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Dritter Teil

Die Hütte

Lange Zeit wohnte eine alte Frau in den Dünen, die keinen Namen hatte.

Sie war eines Tages nach Thorde gekommen, einen zerrissenen Sack über dem Arm, darin sie das verwahrte, was sie auf den Landstrassen fand, Hufeisen, verbogene Nägel und mancherlei wertlose Dinge, über deren Besitz sie sich freute und von denen sie wohl hoffte, dass sie ihr noch ein paar Pfennige einbringen möchten.

Die Not, die zeitlebens hinter ihr her sass, hatte ihre Gedanken so verwirrt, dass sie sich nicht mehr an ihr früheres Leben erinnern konnte. Da hauste sie nun in dem engen Bretterverschlag, der einstmals den Fischern zur Aufbewahrung ihrer Gerätschaften gedient hatte, und nährte sich von den Fischen, die mitleidige Hände ihr zuwarfen.

Eines Tages fand sie zwischen angeschwemmtem Tang ein merkwürdiges Gebilde, eine kleine geschnitzte Figur, die einen Mann darstellte mit rundem, freundlichem Gesicht über dem kurzen Hals und mit einem dicken Bauch, auf dem die Hände gefaltet lagen.

Mit diesem Funde, den sie in der tiefen Tasche ihres Rockes verwahrte, um ihn nicht mehr von sich zu lassen, ja, mit diesem Funde ging eine auffällige Veränderung in ihr vor. Während sie bisher die Tage gedankenlos hingelebt hatte, sass sie jetzt oft lange nachdenklich vor ihrem windschiefen Hüttenraum und starrte auf die weite See.

An einem heiteren Abend, als die heimkehrenden Boote schon am Horizont auftauchten und die Fischerfrauen mit den Tragen geduldig am Strande warteten, kam die Frau plötzlich aufgeregt angelaufen, zeigte den Harrenden das geschnitzte Männlein und rief ein über das andere Mal einen Namen. Dabei lachte sie unbändig, schluchzte auf einmal kreischend auf, sank zu Boden und weinte lange.

Es stellte sich dann heraus, dass es der Name ihres Mannes war, der vor langer Zeit auf weiter Fahrt ertrank und von dem kein Mensch wusste, in welchem Meere er begraben lag.

Dieser Mann hatte ein rundes freundliches Gesicht gehabt, und seine Freunde hatten oft ihren Spass mit ihm getrieben, weil er kurzstämmig und wohlbeleibt gewesen war, wie man es nicht oft unter Seeleuten findet.

Von jener Stunde an glaubte die Frau, dass ihr Mann wiederkehren würde und dass er das sonderbare Schnitzwerk, das seine Züge zu tragen schien, als Gruss vorausgesandt hätte.

Man sah die Frau Tag für Tag am Strande umherirren, oft am frühesten Morgen, oft spät noch in der Nacht.

An einem stillen Nachmittage soll sie einem heimkehrenden Segel entgegengegangen sein. Singend, so hiess es, wäre sie in die See geschritten, weit in die Wellen hinein, bis eine Woge sie fortriss.

Die Fischer wollten ihren letzten Gesang noch gehört haben. Aber man weiss nichts Genaues darüber. Das alles ist lange her.

Es war noch zu jener Zeit, als die grossen Heringsschwärme bis Thorde kamen, als man noch Bernstein fand, gross wie ein Brot.

Ja, es war noch vor jener Zeit, als die dänische Wiege an den Strand geworfen wurde.

Solche Geschichten wurden viele in Thorde erzählt. öfter kam ein Lehrer, Herr Mathiessen war sein Name, der sammelte diese Geschichten. Er kam aus der Industriestadt, die an dem Flusse lag, der hinter Thorde ins Meer ging.

Er setzte sich dann mit dem Fischer Holms zusammen. Sie rauchten ihre Pfeifen und entsannen sich vergangener Dinge.

Manchmal, nicht immer, fragte auch Holms:

»Wie geht es zu Hause?«

»Danke«, antwortete Herr Mathiessen, »es geht gut. Geesche ist mit den Kindern aufs Land gefahren.«

Dann kramte Holms in der Schublade, holte ein paar Muscheln hervor oder ein kleines Holzschiffchen. Das gab er für die Kinder mit.

Manchmal sagte er auch:

»Ja, die Geesche. Sie hat sich gut eingelebt in der Stadt, sie hat uns wohl vergessen. Sie kommt gar nicht mehr nach Thorde.«

Dann lächelte Herr Mathiessen etwas verlegen. Er wollte nicht gerne zugeben, dass sich das Verhältnis zwischen Geesche und ihrer Mutter Bieke von Jahr zu Jahr verschlechtert hatte.

Er selbst sah auch nur auf einen Augenblick zu der Alten in die Stube hinein.

Guten Tag. Guten Weg. Das war alles.

Herr Mathiessen hatte die Geschichte von jener Frau gehört, die keinen Namen gehabt hatte und die ihrem verschollenen Mann durch Wellen und Wogen entgegengegangen war.

Als er auf der Bank am Dünenwege sass und diese Geschichte aufschrieb, sah er eine Frau dicht am Strande stehen. Sie hatte die Hand über die Augen gelegt und starrte auf das Meer. So stand sie lange Zeit. Dann wandte sie sich um und ging den Dünenweg zurück in das Dorf.

Es war Melitta.

Er hatte sie lange nicht gesehen, und da ihre Erscheinung in diesem Augenblicke so merkwürdig zu jener Geschichte zu passen schien, beschloss er, sie aufzusuchen.

