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Aline war in Aufregung. Sie hatte den Brief ihres Bruders Jakob gefunden und um die Mittagsstunde war Tzigane durch die schmale Hofpforte in das Haus geschlüpft.
Aline stiess einen kleinen Schrei aus, als sie Schikane bei sich in der Küche sah. Sie liess das Zigeunermädchen nicht aus den Augen.
»Halt die Hände auf dem Rücken«, sagte sie drohend. »Man weiss nie, wie rasch etwas in eurer Tasche verschwindet.«
Schikane war durch diese Worte nicht im geringsten betroffen. Sie stand bescheiden an der Türe und zeigte lächelnd die Zähne.
»Was willst du?« fragte Aline.
»Wenn die Frau eine Gabe hätte«, bettelte Schikane.
Aline war auf herumstreifendes Volk nicht gut zu sprechen. Sie dachte wohl, es genüge schon, wenn der leibliche Bruder mit einer Trompete auf den Strassen sich umhertriebe. Sie warf Schikane einen grimmigen Blick zu.
»Ich hab hinterm Schrank eine Wurst aus Holz, damit werde ich dir geben«, rief sie und langte nach dem Besen.
Schikane schrie plötzlich hell auf.
»Frau«, stammelte sie, »Frau«, und zeigte auf das Schutzblech vorm Herd.
Aline blickte hin und zuckte die Schultern, weil sie nichts sah.
Schikane bückte sich schnell und hob eine Hühnerfeder auf. Sie strich die Feder glatt, zupfte daran, strich wieder darüber und begann von neuem zu zupfen. Dabei bewegte sie unablässig die Lippen.
»Lass den Hokuspokus«, schalt Aline.
»Gut«, lachte sie, »alles gut.«
Aline fing an neugierig zu werden, auch war sie verwundert, wie die Hühnerfeder auf ihr Herdblech gekommen war. Sie blickte Schikane misstrauisch an, aber das Mädchen stand unbefangen da.
»Gut, gut«, versicherte sie immer wieder.
Wenn es dem Himmel gefällt, durch einen Fingerzeig eine zukünftige Freude bedeutsam anzukündigen, dann schliesst man sein sprödes Herz schon auf. Aline strich die zornige Stirne glatt und erkundigte sich freundlicher:
»Was ist denn gut?«
Schikane trat zutraulich näher, und während sie hier und da auf die Hühnerfeder deutete, entgegnete sie:
»Grosser Wagen. Ein guter Mann – sehr gut –. Liebe Frau, seht her. Weisses Federchen – Glück, braunes Federchen – Geld. Rotes Federchen – Herzliebster. Alles zur Hand«, sagt Tzigane.
Aline hatte am Morgen den Brief ihres Bruders mehrere Male gelesen, zuerst mit Spott, dann nachdenklicher, und schliesslich mit viel Aufmerksamkeit.
Was geht mich der Nachbar an? hatte sie anfangs gebrummelt. – Also er hat Geld und will sich bei Leisegang beteiligen, dachte sie nach dem zweiten Lesen. – Er ist ein ansehnlicher Mensch in den besten Jahren. Damit hatte sie den Brief in die Schürzentasche geschoben.
Nun schien die Hühnerfeder, welche die Vorsehung ihr durchs Fenster gepustet hatte, auf gleiches hinzudeuten.
Ich müsste mich doch mal mit Jakob bereden, entschied sie sich.
Sie öffnete den Küchenschrank, nahm einige Pfennigstücke heraus und gab sie Schikane. Dann schickte sie das Mädchen fort.
Etwas später verliess sie selber das Haus, verschloss sorgfältig die Türen, denn man konnte nicht wissen, ob die Zigeunerin nicht noch einmal zurückkommen würde, und machte ich auf den Weg, ihren Bruder zu suchen. Er hatte ihr in dem Briefe mitgeteilt, dass er einen Tag noch in Erwinsrode zu bleiben gedächte und im Hause des Schlächters Demuth zu finden wäre.
Als Aline hinkam, war er aber nicht da, und Frau Demuth konnte ihr auch nicht sagen, wo er sich aufhielte.
Aline suchte ihn nun in allen Gassen, fragte auch die Nachbarn nach ihm und trug jedem auf, ihr den Bruder ins Haus zu schicken, falls sie seiner ansichtig werden sollten.
Der Tag verging aber, ohne dass Jakob im reichen Winkel sich einfand.
