäre nun vielleicht sein ganzes Leben lang ein Zimmermann geblieben, wenn ihm nicht ein Schadenfeuer seine Werkzeuge, von denen seine Existenz abhing, zerstört und ihn selbst in bittere Not gebracht hätte. Er war zu arm, um sich neue Werkzeuge zu kaufen; so beschloß er denn, Kindern das Lesen und Schreiben beizubringen, zu welchem Beruf möglichst wenig Kapital gehört. Aber obwohl er mehrere Sprachen verstand, waren seine sonstigen Kenntnisse so mangelhaft, daß es anfangs mit dem Unterrichten nicht recht gehen wollte. In seiner zielbewußten Entschlossenheit machte er sich sogleich mit Eifer daran, die Rechen- und Schreibekunst so gründlich zu erlernen, daß er kleine Kinder in diesen Wissenszweigen zu unterweisen vermochte. Sein einfacher, gerader und edler Charakter erwarb ihm bald Freunde: und die Talente des »gelehrten Zimmermanns« machten in weiteren Kreisen von sich reden. Dr. Scott, ein benachbarter Geistlicher, verschaffte ihm die Stelle eines Lehrers an einer Armenschule in Shrewsbury und machte ihn mit einem hervorragenden Orientalisten bekannt. Diese beiden Freunde versahen ihn auch mit Büchern: und Lee erlernte nacheinander die arabische, persische und hindostanische Sprache. Er setzte seine Studien fort, während er als gemeiner Soldat in der Miliz der Grafschaft diente, und erwarb sich dadurch mit der Zeit immer umfassendere Sprachkenntnisse. Endlich ermöglichte ihm sein gütiger Gönner, der Dr. Scott, den Eintritt ins Königinnen-Kollegium zu Cambridge. Nachdem er dort eine Zeitlang studiert und sich dabei hervorragende mathematische Kenntnisse erworben, wurde die Professur der arabischen und hebräischen Sprache vakant: und er ward verdientermaßen für diese ehrenvolle Stellung ausersehen. Während er gewissenhaft die Pflichten seiner Professur erfüllte, wandte er freiwillig einen Teil seiner Zeit dazu an, Missionäre, die den Völkern des Ostens das Evangelium in deren eigener Sprache predigen wollten, für ihren Beruf vorzubereiten. Er übersetzte auch die Bibel in verschiedene asiatische Dialekte; und nachdem er die neuseeländische Sprache erlernt, schrieb er für zwei damals in England weilende neuseeländische Häuptlinge ein Wörterbuch und eine Grammatik, die beide noch heute in den Schulen Neuseelands allgemein benutzt werden. Dies ist die kurze Darstellung der merkwürdigen Lebensgeschichte des Dr. Samuel Lee, welche nur ein Seitenstück zu den zahlreichen ebenso belehrenden Beispielen einer beharrlichen und erfolgreichen Selbstvervollkomnmung ist, die wir in dem Leben vieler der hervorragendsten Vertreter unserer Litteratur und Wissenschaft finden können. (Man lese das bewunderungswürdige und wohlbekannte Buch: »Wissenschaftliches Streben unter Schwierigkeiten« (The Pursuit of Knowledge under Difficulties.)
Es ließen sich wohl noch viele andere berühmte Namen anführen, welche die Wahrheit jenes volkstümlichen Sprichwortes zu beweisen vermöchten, wonach »man zum Lernen nie zu alt ist.« Selbst in vorgerückten Jahren kann man noch viel leisten, wenn man sich nur entschließt, einen Anfang zu machen. Sir Henry Spelman wandte sich dem Studium der Wissenschaft erst zu, als er zwischen seinem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahre stand. Franklin wurde fünfzig Jahre alt, ehe er sich ganz dem Studium der Naturphilosophie zu widmen beschloß. Dryden und Scott wurden erst in ihrem vierzigsten Jahre als Schriftsteller bekannt. Boccaccio war fünfunddreißig Jahre alt, als er seine litterarische Laufbahn begann; und Alfieri hatte sein sechsundvierzigstes Jahr erreicht, als er es unternahm, die griechische Sprache zu studieren. Dr. Arnold erlernte erst in vorgerücktem Alter die deutsche Sprache, um Niebuhr im Original lesen zu können; und in ähnlicher Weise eignete sich James Watt mit ungefähr vierzig Jahren – während er als Instrumentenmacher in Glasgow arbeitete – die Kenntnis des Französischen, Deutschen und Italienischen an, um imstande zu sein, die wertvollen Werke über mechanische Theorie zu lesen, welche