Er ging in das Logierhaus. Auf den Terrassen sassen viele Gäste unter den bunten Schirmen. Die grosse Glasveranda war überfüllt.

Ach, es war längst nicht mehr das Logierhaus. Das Strandschloss war es geworden mit seinen hundert Fenstern, so wie es sich Ohlik, der Holzkapitän, vor langen Jahren einmal erträumt hatte.

In einer Nische, von der aus alles zu übersehen war, sass Herr Daudat in seinem Rollstuhl. Die Jahre in dem Tanzzelt, wo er als Wirt immer auf dem Damm sein musste und gezwungen war, die Nächte mit Gästen zu durchzechen, hatten ihn krumm und gichtig gemacht.

Er musterte über den Kneifer hinweg Herrn Mathiessen.

»Immer noch springlebendig«, kräkelte er. »Meine Frau ist in Karlsbad. Kostet ein Heidengeld.«

Herr Mathiessen fragte nach Melitta.

»Ja, die gute Melitta«, sagte Herr Daudat, »sie wohnt jetzt im alten Haus.«

Herr Mathiessen wunderte sich.

»Seit wann?« fragte er.

»Seit ein paar Monaten«, sagte Herr Daudat.

»Ja, ich war lange nicht in Thorde«, antwortete Herr Mathiessen.

»Mein Schwiegersohn hat Biekes Fremdenpension gekauft. Wir brauchten eine Dependance. Wenn die Saison vorüber ist, soll noch ein Stockwerk aufgesetzt werden. – Hat Ihnen Bieke das denn nicht geschrieben?« Herr Daudat konnte das nicht begreifen.

Herr Mathiessen schien zu überlegen. Dann sagte er befangen:

»Richtig, ich erinnere mich. Denken Sie, ich hatte das ganz vergessen. Natürlich hat meine Schwiegermutter es uns geschrieben.«

Herrn Daudats Tochter trat an den Tisch. Sie sah blühend aus und lachte.

»Die Ehe bekommt ihr gut«, sagte ihr Vater. »Nun, Otto kann zufrieden sein. Sie passt wie keine zweite hier ins Geschäft. Das hat sie von ihrer Mutter.«

Herr Mathiessen erkundigte sich nach Herrn Moeb.

»Er ist mit dem Wagen in die Stadt«, sagte die junge Frau. »Wir haben uns einen Wagen gekauft.«

»Ich war zuerst dagegen«, gestand Herr Daudat, »aber die jungen Leute haben recht. Immer mit Volldampf. Das ist die Devise unserer Zeit. Wer sich klein macht, sieht man nicht. Ein wahres Wort, ich hab' es mir gemerkt.«

Herr Mathiessen war nicht so recht bei der Sache. Bieke hatte ihnen nichts von dem Verkauf des alten Pagelschen Hauses geschrieben. Sie war von Jahr zu Jahr ränkesüchtiger geworden. Als Boom Garde ihr damals das Haus vermachte, hatte sie noch zu Geesche gesagt:

»Verdient hast du es zwar nicht, aber du sollst es nach meinem Tod einmal haben.«

Nun war es den Leuten vom Strandschloss geglückt, ihr das Haus abzuschwatzen.

Herr Mathiessen ging ärgerlich fort.

Ich muss mich ihr doch einmal aussprechen, dachte er, so geht es nicht weiter.

Als er aber vor das Haus kam, hörte er Biekes Stimme bis auf die Strasse.

»Dein Kapitän«, schrie sie. »Ein schöner Kapitän! Hast wohl vergessen, dass er Koch war! Kapitän, pah, Kapitän! Wer weiss, wo er steckt. Er wird's sich irgendwo gut sein lassen in der Welt.«

Herr Mathiessen hörte eine zweite Stimme. Es war wohl Melitta. Sie weinte.

»Ja, weine nur«, schrie Bieke, »er ist versoffen! Er kommt nicht wieder! Ihr habt ihn ja aus dem Haus getrieben.«

Herr Mathiessen riss ärgerlich die Türe auf. Er stand zwischen den beiden Frauen.

»Man hört jedes Wort auf der Strasse«, sagte er.

Bieke war über sein Dazwischenkommen verdutzt. Melitta aber klammerte sich an seinen Arm. Sie hatte Angst vor Bieke.

Tür an Tür wohnten sie jetzt, und es verging kein Tag, ohne dass Bieke nicht über sie herfiel.

Melitta war nicht gerne in das alte Haus gezogen, aber sie war abhängig geworden von Ottos Entschlüssen. Sie konnte sich nicht über ihn beklagen. Er behandelte sie zuvorkommend und legte Wert darauf, es die Leute sehen zu lassen. Er wollte zeigen, dass er keine Schuld an dem unglücklichen Ausgang seiner Ehe mit Dorothee gehabt hatte. Man sah ja, dass Melitta zu ihm hielt, und wie würde eine Mutter zu dem Manne stehen, der ihrer Tochter Unrecht zufügte.

»Du musst sehen, wie du die Sommermonate mit Bieke auskommst«, hatte Otto zu ihr gesagt. »Zum Winter nehme ich dich wieder in das Strandschloss, aber jetzt während der Saison brauche ich jedes Zimmer.«

Melitta ging Bieke, so gut es ging, aus dem Wege. Sie war überhaupt still geworden.