Ja, nun war es wirklich so, wie er tags zuvor gehofft hatte, Aline rief aus allen Fenstern nach ihm.
Statt des Trompeters stellte sich am Abend noch einmal Schikane ein. Sie sagte gleich, was sie wollte. Geld wollte sie haben, denn sie wüsste, wo Jakob Rauchmaul zu finden wäre. Aline gab ihr schimpfend die Groschen. Was sollte sie auch tun? Es lag ihr daran, den Bruder zu sprechen. Sie war jetzt so versessen auf seine Eingebung, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam, einem abgekarteten Spiel zum Opfer gefallen zu sein. Schikane aber kam auf diese Weise zu dem Geld, was Rauchmaul ihr für ihre Dienste wohl versprochen, aber nicht hatte zahlen können.
Es war erstaunlich, wie schnell der Trompeter jetzt in die Stube trat. Kaum war Tzigane verschwunden, stand er schon da.
Er setzte sich behaglich aufs Sofa, streckte die Beine von sich und hörte Alines Worte gedankenlos an.
»Du hörst wohl gar nicht zu«, sagte sie ärgerlich.
»Mein Magen knurrt mir immer dazwischen«, antwortete Rauchmaul entschuldigend.
Aline musste wohl oder übel den Tisch decken, und erst nachdem der Trompeter einigermassen gesättigt war, fing er an, auf Alines Worte einzugehen.
»Ja, der Nachbar«, sagte er anerkennend, »ein Mann mit Charakter, das, was du suchst. Ich meine, man soll die Gelegenheit beim Schopf fassen. Wenn er jetzt sesshaft werden sollte, wird er früher oder später doch auf die Idee kommen, sich eine Frau ins Haus zu holen. Warum soll man ihn der Gefahr aussetzen, die Falsche zu ergattern, wo doch meine Schwester Aline eine ganz passable Frau abgäbe. Ja, Linchen, ich hab mir die Sache reiflich durch den Kopf gehen lassen. Ich muss zwar sagen, du hast es nicht um mich verdient, aber schliesslich bin ich dein Bruder und als Mannsperson für ein alleinstehendes Frauenzimmer verantwortlich.«
»Alles gut und schön«, antwortete Aline.
Sie hatte die praktische Seite schon bis ins kleinste durchdacht. Aber da war noch ein Haken. »Alles gut und schön, der Nachbar in Ehren. Ich weiss, dass er überall in gutem Ruf steht, doch wenn man daran geht, ihn zu heiraten, muss man doch etwas über seine Vergangenheit wissen.«
»Vergangenheit!« lacht Rauchmaul, »er wird schon keinen Totschlag auf dem Gewissen haben, und alles andere? La la la«, singt Rauchmal. »Aber wenn du Wert darauf legst, will ich mich danach erkundigen.«
»Tu es«, bat Aline. Damit war diese Frage vorläufig erledigt und sie gingen daran, Pläne zu schmieden. Sie richteten das Haus neu ein, stellten in Gedanken die Möbel um und ordneten alles so, dass ein Mann wohl seine Gemütlichkeit haben könnte.
»Er hat keinen weiten Weg von hier bis zur Schneidemühle«, sagte Rauchmaul und stellte das als eine besondere Annehmlichkeit hin.
»Du hast recht«, stimmte Aline bei, »er könnte sich morgens Zeit lassen.«
So waren sie in allem auf Pagels Wohl bedacht und fanden zuletzt mit Befriedigung, dass seine Entscheidung ihm eigentlich gar nicht schwer fallen dürfte.
»Mir will es jetzt scheinen«, warf Aline ein wenig verschämt ein, »als wäre es auch mein Herzenswunsch.«
Der Trompeter blies sich gewaltig auf, sass in dem alten Backenstuhl und paffte, dass die Augen der Schwester anfingen zu tränen.
»Er ist ein starker Raucher«, erklärte Jakob. »Daran musst du dich gewöhnen.«
Aline hustete und wedelte den Qualm mit der Hand fort.
»Das lernt sich alles«, lachte der Trompeter und liess eine neue Rauchschlange dickfällig durch die Stube sich winden.
»Mach's nicht zu toll«, bat Aline, aber sie wagte nichts weiter zu sagen.
Jakob dachte nicht mehr daran aufzubrechen.
»Meine Kammer in Ordnung?« fragte er nebenbei.