in den genannten Sprachen existierten. Thomas Scott hatte sein sechsundvierzigstes Jahr zurückgelegt, ehe er daran dachte, die hebräische Sprache zu erlernen; und Robert Hall lag einst in seinem hohen Alter, von Schmerzen geplagt, auf dem Fußboden seines Zimmers und lernte Italienisch, um die Parallele, welche Macaulay zwischen Milton und Dante gezogen, besser beurteilen zu können. Händel vollendete sein achtundvierzigstes Jahr, ehe er eins seiner großen Werke veröffentlichte. Und so könnte man wohl noch mehrere hundert Beispiele von Männern finden, die in einem verhältnismäßig späten Lebensalter ihren Beruf mit einem ganz anderen vertauschten und sich erfolgreich neuen Bestrebungen zuwandten. Nur der Leichtfertige oder der Träge kann sagen: »Ich bin zum Lernen zu alt!« –
Und hier möchten wir die schon früher von uns gemachte Bemerkung wiederholen, daß es weniger die Genies sind, welche die Welt bewegen und leiten, als vielmehr solche Männer, die einen beharrlichen und festen Willen neben einem unermüdlichen Fleiße besitzen. Trotz der vielen unleugbaren Beispiele von der Frühreife genialer Menschen ist es doch nichtsdestoweniger wahr, daß eine frühzeitige geistige Entwicklung noch kein Maßstab für die künftige Geistesbeschaffenheit des erwachsenen Menschen ist. Die Frühreife ist eher ein Symptom geistiger Krankheit als Gesundheit. Was wird aus all den »merkwürdig klugen« Kindern? Wo bleiben schließlich die kleinen Weltwunder und Musterknaben? Wenn man ihren Lebenslauf verfolgt, so findet man nicht selten, daß sie von den Dummköpfen, die in der Schule Schläge erhielten, überholt worden sind. Die klugen Knaben werden belohnt; aber die Prämien, welche sie durch ihre größere geistige Regsamkeit und Gewandtheit gewinnen, thun ihnen nicht immer gut. Was man eher belohnen sollte, ist die Bemühung, die Anstrengung und der Gehorsam; denn der Knabe, welcher bei geringer natürlicher Begabung sein Bestes leistet, verdient vor allen anderen ermutigt zu werden.
Man könnte ein interessantes Kapitel über berühmte Dummköpfe – d. h. über dumme Knaben schreiben, die sich später zu hervorragenden Männern entwickelten. Wir wollen des beschränkten Raumes halber nur ein paar Beispiele anführen. Der Maler Pietro di Cortona galt als Knabe für so dumm, daß man ihm den Spottnamen »Eselskopf« gab; und Tomaso Guidi war allgemein unter der nicht schmeichelhafteren Bezeichnung: »Tom, der Schwerfällige« (Massaccio Tomasaccio) bekannt, obwohl er sich später durch Fleiß zu der höchsten Bedeutung aufschwang. Newton saß in der Schule als Vorletzter auf der untersten Bank. Als aber der über ihm sitzende Junge ihn stieß, zeigte der Dummkopf, daß er Mut hatte; denn er forderte den anderen zum Kampfe heraus und walkte ihn durch. Danach faßte er den Entschluß, fleißig zu sein und seinen Gegner auch im Lernen zu besiegen; und dies gelang ihm ebenfalls so gut, daß er schließlich den obersten Platz in der Klasse erhielt. Viele unserer größten Theologen sind nichts weniger als frühreif gewesen.
Isaac Barrow war als Knabe auf der Schule zu Charterhouse wegen seiner Heftigkeit, Zanksucht und sprichwörtlichen Trägheit berüchtigt und bereitete dadurch seinen Eltern solchen Kummer, daß sein Vater zu sagen pflegte, er hoffe, Gott werde, wenn er ihm eins seiner Kinder sollte nehmen wollen, sich hierzu Isaac ausersehen, von welchen doch am wenigsten zu erwarten sei. Adam Clarke wurde als Junge von seinem Vater für einen »heillosen Dummkopf« erklärt obwohl er große Steine weiterzurollen verstand. Der Dekan Swift wurde von der Dubliner Universität »geschwenkt« und nur »speciali gracia« unter die Studierenden der Oxforder Hochschule aufgenommen. Der wohlbekannte Dr. Chalmers und der Dr. Cook, weiland Professor der Moralphilosophie zu St. Andrews, gingen zusammen in die Gemeindeschule der letztgenannten Stadt und zeigten sich dort so unfähig und ungezogen, daß der aufs äußerste gereizte Lehrer sie bei ihrer Entlassung als unverbesserliche Faulpelze und Dummköpfe bezeichnete.