Seit Dorothee vor Jahren fortgegangen war, hielt sie sich von allem zurück. Oft schien es, als wäre es ihr gleichgültig, was das Leben noch mit ihr vorhätte. Oft wieder war sie voller Hoffnung, als müsste ein unerwartetes Ereignis alles wieder zum Guten kehren. Dann aber kam Bieke und zerschlug ihr solche Hoffnungen mit polternden Worten. Dann sass Melitta in der Ecke und weinte. Wenn sie sich gefasst hatte, nahm sie ihr Tuch und lief an den Strand. Sie sah den heimkehrenden Booten entgegen. Sie stand und wartete.

Sie ging auch oft auf das Postbüro und fragte, ob ein Brief für sie angekommen wäre. Aber sie bekam keine Briefe.

Nun war Bieke wieder einmal über sie hergefallen, doch ein Mann war gekommen und hatte sie zur Ruhe gewiesen.

Bieke stand fassungslos da, dann lief sie hinaus und knallte die Türe zu.

Melitta hielt noch immer Herrn Mathiessen fest.

»Keiner konnte ihm das Wasser reichen«, sagte sie.

»Ich habe ihn gekannt«, antwortete Herr Mathiessen.

Melitta sah ihn prüfend an.

»Ach, jetzt erkenne ich Sie. Ja, Sie sind der Lehrer aus der Stadt.«

Sie kicherte:

»Es ist ihr zu Kopf gestiegen, dass ihre Tochter einen Lehrer geheiratet hat.«

Herr Mathiessen machte sich freundlich los. Er sagte:

»Ich habe Sie vorhin schon am Strande gesehen.«

»Ja, ich war am Strand«, antwortete Melitta. »Mein Mann ist unterwegs.«

Herr Mathiessen erschrak. Er betrachtete sie mitleidig. Er wollte ein tröstendes Wort sagen, besann sich aber und fragte:

»So, er ist also unterwegs?«

Melitta zog ihn in ihre Stube. Er musste Platz nehmen. Sie horchte einen Augenblick an der Türe. Dann sagte sie leise:

»Ja, er kommt zurück. Bieke sagt zwar, er wäre ertrunken. Aber das ist nicht wahr. Ich weiss, er kommt wieder.«

Sie holte aus einer Schublade dünne Holzstäbchen, mischte sie und warf sie auf den Tisch.

»Sehen Sie«, flüsterte sie. »Dieses Zeichen. Zwei lang, eins quer, das Tor. Das bedeutet Heimkehr. Jedesmal liegen die Stäbchen so.«

Sie versteckte die Hölzer wieder im Kasten.

»Bieke weiss nichts davon. Ich lache über sie. Sie ist dumm. Ja, Bieke ist dumm. Sie ist eine ungebildete Person. Sie ist stolz, weil Geesche einen Lehrer hat. Ach, ich lache über sie. Aber manchmal muss ich weinen. Ja, sie kann einen bis zu Tränen bringen.

Melitta sass da und seufzte. Dann betrachtete sie wieder den Gast.

»Ich kenne Sie schon lange«, sagte sie. »Ja, ich muss Sie schon lange kennen.

»Das stimmt«, antwortete Herr Mathiessen. Er war froh, dass das Gespräch eine andere Wendung nahm. Er lachte und sagte:

»Als wir noch jung und schön waren!«

»Ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte Melitta.

»Mathiessen«, ergänzte der Lehrer.

»Mathiessen? Ach ja, Herr Mathiessen.«

»Geesche ist meine Frau«, sagte Herr Mathiessen vorsichtig.

»Ja, das weiss ich«, erwiderte Melitta. »Das weiss ich. Ich hatte nur Ihren Namen vergessen. Wie geht es denn Geesche?«

»Sie ist auf dem Lande«, sagte Herr Mathiessen.

»Auf dem Lande? Nicht mehr in der Stadt?« fragte Melitta.

»Doch. Aber es sind Ferien. Sie ist mit den Kindern zur Erholung auf dem Lande.« Melitta nickte verstehend.

»Ich fahre nach«, sagte Herr Mathiessen. »Ich wollte mich nur einmal wieder in Thorde umsehen. Früher kam ich in meinen Ferien immer nach Thorde. Das ist schon ein Weilchen her.«

Er erzählte von seinen Ferienreisen. Melitta schien nicht zuzuhören.

Sie sagte:

»Meine Tochter hat noch nicht geschrieben. Sie ist in Juliusbad. Das ist ein Stahlbad in den Bergen. Meine Mutter hat dort eine Villa. Ja, da ist meine Tochter hingefahren.«

»Oh, ich kenne Juliusbad«, erwiderte Herr Mathiessen.

»Ach ja, das Land in den Bergen«, sagte Melitta. »Es soll ein schönes Land sein. Ich habe viel davon gehört. Ich wollte immer einmal hinreisen, aber ich bin noch nie dazu gekommen. Es war immer etwas anderes. Nun kann ich nicht fort. Mein Mann ist unterwegs. Ja, vielleicht später.«

Sie stand auf und holte von der Kommode einen Kasten aus rotem Samt.

»Sehen Sie her«, sagte sie und öffnete den Kasten. Sie entnahm ihm ein Päckchen, das in Seidenpapier geschlagen war. Als sie die Hülle vorsichtig löste, kam eine hölzerne Hexe zum Vorschein, die auf einem Besen ritt.

»Meine Mutter hat sie einmal aus Juliusbad mitgebracht«, sagte sie. »Es ist ein Kunstwerk. Ja, die Menschen dort verstehen sich auf solche Handfertigkeiten.«

Sie hielt die Hexe in der Hand und drehte sie nach allen Seiten.