Aline ging gehorsam hinaus und er hörte sie die Treppe emporsteigen. Zufrieden schmunzelte er vor sich hin und als sie wieder in die Stube trat, sang er selbstbewusst: »Brüderlein fein – Brüderlein klein.«
In dieser Nacht brauchte der Trompeter sich kein Schlummerlied singen zu lassen, er schlief wie von Engeln gewiegt. Auf goldener Trompete ritt er durch Erwinsrode. Der verrückte Maler hatte einen Schlegel an seinen Schlapphut genäht und läutete ihn als Hochzeitsglocke. Bim baum, das Bräutchen.
Ja, der Maler und der Trompeter liefen von Haus zu Haus und baten zur Feier. Aber von Türe zu Türe wurden sie kleiner und kleiner, und schliesslich konnten sie nicht mehr die Klinken erreichen. So winzig waren sie geworden. Da mussten sie wie Kobolde durch den Türspalt schlüpfen, lärmten an der Schwelle, posaunten und läuteten, bim baum, das Bräutchen.
Es war ein närrischer Traum, und Jakob wachte am Morgen belustigt auf.
»Bim baum, das Bräutchen«, lachte er und kniff Aline in die Wange.
Ach, sie war so glücklich über seine gute Idee, schlug ihn in den Rücken und tat ihm reichlich Zucker in den Kaffee.
Ihr Gespräch lief der Zeit voraus, ihre Gedanken sprangen spielend über jedes Hindernis.
Aber die Wirklichkeit hat einen langsameren Schritt.
Der Trompeter hielt sich jetzt viel in dem Hause des Schlächters auf, versuchte, des Nachbars habhaft zu werden, aber Pagel war immer unterwegs. Er bot seine Ware in dem entfernten Forsthaus an, klapperte entlegene Walddörfer ab oder verhandelte tagelang mit dem Schloss wegen Leinenstoff für die Dienstboten. Wenn er zufällig einmal bei Demuth anzutreffen war, konnte der Trompeter auch nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen.
Nein, die Wirklichkeit hatte keine Siebenmeilenstiefel an.
Jakob wollte die Zeit wenigstens benützen, um Erkundigungen über die Vergangenheit des Nachbarn anzustellen. Er hielt es zwar für ein müssiges Geschäft, aber er hatte es Aline versprochen, und nun ergab sich bei seinen Fragen, dass niemand recht wusste, wer der Nachbar eigentlich war. Sie kannten ihn alle schon jahrelang, hatten sich aber nie über ihn den Kopf zerbrochen. Sie fanden auch jetzt nichts Auffälliges dabei, er war eben der gute Nachbar, der bisher keinem Menschen einen Schaden zugefügt hatte, der ohne grosses Getratsch kam und ohne Missklang wieder ging.
Jakob hütete sich auch, seine Fragen allzudeutlich anzubringen, denn er wusste, wie leicht man durch eine kleine Unvorsichtigkeit das Vertrauen zu einem Menschen untergraben kann. Er wollte dieses Vertrauen nicht verringern, sondern im Gegenteil, wenn es nach ihm gegangen wäre, würde man von allen Türmen ein Loblied blasen auf den guten Nachbar.
Auch Stiwenhack hatte bald herausbekommen, welches Ansehen sein Lebensretter, wie er Pagel noch immer nannte, überall genoss. Da er selber auf dünnem Seil balancierte, war es ihm nicht zu verargen, wenn er von diesem Vertrauen ein wenig profitieren wollte.
»Ja, wir beide sind alte Bekannte«, pflegte er oft zu sagen. Auch dem Trompeter gegenüber äusserte er sich in dieser Weise.
Er hatte sich aus Latten eine Staffelei zurechtgezimmert und sass auf einem alten Fass auf dem Hofe, eifrig bemüht, das Balkengewirr mit spärlichen Farben, die er geschickt zu mischen verstand, auf die Leinewand zu bannen.
»Bunt muss ein Bild sein«, sagte er zu Jakob, der neugierig zusah. »Auch der Himmel spart nicht mit Farben. Ich habe einmal ein Haus am Meer ausgemalt, goldene Fische, silberne Boote, Wolken aus Perlmut. Der Besitzer war ein reicher Kapitän, er hatte eine wunderschöne Frau. Wir sind als Freunde geschieden.«
Ja, da oben am Meer. Stiwenhack geriet in Begeisterung.
