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An diesem Abend verlangte Emita noch einmal die Totenharfe zu hören.
Melitta war, von ihrem Ausbruch ermattet, in einen leichten Schlummer gefallen.
Nun wurde sie durch Emitas Stimme zurückgerufen.
»Nein«, antwortete sie. »Ich bin zu müde.«
Emita liess keine Ruhe. Sie war an diesem Abend von einer seltsamen Klarheit.
»Es ist alles Lüge«, sagte Melitta.
Sie hörte einen klagenden Laut, erschrak und trat an Emitas Bett.
Die Kranke war in das Kissen zurückgesunken. Ihre Augen liessen nicht von Melitta.
Sie lag da, dürr und elend, ein Bündel Unglück, nichts weiter.
In dem ärmlichen Bett, in der leeren Kammer lag sie, verlassen, weggestossen, fortgejagt von der reichen Tafel des Lebens.
Sie war eine Tänzerin gewesen, ein leichter Vogel Gottes.
Sie hatte Freude und Verlangen in die Blicke der Männer getanzt.
Sie war eine zierliche Blume gewesen.
Nun lag sie abseits am Wege.
Sie hatte nichts mehr zu erhoffen. Sie selbst hatte längst jede Hoffnung abgetan. Sie wünschte nichts mehr, als in ihrem Traum hingehen zu dürfen.
Sie sagte:
»Er will mit mir reden. Ich fühle es.«
»Da ist keiner mehr«, antwortete sie.
»Doch, doch«, flüsterte Emita.
»Es war nie einer da«, erwiderte Melitta und ging zurück in die Stube.
Sie hörte Emita weinen.
Sie hörte es ohne Mitleid.
Dann wurde sie wieder von der Kranken an das Bett gerufen.
Sie ging widerwillig. Ihre Stimme hatte einen harten Klang bekommen.
Emita sagte ängstlich:
»Warum lässt du mich allein? Ich habe immer in Liebe an dich gedacht. Ich konnte dich nicht mitnehmen. Ich hätte es gerne getan – ja, ach ja.«
Sie schwieg seufzend.
Dann kam ein Lächeln auf ihren Mund.
»Ich war eine Künstlerin, eine grosse Künstlerin. Ich musste in die Welt.«
Sie wollte Melittas Hand ergreifen.
»Du hattest einen guten Mann. Ja, du hattest dein Zuhause. Warum habt ihr mich alleine gelassen?«
Sie warnte auf eine Antwort, aber sie bekam keine.
»Du hättest mich wohl zu dir nehmen können«, sagte sie. »Ach, wir haben sehr gehungert. Manchmal hatten wir kaum Kartoffeln. – Dann ist er gestorben. Er ist selber gegangen. Er war der einzige Freund meines Lebens.«
Sie schwieg. Sie lauschte auf ein Wort von Melitta.
Melitta trat einen Schritt zurück, Emita konnte ihre Hände nicht fassen.
»Dass du mich nicht verstehst«, klagte sie. »Ich war doch eine Künstlerin. Ja, du müsstest mich verstehen. Auch dein Vater war doch Künstler. Du hast ihn nicht gekannt. Er war ein grosser Künstler. Er hatte seine eigene Kapelle. Er ist in Rio gestorben. Ja, du müsstest mich verstehen.«
Sie streckte ihre Hand nach Melitta aus.
»Ich wollte dich ausbilden lassen. Das war mein Traum. Aber dann musste ich doch in die Welt, in die grossen Städte. Als ich zurückkam, war es zu spät für dich. Es war mein grösster Schmerz. Vielleicht war es gut, Künstlertum ist Glanz und Flitter.«
»Warum willst du mir deine Hand nicht geben?« bat sie. »Warum willst du nichts von mir wissen. Ach, wenn doch der Millionär noch lebte!«
Melitta lachte kurz auf.
»Dein Millionär!« rief sie, »es hat nie einen gegeben. Du hast mich belogen. Es gab keinen Millionär. Deine Villa, fremden Leuten gehört sie! Dein Land in den Bergen, arm, jawohl, hundearm! Dein Silber – alle, – deine Steine – tot! Nichts! nichts! Mein ganzes Leben – belogen!«
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie schrie:
»Belogen!«
Sie zerrte das Tuch fort. Sie riss an den Drähten. Sie verwirrte die Drähte. Sie verbog die Stangen.