»Eine hübsche junge Hexe«, sagte sie.

»Am Wolpertsabend reiten sie auf den Prockelberg«, erzählte Herr Mathiessen. »Sie reiten auf Besenstielen, Mistforken und Ofengabeln. Sie reiten auch auf Bratspiessen und Spinnrocken, auf schwarzen Böcken und auf Katzen. Wenn sie zum Schornstein hinausfliegen, rufen sie: Oben hinaus und nirgend an! Das ist ihr alter Hexenruf. Ja, der Volksmund weiss viele Geschichten von ihnen. Man hat die Hexen auf die Folter gelegt und verbrannt. Man hat sie auch in den Fluss geworfen. Wenn sie untersanken, waren sie unschuldig gewesen. Aber wenn sie oben schwammen, hatten sie einen Bund mit dem Teufel und wurden totgeschlagen.«

»Man hatte mit Hexen nicht gern etwas zu tun«, sagte Herr Mathiessen.

»Sie hat ein junges schönes Gesicht«, antwortete Melitta und streichelte über den hölzernen Leib.

»Aber sie ist eine Hexe«, beharrte Herr Mathiessen. »Sie verwirrt das Gemüt. Sie sollten den Kasten nicht so oft öffnen.«

»Ja«, sagte Melitta, »Sie haben recht.«

Sie tat die Hexe zurück in den roten Samt.

Herr Mathiessen erhob sich.

»Lassen Sie es sich gutgehen«, sagte er. »Grüssen Sie Bieke. Sie dürfen ihr nicht böse sein. Wenn die Ferien vorüber sind, komme ich sonntags einmal wieder. Dann wollen wir drei uns eine freundliche Stunde machen. Es muss alles gutwerden, wissen Sie. Ich möchte auch, dass Geesche dann mitkommt.«

Melitta brachte ihn bis zur Türe. Als sie in dem Flur standen, sah sie sich um, wies auf die Wände und sagte:

»Ja, nun wohne ich wieder hier.«

Eine Stubentür stand auf, und Herr Mathiessen sah, dass ein Mädchen den Fussboden scheuerte. Es wurden wohl Gäste erwartet. Da würde also Bieke sich vorläufig sowieso Zügel anlegen müssen.

Herr Mathiessen gab Melitta die Hand.

»Auf Wiedersehen«, sagte er und trat auf die Strasse. Er sah sich nach dem Hause noch einmal um. Es war das alte Pagelsche Haus. Aus der Zeit, in der es einer Frau Sabine Gloddes gehört hatte, stammte noch das Schild über der Türe mit der Aufschrift: Villa Daheim. Familienpension. Das letztere hatte zwar der spätere Eigentümer Boom Garde überpinselt, weil es ihm zu dem klangvollen Namen »Villa Daheim« nicht zu passen schien und weil er wohl im Laufe der Zeit herausgebracht hatte, dass ihm Einzelgäste mehr Geld ins Haus trugen als Familien. Aber die weisse Farbe, die er darüberstrich, war von Wind und Wetter wieder verwaschen worden und man konnte das missachtete Wort unschwer entziffern.

Nun gehörte das Haus als bescheidenes Anhängsel den reichen Leuten vom Strandschloss.

Herr Mathiessen sah sich gedankenvoll nach dem Hause um, aber dann erblickte er Bieke, die langsam die Strasse entlangkam. Da wandte er sich schnell ab und ging rascher seines Weges.

Als die Ferien vorüber waren und er eines Sonntags nach Thorde kam, wie er es Melitta versprochen hatte, war sie abgereist.

Herr Mathiessen erfuhr es bereits im Strandschloss.

»Sie ist nach Juliusbad«, erzählte Herr Daudat.

Herr Mathiessen freute sich für Melitta.

»Das war immer schon ihr Herzenswunsch«, sagte er.

»Ja, es war ein Brief gekommen. Ihre Mutter läge im Sterben.«

»Ein Brief von Dorothee?«

Herr Daudat schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, ein anderer Name«, sagte er kurzhin. Er war ärgerlich, dass Herr Mathiessen den Namen Dorothees im Beisein seiner Tochter ausgesprochen hatte.

Aber die junge Frau Moeb rümpfte die Nase. Sie sagte:

»Sie hätte wohl selber an ihre Mutter schreiben können!«

Herr Daudat war seiner Tochter gegenüber immer hilflos. Er winkte seine Frau heran, die ein paar Tische weiter mit Gästen sprach. Da kam nun Frau Daudat, die frühere Mamsell. Sie hatte die Finger mit Ringen besteckt und trug eine Kette um den Hals.

Herr Mathiessen erkundigte sich nach ihrer Kur. Herr Daudat atmete auf.

Frau Daudat berichtete über Karlsbad.

»Geld«, sagte sie, »Geld wie Heu. Ich habe schon zu Daudat gesagt: wir können uns ja Gott sei Dank auch manches leisten. Unsere Kinder haben sich einen erstklassigen Wagen gekauft, aber die Leute in Karlsbad erst! Sie müssten einmal hin, Herr Mathiessen.«

Die junge Frau Moeb brachte das Gespräch wieder auf Melitta. Sie unterbrach ihre Mutter und fragte sie, wie die Frau hiesse, die den Brief geschrieben hätte.