»Das Haus ein Palast, sag ich Ihnen. Jeden Tag ein Fest. Auf einem Dampfer kamen die Gäste, mit Musik kamen sie an. Wir haben getanzt und geschwelgt. Schlitten gefahren sind wird und haben Fasanen gegessen. – Ach, und die Frau des Hauses, eine Göttin. Melitta hiess sie. Ein Name aus einem Märchen. Ja, es war eine bunte Zeit. Bunt, sag ich Ihnen. Der Himmel spart nicht mit Farben.
Der Trompeter stand bescheiden dabei. Was musste das für ein Leben gewesen sein. Er war immer schon zufrieden, wenn er im rechten Augenblick auf ein Schlachtefest kam.
Stiwenhack malte und rief verwunschene Worte aus. Rauchmaul konnte endlich seine Frage anbringen. Er leitete sie vorsichtig ein.
»Ja, die Menschen hier sind wohl anders«, sagte er. »Sie gehen nicht so aus sich heraus. Höchstens, wenn Kirmes ist. Nein, sonst haben sie es nicht so mit der Lustigkeit. Nun, Sie haben sie ja schon kennengelernt. Für einen Trompeter manchmal ein saures Brot.«
»Ich kenne sie alle«, antwortete Stiwenhack mit grosser Gebärde. »Essigwasser mit Zucker trinkt man hierzulande. Ich habe neulich zu meinem Freund, zum Nachbar, gesagt – – –«
»Sie kennen den Nachbar schon lange?« unterbrach ihn der Trompeter schnell, ehe Stiwenhack auf einen anderen Gedanken springen konnte.
»Sehr lange«, antwortete der Maler.
Weiter äusserte er sich nicht, sondern wollte in seiner Rede fortfahren, aber der Trompeter liess es nicht dazukommen.
»Ich kenne ihn schon – warten Sie mal«, er rechnete die Jahre nach, »ja, ein Mensch, auf den man bauen kann. Sie sind also befreundet mit ihm?«
»Jawohl«, entgegnete Stiwenhack kurz.
Das war nun wenig, und der Trompeter konnte bloss die Achseln zucken.
»So, also schon länger«, sagte er beharrlich.
Stiwenhack war gereizt.
»Wir haben uns in der Arche Noah kennengelernt. Das Datum kann ich Ihnen auch noch sagen.«
Frau Demuth kam dazu und betrachtete mürrisch den Trompeter.
»Lass ihn in Ruhe malen«, sagte sie ungeduldig.
Das Bild kam ihr nicht rasch genug voran, zumal ihr Mann täglich seine hämischen Bemerkungen über den hungrigen Professor machte.
Stiwenhack war im höchsten Grade missvergnügt.
»Die Vertraulichkeit des Trompeters bringt mich um das Renommee«, beschwerte er sich am Abend bei dem kleinen Kantor.
Er verbrachte die Abende jetzt oft in dessen Wohnung.
Ja, Stiwenhack hatte dem Leben einmal wieder eine behagliche Zeit abgewonnen. Er sass am gedeckten Tisch, liess sich Flöte vorspielen, und wenn die Stunde vorgerückt war, stieg seine Phantasie zu Ross, um vor den Ohren des wunderseligen Kantors in den verstiegensten Eskapaden Parade zu reiten.
Diesen Abend jedoch war Stiwenhack schlechter Laune. Er wusste, dass Frau Demuth den Trompeter nicht gern in ihrem Hause sah. Sie behauptete, dass er in allen Ecken herumschnüffele und jeden Spinnweben, den er fände, grossspratschig im Lande ausposaune.
»Er ist wie eine Mücke. Immer liegt er einem mit seinem Geschwirr in den Ohren. Tag für Tag soll ich ihm was vom Nachbar erzählen. Er kennt ihn doch selber. Was belästigt er mich damit. Überhaupt die Menschen hier! Essigwasser mit Zucker«, sagte Stiwenhack. »Frau Demuth tut, als hätte sie mich gepachtet. Dabei kam: mir eher zu, bei einem Grafen zu speisen, als bei dem Schlächter in der Küche zu sitzen.«
Der kleine Kantor war aufrichtig getrübt. Er hatte sich grosse Mühe mit dem Menuett gegeben. Es war der leuchtende Gipfel seines Flötenspiels, aber dem Maler hatte es nicht in eine Heiterkeit hineinsingen können.
»Ich werde bald den Staub von meinen Füssen schütteln«, verkündete Stiwenhack. »Ja, ich will mich mit dem Bild beeilen. Morgen ist es fertig – übermorgen.«
Er seufzte und sah den kleinen Kantor gedankenvoll an.