Der geniale Sheridan erschien als Knabe so unbegabt, daß seine Mutter ihn einem Lehrer mit der angenehmen Empfehlung vorstellte, daß er ein hoffnungsloses Schaf wäre. Auch Walter Scott war in der Schule durchaus kein Licht und zeigte sich immer eher zu einer »Keilerei« als zum Lernen bereit. Auf der Edinburger Universität fällte der Professor Dalzell über ihn das Urteil, daß »er ein Dummkopf sei und auch ein Dummkopf bleiben werde.« Chatterton schickte man seiner Mutter als »einen Idioten zurück, mit dem nichts zu machen sei.« Auch Burns war ein unfähiger Knabe, der sich nur in athletischen Übungen auszeichnete. Goldsmith sagte von sich selbst, er sei eine spät blühende Pflanze. Alfieri kam aus der Schule nicht klüger heraus, als er in sie eingetreten war; er begann die Studien, in denen er sich später auszeichnete, erst nachdem er halb Europa durchreist hatte. Robert Clive war in seiner Jugend ein Dummkopf, wenn nicht gar ein Taugenichts; aber er bewies stets Energie, selbst in der Schlechtigkeit. Seine Familie, die ihn nur zu gern los sein wollte, schickte ihn nach Madras; und er blieb am Leben, um die englische Macht in Indien zu begründen. Napoleon wie Wellington waren scheinbar unbegabte Knaben, die sich in der Schule in keiner Weise auszeichneten.Ein Mitarbeiter der »Edinburgh Review« (Juli 1859) bemerkt: »Die Fähigkeiten des Herzogs scheinen sich nicht eher entwickelt zu haben, als bis ein Feld praktischer Thätigkeit unmittelbar vor ihnen lag. Seine spartanisch gesinnte Mutter, die ihn für einen Dummkopf hielt, bezeichnete ihn lange Zeit nur als »Kanonenfutter.« Weder zu Eton noch auf der französischen Militärakademie zu Angers erwarb er sich irgend eine Auszeichnung.« Es ist sogar sehr möglich, daß er heute – falls er noch lebte – bei dem Offiziersexamen durchfallen würde. Von dem ersteren berichtet die Herzogin d'Abrantes, »er habe eine gute Gesundheit gehabt, sei aber im übrigen durchaus wie andere Knaben gewesen.«
Ulysses Grant, der Oberbefehlshaber der nordamerikanischen Armeen, wurde von seiner Mutter »Useless Grant« (der unnütze Grant) genannt, weil er als Knabe so einfältig und ungeschickt war; und Stonewall Jackson, der bedeutendste Offizier des Generals Lee, zeichnete sich in seiner Jugend hauptsächlich durch seine Langsamkeit aus. Als Schüler der Militärakademie zu West-Point that er sich jedoch durch unermüdlichen Eifer und eben solche Beharrlichkeit hervor. Stellte man ihm eine Aufgabe, so ließ er nicht eher davon ab, als bis er sie gelöst; auch gab er sich nie den Anschein, ein Wissen zu besitzen, das er sich nicht wirklich aneignet.
Jemand, der ihn kannte, berichtete über ihn, wie folgt: »Wenn man ihn über das Pensum des Tages befragte, so pflegte er allemal zu sagen, »er habe es noch nicht recht begriffen, da er sich noch mit dem gestrigen oder vorgestrigen habe beschäftigen müssen.« Das Resultat hiervon war, daß er der siebzehnte in einer Klasse von siebzig Schülern wurde. Unter all diesen gab es wahrscheinlich nicht einen einzigen, dem Jackson nicht zu Anfang an Kenntnissen und Fähigkeiten nachgestanden hätte; aber am Ende des Wettlaufes hatte er nur noch sechzehn vor sich, sodaß er nicht weniger als dreiundfünfzig hinter sich gelassen. Seine Zeitgenossen behaupteten, er wäre der Erste der Klasse geworden, wenn der Kursus nicht vier, sondern zehn Jahre gedauert hätte. (Der Korrespondent der »Times,« den 11. Juni 1863.)