Herr Daudat sah seufzend fort. Seine Frau lachte:

»Ein drolliger Name, Aline Potinecke oder Puttinecke, so ähnlich war es. Putthinnerchen?« – Sie lachte laut auf – »Ja, da wird Melitta nun tüchtig erben.«

Die junge Frau Moeb gab nicht nach. Obgleich ihr Dorothee nie etwas zu Leide getan hatte, ergriff sie jede Gelegenheit, um ihr etwas anzuhängen. Sie wollte sich wohl rechtfertigen, dass sie ihr den Mann abspenstig gemacht hatte.

»Dass sie eine Fremde den Brief hat schreiben lassen?« sagte sie achselzuckend.

»Ja, die beiden Frauen«, klagte Frau Daudat. »Was hat unser guter Otto früher darunter leiden müssen.«

Herr Daudat knurrte dazwischen.

»Melitta wollte zuerst gar nicht reisen. Wir haben sie kaum in die Bahn bekommen. Sie glaubt ja immer, dass ihr Mann – – –«

Herr Daudat strich sich über die Stirne.

»Dann allerdings, als der Zug abfuhr, war sie auf einmal quickfidel, hat Otto erzählt. Sie lachte und winkte. Nun ja, Juliusbad war immer ihr Traum.«

Herr Daudat nahm seinen Kneifer ab und putzte ihn am Tischtuch. Seine Augen sahen ganz leer aus.

»Tja, nun werden ja wohl die Millionen endlich kommen!«

Er sah mit seinen leeren Augen zum Fenster. Dann setzte er den Kneifer wieder auf.

Die junge Frau Moeb trällerte vor sich hin.

»Tralala, die Millionen ...«

Dann kamen sie von Melitta ab, weil Herr Moeb mit dem neuen Wagen vorfuhr. Er hatte einen Ledermantel an und trug die Kappe in der Hand, als er an den Tisch trat.

Er war ein eleganter Herr. Er küsste der jungen Frau die Hand.

»Da wären wir«, sagte er wohlgefällig.

Er begrüsste Herrn Mathiessen.

»Ich war beim Konsul. Er feiert heute seinen achtzigsten. In alter Frische. Ich habe ihm gratuliert. Er ist unser ältester Stammgast.«

»Ja, wir haben dem Konsul manches zu danken«, sagte Herr Daudat. Er versank in Nachdenken.

Herr Moeb stiess Herrn Mathiessen an und lächelte:

»Der Konsul ist seine Schwäche. Er ist nämlich stolz, dass ein Konsul bei uns seinen Grog trinkt.«

Herr Daudat hatte es nicht gehört.

»Eine lange Zeit«, sagte er leise. »Da ist schon allerhand losgewesen.«

Frau Daudat fuhr ihm mit ihren Ringfingern über das Gesicht.

»Er macht sich immer so viel Gedanken, der Gute.«

Herr Mathiessen ging schweren Herzens zu Bieke. Vor der Türe überlegte er noch, ob er den Besuch nicht lieber aufstecken sollte. Aber Bieke hatte ihn vom Fenster aus gesehen und öffnete schon.

Sie war sehr kleinlaut. Sie beschwerte sich, dass jetzt eine Familie mit drei Kindern ihre Sommerwohnung im Hause hätte und dass die Kinder den ganzen Tag lärmten.

»Ja, Melitta ist fort«, sagte sie. »Es ist gut, dass sie fort ist.«

Es war so, wie Herr Daudat schon berichtet hatte. Ein Brief war gekommen, dass Emita krank wäre und dass der Arzt keine Hoffnung mehr machen könnte.

»Da ist sie denn gefahren. Sie rechnet wohl mit einer Erbschaft. Weshalb sollte sie sonst hinfahren? Die haben sich doch ihr Leben lang kaum gesehen. Sie waren sich noch fremder als Müller und Schulze.«

Dann holte Bieke Kaffee aus der Küche.

»Dass du mich mal besuchst«, sagte sie.

»Ja, Geesche will auch noch kommen, mit dem Nachmittagsdampfer. Sie hat noch mit den Kindern zu tun.«

»Geesche kommt auch?« fragte Bieke und begann zu weinen.

»Was ist los?« erkundigte sich Herr Mathiessen.

»Nichts, gar nichts«, antwortete Bieke. »Man ist bloss immer so allein.«

Herr Mathiessen war bestürzt. Er entschuldigte sich:

»An uns lag es weiss Gott nicht.«

»Nein, nein«, sagte Bieke.

Sie trocknete die Tränen und schenkte den Kaffee ein.

»Du kannst bei mir essen«, schluchzte sie von neuem. »Aber es gibt bloss gekochten Fisch. Wenn ich es vorher gewusst hätte, würde ich ein Stück Fleisch geholt haben.«

Herr Mathiessen streichelte ihre Hand.

»Ja, nun ist Melitta fort«, sagte Bieke. »Wer weiss, ob sie wiederkommt. Was soll sie schliesslich hier.«

»Ihre Tochter ist ja auch dort«, erwiderte Herr Mathiessen. – Bieke schüttelte den Kopf.

»Emita wollte nichts von ihr wissen, und sie nicht viel von Dorothee. Das alles waren immer bloss Worte. Dorothee war der Mutter nicht fein genug. Das war es. Als Kind, da hat sie ihr alles angehängt, das war Seife und Schleifen. Wie aus dem Ei gepellt. Dole war auch ein hübsches Ding. Das muss man sagen. Aber später? Sie ist ein zu ernster Charakter geworden. Sie tanzte nicht einmal. Man wunderte sich immer, wie die beiden zusammengekommen sind, Mutter und Tochter. Na – und dann Moeb, der Schniegellachs. Das musste ja schief gehen. Ich uzte ihn immer. Na, Otto, noch nicht Chef? sagte ich.