»Ich hatte geglaubt, in diesem Nest einzuwurzeln, ach ja, die jungen Füsse sind verlaufen. Aber die Demuth frisst mir die Seele auf.«
Er sprang auf, schob den Tisch beiseite, um Platz zu haben, und rief:
»Was soll ich hier? Warum hat mich der Nachbar hierher gefahren? Ich wollte nach Juliusbad! Jawohl, Juliusbad! In Juliusbad wohnt meine Freundin. Meine Jugendfreundin. In der Arche Noah haben wir uns kennengelernt. Damals war sie ein tanzender Schmetterling! Jetzt hat sie Millionen!«
Er beruhigte sich etwas.
»Ja, ich wollte doch nach Juliusbad«, sagte er. »Sie besitzt eine Villa gegenüber dem Schloss. Ich habe Bilder von Juliusbad gesehen. Zwei riesige Tannen stehen am Eingang, und auf Felsvorsprüngen hat man Freundschaftstempel und Liebesurnen errichtet. Ja, es ist ein heiterer Ort!«
»Ich kenne Juliusbad«, warf der kleine Kantor ein, »aber ich muss sagen, unser Städtchen liegt angenehmer. Die Wälder sind nicht so finster, und die wilde Hanne ist zwar ein stürmisches Wässerchen, aber sie hat ein blankes Gesicht und ein munteres Geplauder.«
Stiwenhack setzte sich dicht zu ihm:
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, lieber Freund. Ihnen kann ich es sagen. Eine Mission, verstehen Sie? Da ist noch ein Schatz. Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen was vorlüge. Eine Prophezeiung. Wir wissen den Weg. Ja ja, das geht in Ordnung. Keine Hirngespinste. Das dürfen Sie nicht glauben.«
Der kleine Kantor war betroffen. Er sah Stiwenhack bekümmert an. Seine dunkle Rede machte ihn besorgt. Auch fürchtete er, den Maler zu verlieren, sein Auditorium für das Flötenspiel.
»Laufen Sie keinem Irrwisch nach«, lächelte er zaghaft.
Stiwenhack hatte den Hut genommen.
An der Ängstlichkeit des kleinen Kantors richtete er sich auf. Er wurde doppelt laut.
»Irrwisch, Arschwisch«, rief er und stieg die Treppe hinab.
An diesem Abend hatte er noch mehr Ärger. Als er nach Hause kam, stellte ihn der Schlächter Demuth und sagte in groben Worten, dass sich abends ein Mädchen auf der Kutteltreppe herumtriebe, ein Zigeunermädchen. Jawohl, diese dreckige Schikane, dieser Knochen! Sein Geselle hätte sie beobachtet. Immer stünde sie da in der Hundenische und liesse die Tür nicht aus dem Auge. Jawohl, Stiwenhack hätte auch schon mal mit ihr gesprochen. Er solle das nicht in Abrede stellen.
»Das passt mir nicht«, schrie Schlächter Demuth. »Ich will kein Gesindel im Haus haben. Am wenigsten solchen Teufelsbraten!«
Stiwenhack merkte, dass Demuth nicht leicht zu beruhigen wäre. Er schien es überhaupt auf eine Explosion anzulegen. Er wollte den Maler wohl aus dem Haus haben.
Wenn Stiwenhack auch beim Kantor seinen Entschluss, Erwinsrode den Rücken zu kehren, eben erst verkündet hatte, wollte er doch nicht bei Nacht und Nebel ins Ungewisse hinausgejagt werden. Ausserdem wünschte er die Sache hinzuwerfen, wann es ihm beliebte, und sich nicht vom Schlächter den Laufpass geben zu lassen.
»Ihr Geselle soll an seinen Lügen ersticken«, sagte er mit Beherrschung.
Der Schlächter lachte schallend auf:
»Es ist also nicht wahr! Haha, es ist nicht wahr!«
»Das wollen wir gleich haben!« Er packte Stiwenhack an den Ärmel und zog ihn mit. »Das »Weibsstück, jawohl, das »Weibsstück!«
Der Maler äugte nach Hilfe aus, aber Frau Demuth verhielt sich still in der Küche. Bloss der Geselle kam grinsend durch den Hausflur.
Der Schlächter gab Stiwenhack nicht frei. Sie stiegen schnaufend die Kutteltreppe empor.