John Howard, der Philantrop, war auch ein berühmter Dummkopf, der während seines siebenjährigen Schulbesuchs so gut wie nichts lernte. Stephenson zeichnete sich als junger Mensch besonders durch seine Geschicklichkeit im Stoßen und Boxen, daneben freilich auch durch gewissenhaftes Arbeiten aus. Der talentvolle Sir Humphry Davy war seinerzeit nicht klüger als andere Knaben; sein Lehrer, der Dr. Cardew, äußerte einmal über ihn: »So lange er unter meiner Aufsicht war, konnte ich von seinen hervorragenden Gaben nichts entdecken.« Davy selbst sah es in seinem späteren Leben als ein Glück an, daß er es sich auf der Schule »so bequem gemacht hatte.« Watt war ein unbegabter Schüler trotz allem, was man von seiner Frühreife gefabelt hat. Aber er besaß die wertvolleren Eigenschaften der Geduld und Beharrlichkeit; und durch diese, sowie durch sein sorgfältig gepflegtes Erfindungstalent vermochte er seine Dampfmaschine herzustellen.
Wenn Dr. Arnold mit Bezug auf verschieden beanlagte Knaben sagte, daß der Unterschied zwischen denselben weniger in der Begabung als in der Energie liege, so läßt sich dieser Ausspruch mit gleicher Berechtigung auch auf Männer anwenden. Eine angeborene Geduld und Energie wird bald zur Gewohnheit. Falls der Einfältige Beharrlichkeit und Fleiß besitzt, wird er sicher den klügeren Gefährten, dem diese Eigenschaften fehlen, überholen. Die zielbewußte Langsamkeit läuft der unstäten Hast den Rang ab. Der verschiedene Grad der Beharrlichkeit ist der Grund für die Umwälzung, welche die Rangordnung der Schüler so oft im späteren Leben erfährt; und es ist merkwürdig zu beobachten, wie so viele Wunderkinder sich schließlich in so gewöhnliche Menschenexemplare verwandeln – während aus einfältigen Knaben, von denen man nichts erwartete, die aber langsam und sicher ihren Weg fortsetzten, schließlich Führer der Menschheit wurden. Der Autor dieses Buches saß als Knabe auf der gleichen Klasse mit einem der größten Dummköpfe. Ein Lehrer nach dem anderen hatte vergeblich seine Kunst an ihm versucht. Körperliche Züchtigung, Spott, gütliches Zureden und ernste Ermahnungen – alles blieb erfolglos. Zuweilen setzte man ihn versuchshalber auf den ersten Platz der Klasse; und es war dann spaßhaft anzusehen, mit welcher Geschwindigkeit er bis auf den unvermeidlichen letzten Platz herunterrutschte. Endlich wurde er als ein hoffnungsloser Einfaltspinsel von allen Lehrern aufgegeben und von einem derselben für »ein Wunder von Dummheit« erklärt. Aber bei aller Langsamkeit besaß dieser Dummkopf eine Art eigensinniger Willenskraft, die mit seinen Muskeln und seiner körperlichen Entwicklung zunahm; und – seltsam genug! – als er schließlich an den Geschäften des praktischen Lebens teilnahm, kam er vielen seiner Schulgefährten zuvor und ließ mit der Zeit den größten Teil derselben weit hinter sich zurück. Als der Autor zum letztenmal von ihm hörte, war er der oberste Beamte seiner Heimatstadt.
Die Schildkröte, welche auf dem rechten Wege kriecht, besiegt den Renner, der eine falsche Straße verfolgt. Ein Jüngling mag immerhin langsam sein, wenn er nur fleißig ist. Ein rascher Verstand ist unter Umständen ein Nachteil, weil der Leichtlernende meistens auch ebenso leicht vergißt; und weil er es nicht nötig hat, jene Tugenden des Fleißes und der Beharrlichkeit zu üben, die der langsamere Schüler bewähren muß, und die für die Charakterentwicklung von so hoher Bedeutung sind. Davy äußerte einmal: »Was ich bin – das habe ich selbst aus mir gemacht,« und das könnten viele von sich mit gleicher Berechtigung sagen.
Kurz – die beste Erziehung ist nicht die, welche uns unsere Lehrer auf der Schule oder Universität geben, sondern jene, die wir uns als Männer durch unsere eigene fleißige Fortbildung verleihen. Daher sollten Eltern nicht solche große Eile damit haben, die Talente ihrer Kinder zur Blüte zu bringen. Ihre Sache ist es, geduldig zu beobachten und zu warten, gutes Beispiel und stille Arbeit wirken zu lassen und das übrige der Vorsehung anheimzustellen. Mögen sie dafür sorgen, daß der Knabe durch reichliche Übung seiner Körperkräfte mit einem gehörigen Vorrat physischer Gesundheit versehen werde! Mögen sie ihn treulich auf den Weg der Selbsterziehung führen und ihn sorgsam an Fleiß und Ausdauer gewöhnen! Dann wird er schon – wenn er nur überhaupt etwas wert ist – imstande sein, kräftig und Wirksam an seiner eigenen Vervollkommnung zu arbeiten.