Bieke wollte sich ausschütten vor Lachen.

Herr Mathiessen dachte nach.

»Ich habe sie zu wenig gekannt«, sagte er. »Melitta – ja – früher, als sie das Logierhaus noch hatten.«

»Da war's der Pfau, wie er leibt und lebt«, schimpfte Bieke. »Was habe ich mich über das Frauenzimmer ärgern müssen. Später, als Pagel weg war, hat sie mir manchmal leid getan. Aber man soll kein Mitleid haben. Weisst du, was sie gemacht hat, als sie mir jetzt adieu sagte? Die Zunge hat sie mir 'rausgestreckt! Jawohl, da in der Türe. So ist sie weggefahren.«

Bieke war wieder entrüstet.

»Ich konnte sie nicht einmal bedienen«, sagte sie, »so verbiestert war ich.«

Am Nachmittage kam Geesche. Zaghaft klopfte sie an. Bieke musterte sie von Kopf zu Fuss. Geesche trug ein neues Kleid, das der Mutter gefiel. Sie nickte Herrn Mathiessen freundlich zu.

»Schmuck sieht sie aus«, sagte sie.

Dann sassen sie um den Tisch, aber sie kamen nicht recht ins Gespräch. Endlich sagte Herr Mathiessen.

»Ja, wir wollten einmal mit dir reden. Es hat doch keinen Sinn, dieses Gegeneinander.«

»Nein«, sagte Bieke. »Das hat keinen Sinn. Aber ich habe es nicht im Willen gehabt. Meine Tochter ist zu fein geworden.«

Geesche war das Weinen nahe. Sie hatte sich in all den Jahren nicht geändert.

»Die Kinder wollen in Seide schlafen«, sagte Bieke.

Nun weinte Geesche wirklich.

Da streichelte Bieke sie und sagte begütigend:

»Lass nur, Kindchen, ich wollte es auch einmal.«

Herr Mathiessen sah sie dankbar an.

»Ich wollte auch mal was Besseres«, gestand Bieke. »Ich habe es nicht weit gebracht. Ich bin wieder retour gekommen.«

Herr Mathiessen lächelte:

»Nun, du kannst dich nicht beklagen.«

Bieke horchte auf. Sie hatte wegen des Hausverkaufes ein schlechtes Gewissen. Nun deutete sie das Wort gleich nach dieser Richtung.

»Es ist nicht so schlimm«, sagte sie. »Es stand Geld auf dem Haus. Ja, Boom Garde hatte es einmal von Grund auf renovieren lassen müssen. Es war alles feucht gewesen. Da hatte er sich von Daudat Geld geben lassen. Er hätte es gar nicht nötig gehabt. Die alte Gloddes hat ihm ein paar Tausender hinterlassen, und was sollte solch alter Kerl damit anfangen? Nun ist das Geld wieder an Fremde gefallen, an eine Kusine von der Gloddes. Er hätte es lieber für das Haus verwerten sollen. Ja, nun stand also eine Hypothek darauf. Nein, es war gar nicht so viel, was Daudat mir noch ausgezahlt hat. Aber es hatte seine Ordnung.«

Wirklich, es war alles ehrlich zugegangen. Herr Daudat achtete darauf, dass jedes Geschäft seine korrekte Form erhielt. Aber es war wohl doch so, dass ihnen das alte Pagelsche Haus für ein Butterbrot zugefallen war.

»Hätte ich mich bloss vorher bei dir befragt«, sagte Bieke zu Herrn Mathiessen. »Aber wusste ich denn, wie ich dran war?«

Herr Mathiessen tröstete sie.

»Das lässt sich nun nicht mehr ändern. Du hast ja dein Auskommen und ein Dach überm Kopf. Wir sind ja nicht deswegen gekommen.«

Bieke verstand ihn nicht. Sie hatte bis jetzt geglaubt, dass nun die grosse Abrechnung jeden Augenblick auf sie einstürzen müsste. Auch das kleine Haus an der Leuchtturmmauer war längst dahin.

»Wir wollen alles vergessen«, sagte Herr Mathiessen.

»Ach ja, liebe Mutter«, seufzte Geesche.

Nun war das Weinen wieder an Bieke.

»Ihr müsst mich öfter besuchen. Ich bin so allein«, klagte sie.

Sie brachte die beiden zum letzten Dampfer. Sie sprach wieder von Melitta.

»Manchmal denke ich, man sieht sich nicht wieder. Ja, so geht einer nach dem andern.«

Sie weinte leise vor sich hin.

»Nun ist sie schon in Juliusbad«, sagte sie.

Sie wandte sich ab.

Dann heulte der Dampfer, dann rasselte eine Kette und dann begann die Maschine zu stampfen.

Bieke winkte noch lange.

Es war ein heller warmer Abend, und die Frauen von Thorde standen neugierig an der Anlegestelle. Auch Frau Daudat hatte ihren Mann im Rollstuhl herangeschoben. Das war seine tägliche Spazierfahrt, vom Strandschloss bis zum Leuchtturm, abends, wenn der Dampfer abfuhr.

Sie sahen Bieke und riefen sie heran.