In Pagels Zimmer brannte Licht. Der Nachbar war schon zu Hause.
Tzigane stand dieses Mal nicht in der Hundenische.
Stiwenhack lachte, aber auf einmal öffnete sich die kleine grüne Türe und eine Frauengestalt huschte ins Freie.
Der Schlächter verstellte ihr breitbeinig den Weg. Die Frau schrie erschrocken auf und wollte in das Haus zurück, aber Demuth packte sie am Arm.
»Du verfluchtes Kammstück!« brüllte er.
»Nachbar!« schrie die Frau im Dunkeln. »Nachbar!«
Demuth gab verdutzt ihren Arm frei.
Pagel hatte die Türe geöffnet und in dem schummrigen Licht des Flurs sahen sie, dass es Aline war.
Aline erkannte jetzt auch den Angreifer. Sie stemmte die Hände in die Seiten und trat auf Demuth zu. Sie funkelte ihn an.
»Was hast du mich anzufassen? Das ist ja noch schöner, einen auf offener Strasse anzufallen!«
Stiwenhack wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Schikane!« lachte er. »Schöne Schikane, Meister Demuth!«
Der Schlächter sah sich hilflos um. Sein Geselle war bereits verschwunden.
»Sei verständig«, bat er Aline. »Das ist ein Irrtum. Der Geselle hat schuld. Ich werd's ihm heimzahlen!«
Er machte, dass er davon kam.
»Himmel, hab ich mich erschrocken«, sagte Aline. »Es ist mir direkt in die Knie gefahren.«
Sie verpustete sich.
»Also morgen, vergiss nicht, Nachbar.«
Sie zögerte noch einen Augenblick und ging dann davon. Sie war zu Pagel wegen Schürzenstoff gekommen. »Ich sah, dass du noch Licht hast, Nachbar. Am Tage habe ich immer wenig Zeit«, sagte sie.
Pagel sass in seiner Bodenstube und rechnete beim Schein der Petroleumlampe die Einnahmen der letzten Tage nach. Er kramte seine Schreiberei beiseite und bot Aline einen Platz an. Sie setzte sich auf den wackligen Holzstuhl am Tisch. Pagel gab ihr eine Decke.
»Damit du weicher sitzt«, sagte er.
Aline war über solche Fürsorge erfreut und hoffte, dass alles von Anfang an in ein gutes Fahrwasser einbiegen möchte. Sie war ärgerlich auf ihren Bruder Jakob, weil er trotz seiner grossen Worte nicht recht vorwärts kam und auf ihre eindeutigen Fragen, wann man wohl das Hochzeitskleid richten könnte, zwar zuversichtliche aber doch ausweichende Antworten gab.
»Ja, der Nachbar«, meinte er. »Der geht seinen Schritt. Er ist kein Füllen mehr, das sich mit einem Stück Zucker locken lässt. Er hat Charakter, wie du es verlangst. Sieh mal, Aline« – und jetzt begann Jakob einfach zu lügen – »ich tue mein möglichstes. Ich habe ihn bis zu einem bestimmten Grad auch schon weichgeklopft. Verstehst du. Ich habe ihm auseinandergesetzt, dass er doch eigentlich in dem Alter wäre, wo man – und so weiter – nicht wahr. Der Mensch braucht schliesslich seine Bequemlichkeit. Guten Endes wäre ein eigener Herd noch immer – na ja, wie man so sagt. Er lässt auch schon mit sich reden, weisst du! Ich hab ihm – natürlich so ganz nebenbei – versetzt, dass du auch daran dächtest. Nicht wahr, wer denkt schliesslich nicht daran. Ich hab ihm von deinem Haus erzählt. Er kennt es ja auch, aber ich habe es ihm erst ins rechte Licht gerückt. Der reiche Winkel, hab ich gesagt, gute Gegend. Nun er weiss es ja ebensogut.« Aline hörte sich das Geschwätz mit an.
»Du hast mir in deinem Brief geschrieben, dass der Nachbar mit Absichten umgeht. Warum musst du ihn dann erst wieder weichklopfen«, fragte sie misstrauisch.
Jakob drückte sich verlegen herum. Er wollte nicht zugeben, dass er an die Suppe, die hier gekocht werden sollte, gleich anfangs reichlich Zimt und Muskat getan hatte, um sie Alinen schmackhaft zu machen.