»Tot«, schrie sie, »alles tot!«
Sie schleuderte die Harfe zu Boden. Sie trat darauf.
»Lüge! Lüge!«
Sie war ganz von Sinnen.
Emita richtete sich plötzlich auf.
Ganz weiss sass sie auf im Bett.
Ihre Augen glühten. Ihre Lippen bebten.
»Hexe!«
Sie hauchte es nur, aber das Wort wurde riesengross, es erfüllte das Zimmer, es drängte Melitta zurück.
Sie wich Schritt für Schritt. Das Wort kam ihr nach.
Sie wollte flüchten, aber das Wort bannte sie. Es gab die Türe nicht frei. Ihre Schritte waren gekettet. Sie sank auf das Sofa. In der äussersten Ecke sass sie, steif und starr.
Sie sass wie am ersten Abend.
Starr sass sie die Nacht über, starr und steif.
Oh diese Nacht.
Einst lag eine Frau krank. Gegen Mitternacht rief sie ihren Mann zu sich und sagte:
»Wenn du willst, dass mir geholfen werden soll, so musst du das schnellste Pferd nehmen und nach dem Blocksberg reiten. Da wird eine alte schwarze Frau zu dir treten. Der sollst du drei Haare vom Haupte nehmen. Die musst du mir bringen. Aber reite geschwinde, sonst ist es zu spät.«
Da ritt der Mann wie ein Sturm auf den Blocksberg.
Er sah viele Hexen, dann kam auch die Alte.
Er griff sie und wollte drei Haare haben. Sie lachte ihn aus und biss nach ihm.
Da nahm er den Stock und schlug sie tot. Der Toten riss er die Haare aus.
Er brachte die Haare der kranken Frau.
Sie sprach:
»An deinem Stecken ist Blut.«
Er lachte:
»Ich schlug die Hexe tot!«
Da fuhr die Kranke ihm ins Gesicht:
»So hast du meine Mutter erschlagen!«
Oh diese Nacht.
Eine unheimlich stille Nacht. Eine bleierne Nacht.
Wenn doch ein Schritt die Strasse entlang käme. Aber es kommt kein Schritt.
Wenn doch ein Käuzchen riefe. Aber es ruft kein Vogel.
Es ist keine Uhr da, die schwingt.
Es tickt kein Käfer im Holz.
Ach, und es schlägt kein Herz.
Diese Nacht verbrachte Melitta in grosser Angst. Dann, als es Licht wurde, packte sie hastig ihre Sachen zusammen.
Jetzt ist es hell, ja, jetzt kann ich fort, denkt sie, die Nacht ist tot, der Spuk ist vorbei.
Hastig kramte sie alles zusammen.
Sie wagte sich nicht in Emitas Kammer. Furchtsam hütete sie ihren Blick. Sie wollte lautlos hinaus.
Aber dann fiel ihr ein: Wenn er heimkommt, der Kapitän – was wird er sagen? Wo ist das Silber? Wo sind die Millionen? Pah, leere Hände. Ich hab es geahnt. Du hast mich belogen.
Die leeren Hände – – – Melitta zögert. Die leeren Hände – – – Es muss doch was da sein!
Sie huscht an den Tisch. Sie durchwühlt den Kasten. Sie macht sich am Sofa zu schaffen. Sie fällt über das Sofa her. Sie durchwühlt es.
In den Gurten findet sie einen Beutel.
Einen dünnen Beutel mit wenigen Münzen. Ganz unten ein Geldschein.
Sie zählt die Münzen. Sie zählt sie gierig.
Die Türe war aufgegangen. Melitta hatte es nicht bemerkt. In der Tür stand Dorothee.
Sie sah die Mutter mit der klingenden Beute.
»Wie ein Tier im Sprung stand Melitta da. Noch über das Sofa gebeugt, klapperte sie mit dem Raub. Ihr Hut war verrutscht, ihr Haar hing wirr.
Dorothee schrie entsetzt.
Melitta fuhr auf.
Wie ein Dieb lief sie an Dorothee vorbei, lief sie ins Freie.