»Ich hatte Besuch«, sagte Bieke, »Geesche war da und der Lehrer.«

»Du lebst jetzt wie im Paradies«, antwortete Herr Daudat. »Melitta ist fort. Da könnt ihr euch nicht mehr zanken.«

Bieke senkte den Kopf. Sie stand da wie ein gescholtenes Kind. Sie hatte sonst immer ein Wort zur Hand, aber dieses Mal ging sie ohne eine Erwiderung davon.

Ja, nun war Melitta schon in Juliusbad.

Es hatte Mühe gekostet, sie zu der Reise zu bewegen.

»Du hast doch immer einmal hingewollt. Dein ganzes Leben lang«, hatte Herr Daudat vorwurfsvoll gesagt.

Aber Melitta wusste nur eine Antwort:

»Der Kapitän«, sagte sie.

Damit meinte sie wohl Pagel. Manchmal musste man glauben, dass sie seinen Namen vergessen hätte. Sie sprach nur noch von dem Kapitän.

Schliesslich war Herr Daudat zornig geworden.

»Du wirst deine Erbschaft noch schiessen lassen«, hatte er krakeelt. »Dieses Geld aus Juliusbad. Man wird dich noch darum prellen. Wer ist denn die Frau, die den Brief geschrieben hat? Warum schreibt deine Tochter nicht? Wo ist sie überhaupt? Weisst du denn, ob nicht wildfremde Menschen jetzt da herumsitzen und auf Emitas Geld spekulieren?«

Frau Daudat war bei diesem Gespräch zugegen gewesen. Sie hatte Melittas Hand genommen.

»Wir beide sind doch wie Schwestern, trotz allem, was gewesen«, hatte sie geseufzt. »Du kannst doch wirklich nichts dafür, dass Dorothee den armen Otto hat sitzen lassen. Ich weiss doch, welche Mühe du dir mit dem Mädchen gegeben hast. Aber sie hat immer ihren Kopf für sich gehabt. Ach, sie hätte auf dich hören sollen. Nun schreibt sie dir nicht einmal.«

Dann hatte Herr Daudat gesagt:

»Hier bist du zu Hause, Melitta, ja, hier ist deine Welt. Da hast auch du dein Teil dran.«

Er hatte auf das Logierhaus gezeigt. Er war gerührt durch seine Worte. Ja, er war in gehobener Stimmung.

»Da gibt es kein Kritteln«, sagte er. – »Sei vernünftig, Melitta, fahr nach Juliusbad. Du kommst ja wieder. Und wenn der Kapitän – – –«

Herr Daudat hatte verlegen gehüstelt. Er wusste nicht recht, wie er auf diese Schrulle, wie er es nannte, eingehen sollte.

Seine Frau war ihm sofort beigesprungen.

»Natürlich, wenn der Kapitän –. Wir kennen ihn doch auch. Du kannst auf uns bauen, liebe Melitta. Du kommst ja auch wieder. Aber, ich muss sagen, sie hat dich in ihrer letzten Stunde rufen lassen. – Es ist doch nun mal deine Mutter. Du musst fahren!«

Melitta war an den Strand gelaufen und hatte lange über das Wasser gestarrt. Doch es war kein Segel gekommen, kein Segel. Aber ein Mensch hatte sie plötzlich untergefasst und nach Hause geleitet. Das war Otto Moeb gewesen, dem nun das Strandschloss gehörte.

Er nannte sie noch immer Mutter, wie er es von seiner Ehe mit Dorothee gewöhnt war.

Nun führte er sie behutsam den Strandweg entlang.

Draussen auf dem Meere oder, wie die Fischer sagten: auf dem Berge, musste ein Sturm sein, denn die See kam in langen Wellen heran, obgleich die Luft stille war. Die Wogen klatschten laut auf den Sand, und wenn sie breit zurückströmten, liessen sie tote Fische liegen, deren Mäuler weit aufgerissen und deren glasige Augen gross und voller Entsetzen waren.

Immer hatte Melitta sich vor diesen vielen toten Fischen gefürchtet. Was die Fischer nicht brauchen konnten, warfen sie achtlos beiseite, Knurrhähne hauptsächlich und im Sommer die Dorsche.

Otto kannte Melittas Furcht. Er ging den toten Fischen aus dem Wege. Er führte sie die Dünen empor.

»Sie haben mich einmal damit geworfen«, sagte Melitta.

Das hatte sie all die Jahre nicht vergessen, den Aufruhr der Fischer damals vor dem Logierhaus. Aber sie wusste nicht mehr, wer sie damals getroffen hatte.

»Es gibt rohe Menschen«, sagte Otto zustimmend.

Ja, hier die toten Fische, doch im Land in den Bergen soll es Rehe geben, zierliche Tiere, ja, Rehe und bunte Singvögel.

Über sie hin vom Strand her strichen ein paar Krähen.

»Wann wirst du reisen?« fragte Otto.

Melitta zögerte. Sie antwortete nicht sofort. Otto musste seine Frage wiederholen.

»Wir sehen es gar nicht gerne, dass du allein fährst«, sagte er. »Soll Klärchens Mutter nicht lieber mitfahren?«

Klärchen war seine junge Frau, und sie hatten den Abend zuvor erwogen, ob man Melitta nicht einen Begleiter mitgeben sollte.

»Vielleicht ist doch an der Erbschaft was dran«, hatte Herr Daudat gesagt. Nun fragte Otto mit aller Vorsicht.

Melitta schüttelte den Kopf.

»Ich wollte es nur für alle Fälle angeboten haben«, antwortete Otto rasch.