»Hat er selber gesagt«, antwortete Jakob vorsichtig. »Ich habe die Absicht, hat er gesagt. Ich will mich verändern, man kommt in die Jahre, die ewige Fahrerei bei Wind und Wetter – frag ihn doch selbst. Mach dir ein Gewerbe. Geh mal hin. Absichten, was heisst Absichten? Nun ja, er hat die Absicht. Sag ich doch!«
Aline war ein kuragiertes Weibsbild. Sie ging selber in die Höhle des Löwen.
Nun wird es sich ja herausstellen, was er für Absichten hat.
Sie sass auf dem klapprigen Stuhl und sagte:
»Ja, Nachbar, also Schürzenstoff.«
»Da kann ich dir heute nicht viel vorlegen«, antwortete Pagel, »ich habe nämlich die besten Muster auf dem Schloss gelassen.«
»So, der Graf ist auch dein Kunde?«
»Der Administrator«, erwiderte Pagel, »den Graf bekomme ich nicht zu Gesicht.« »Er hat auch anderes«, lachte Aline, »das Fräulein.«
Nun war sie bei den Liebesgeschichten. Ja, das schöne Fräulein oben auf dem Schloss.
»Sie soll Tänzerin gewesen sein«, erzählte Aline. »Ein Stern, wie man sagt. Sie ist in einem grossen Zirkus aufgetreten.«
»Ja, es ist wirklich keine grosse Auswahl«, sagte Pagel und breitete ein paar Stoffrollen aus.
»Ja, die Tänzerinnen«, entgegnete Aline. »Sie tanzen sich in jedermanns Herz.«
Sie seufzte. Ach, sie war ein rundliches älteres Mädchen, rotwangig und appetitlich. Sie hat ihr Gewicht, ein gutes, volles Gewicht. Sie kann sich nicht mit zwei Pas in ein Herz hineintanzen.
»Das hat auch wenig Bestand«, tröstete sie sich. »Ich sage dir, Nachbar, die Sache mit der Tänzerin da oben auf dem Schloss dauert nicht lange. Zum Herzen rein, zum Herzen raus. Nein, solch Leben war nichts für mich. Ich bin solide von Hause aus. Man will auch gar keinen Flitter, nicht wahr, Nachbar. Das ist nichts für mich. Darin bin ich ganz anders wie mein Bruder.«
Sie sah den Nachbar treuherzig an. Der Bruder – ja, das war eben sozusagen der dunkle Punkt, kein schlechter Mensch, Gott bewahre, eine gutmütige Seele, aber kein Sitzfleisch.
»Ich habe ihm schon oft zugeredet, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen. Er ist natürlich nicht mehr der jüngste, aber wenn er einen Handel anfangen will, werde ich ihm gern behilflich sein. Ich hatte auch schon gedacht, dass vielleicht auf der Fabrik, die ja nun gebaut werden soll, was Passendes für ihn zu finden wäre«, klagte Aline.
»Du siehst, es ist nicht viel, was ich dir heute vorlegen kann«, sagte der Nachbar.
Aline beschäftigte sich mit dem Leinenstoff. Sie suchte ein blaues Muster heraus, das ihr gefiel, besann sich aber und fragte:
»Wann bekommst du die Proben vom Schloss wieder?«
»Ich denke doch morgen«, antwortete Pagel.
»Dann könnte ich die ja auch noch ansehen«, meinte Aline zögernd.
Sie verabredeten, dass der Nachbar auf dem Wege vom Schloss im reichen Winkel mit vorbeikommen sollte.
»Dann könnte ich gehen«, sagte Aline. Sie erhob sich, strich ihre Schürze glatt und gab Pagel die Hand.
»Also morgen«, nickte sie.
»Bequem hast du es hier gerade nicht«, sagte sie dann und sah sich prüfend um.
»Für mich reicht es«, antwortete Pagel. »Nun, wenn man es so gewöhnt ist«, antwortete sie verdriesslich, weil der Nachbar so gar nicht auf ihr Gespräch eingehen wollte. »Aber schliesslich –«, sie verstummte und ging zur Türe.
»Du hast recht«, erwiderte Pagel. »Das Leben könnte schon etwas behaglicher sein.«
Aline blieb stehen, wandte sich rasch um und sah den Nachbar lange und freundlich an.
»Du hättest es verdient«, sagte sie leise.
»Wir haben es alle verdient«, entgegnete Pagel.
Aline bekam strahlende Augen. Sie schien eine Antwort zu überlegen, dann aber sagte sie nur:
»Also morgen.«
Sie war sehr glücklich in diesem Augenblick. Doch in der nächsten Sekunde hatte sie der Schlächter Demuth am Handgelenk gehabt und sie aus ihrem kleinen Jungfernhimmel herausgerissen.
Aline kam wütend nach Haus. Jakob wollte sich in seiner Dachkammer verkriechen, aber sie bekam ihn zu packen.
»Hab ich dir gesagt, dass du zu ihm gehen sollst«, wehrte er sich.
»Frag ihn selbst, hast du gesagt. Mach dir ein Gewerbe. Überhaupt, wenn man sich auf dich hätte verlassen können, wäre ich jetzt nicht blamiert. Das wird ein schönes Gerede geben«, zankte Aline.
Jakob schnellte auf einmal hoch.
»Gerede? Bravo! Gerede! Das ist das, was wir brauchen«, lachte er. Aline verstand ihn nicht gleich.
Er trat zu ihr und tätschelte ihr die Hand.
»Linchen, er hat dich ins Gerede gebracht. Du warst doch bei ihm, he? Na und – Linchen, Linchen, die Mäuler von nebenan sind die besten Kuppler.
Nun wusste Aline, was er meinte, aber sie war sich nicht sicher. »Du meinst, dass er sich nun rascher – –?«
»»Wo das Bräutchen schon auf der Stube war«, trällerte der Trompeter.
Er musste über diese Wendung so lachen, dass er in den Stuhl fiel.
Sein Gelächter steckte Aline an. Sie setzte sich auf den Bettrand und lachte. Sie verzieh dem Schlachter die Grobheit.
Der war recht bekniffen zu seiner Frau in die Küche gekommen.
»Es war nicht Schikane«, sagte er kleinlaut.
Frau Demuth sah ihn an.
»Nicht das Zigeunermädchen.«
Der Meister kratzte sich am Ohr. Es war eine dumme Geschichte.
»Ich hatte sie fest am Handgelenk. Du verfluchtes Kammstück, hab ich gesagt.«
»Na – und was weiter«, Frau Demuth wurde ungeduldig.
»Sie wird uns schöne Scherereien machen. Es war Aline.«
»Wer –?« Frau Demuth drehte sich halb um und zurück.
»Aline.«
Die Schlachtersfrau war starr.
»Sie ist beim Nachbar gewesen«, stockerte der Mann.
»Beim Nachbar –?« Frau Demuth sah auf die Uhr.
»Beim Nachbar.« Sie war sprachlos.
»So was«, sagte sie endlich.
»Ja, sie hat sich Schürzenstoff gekauft«, erklärte Demuth.
Die Meistersfrau lachte.
»So – Schürzenstoff?! Nein, die Menschen!«
Sie war auf einmal ganz lustig.
»Ich habe immer gedacht, er wäre unzugänglich«, sagte sie vergnügt.
Der Meister stand verständnislos da, aber nun lachte er auch.
»Ja, beinah hätte ich ihr eins ins Maul geschlagen.« Er schüttelte nachträglich verwundert den Kopf. »Aber ich wollt es nicht gleich zu derbe machen«, sagte er gutmütig. Dann kam ihm wieder ein Zweifel auf:
»Wenn sie es an die grosse Glocke hängt«, brummte er bedenklich.
Frau Demuth stupste ihn in die Seite:
»Sie wird froh sein, wenn es kein anderer tut.«
Da begriff er, was sie meinte, und nun lachten sie beide.
In der Bodenstube sass Stiwenhack vor Pagel. Er hatte Tränen in den Augen, so belustigte ihn das Erlebnis.
»Sie wird ihm morgen die Augen auskratzen! Pass auf, Nachbar. Wie ich das Frauenzimmer kenne, diese Aline, ich kenn sie bloss flüchtig, aber das genügt. Verlass dich darauf, Nachbar, morgen gibt es hier einen Höllenspektakel. Ei, der schlaue Schlachter!«
»Du solltest mit Schikane vorsichtiger sein«, mahnte Pagel. »Was gibst du dich mit dem Mädchen ab? Lass sie laufen.«
»Sie ist mein Gewissen«, antwortete ernst der Maler und ging in seine Dachkammer hinüber.
Er hatte sich kaum niedergelegt, als es in bestimmten Abständen an das Dachgebälk pochte.
Tzigane war es, die ihn jede Nacht daran erinnerte, dass ein Schatz in den Bergen auf ihn warte.