Er war ärgerlich, dass Melitta noch immer unentschlossen war. Er sagte:

»Es täte dir auch gut, einmal eine Abwechslung zu haben. Du siehst was anderes. – Denk mal, Juliusbad. Prima Quellen.«

Er erzählte alles, was er über die Berge wusste. Es musste eine Sache sein, solch Land einmal zu sehen. Solche Berge.

Von der sterbenden Emita erwähnte er nichts. Er tat so, als sollte es für Melitta eine grosse Sommerreise werden.

»Und dann kommst du wieder und berichtest uns alles. Wir sind schon neugierig. Ja, und mir musst du ein paar Manschettenknöpfe mitbringen aus Katzenaugen, so heissen doch wohl die Steine.«

Er lachte und streichelte Melitta.

Er sagte:

»Für Klärchen soll es eine Hexe sein. Genau so wie deine. Eine junge Hexe auf einem Besen.«

Er machte Spass. Er wollte ihr einen Wunschzettel mitgeben.

»Wenn ich Zeit hätte, würde ich dich im Wagen hinfahren. Teufel, es würde mir auch Vergnügen machen, solche Reise. Aber in der Saison geht es nicht. Man muss auf der Stange sein.«

Er brachte Melitta in ihre Stube.

Bieke stand auf dem Flur und beachtete sie nicht. Die beiden Frauen hatten wohl wieder einen Zank miteinander gehabt.

»Du siehst dann auch Bieke mal eine Zeitlang nicht«, hatte Otto gesagt.

»Sie ist dumm und grossmaulig«, antwortete Melitta.

»Du hast recht. Aber man muss die Menschen nehmen, wie sie sind«, erwiderte Otto. »Darum ganz gut, mal aus den Augen.«

Es gelang ihm endlich, Melitta zu der Reise zu bereden.

Er brachte sie an die Bahn. Sie gingen durch die Strassen von Thorde. Die Frauen standen in den Türen und sahen sie an. Sie sagte zu ihnen:

»Ja, nun fahre ich nach Juliusbad. Meine Mutter hat mich eingeladen.«

Eine Frau, die Deeke hiess, wünschte ihr gute Reise. Eine andere, Antje war ihr Name, sagte:

»Komm gesund wieder.«

»Ja, ja«, antwortete Melitta. »Es ist eine lange Fahrt.«

Die anderen Frauen sagten nichts.

Sie trug einen kleinen Koffer. Otto wollte ihn tragen, aber sie gab ihn nicht aus der Hand.

Am Ausgang des Dorfes, an dem alten Gasthof, blieb sie noch einmal stehen und sah zurück.

Der Gasthof lag verlassen und rührselig da. In dem Saal, darin vor Jahren noch getanzt wurde, hatte ein Schlosser seine Werkstatt. Ottos Wagen stand auf dem Hofe. Der Schlosser hantierte noch daran herum. Es war eine Kleinigkeit gewesen, nun lief alles wieder wie am Schnürchen.

Otto stieg ein und fuhr langsam auf die Strasse. Er hielt vor Melitta.

Sie stand in Gedanken da. Er musste sie anrufen.

Als sie dann neben ihm sass, sagte sie:

»Wenn der Kapitän kommt, es ist alles in Ordnung. Ich habe Tasse und Teller auf den Tisch gestellt.«

Auf dem Bahnsteig wurde sie unruhig. Sie bat Otto, sie wieder mit nach Hause zu nehmen.

Dann wieder wollte sie, dass er mit nach Juliusbad käme.

Er hatte Mühe, sie zu beruhigen.

Er blieb dicht vor dem Abteil stehen, aus dessen Fenster sie heraussah.

»Ich warte, bis der Zug abfährt«, sagte er.

Er vergewisserte sich, dass der Türgriff geschlossen war.

Es waren noch viele Minuten Zeit.

Er sah, dass ihr die Tränen nahe waren.

»Freu dich doch«, sagte er. »Nun kommst du endlich dahin.«

Er wollte sie aufmuntern. Er wiederholte noch einmal alles, was er von dem Land in den Bergen wusste.

Sie las ihm jedes Wort von den Lippen. Sie nickte zu jedem Wort.

Dann auf einmal lachte sie.

Ja, als der Zug sich in Bewegung setzte, lachte sie plötzlich.

Die Umstehenden blickten sie verwundert an. Sonst pflegen Menschen zu weinen, wenn sie abfahren und Abschied nehmen. Aber Melitta lachte ganz hell. Vielleicht dachten sie auch, es stünde ein hübsches junges Mädchen am Fenster. So hell war ihr Lachen.

Aber sie sahen, dass da eine Frau stand, eine ältere Frau, man konnte sagen, eine alte Frau. Das sahen sie und blickten weg.

Nur Otto sah ihr noch nach.

In dem Gesicht, das ihm langsam entschwand, war das Lachen tief eingeschnitten. Schliesslich wusste er nicht mehr, welches ihr Gesicht war.

Ja, nun war Melitta in Juliusbad.

Sie war viele Stunden im Zuge gefahren, vorüber an Städten und Dörfern, an Wäldern und Ackerland. Sie war noch niemals so weit über Thorde hinausgekommen, und nun lag selbst die Industriestadt schon hinter ihr in unüberdenkbarer Ferne.

In jungen Jahren hätte sie wohl fiebernd vor Ungeduld aus dem Fenster des Abteils hinausgeblickt, jeden Baum am Wegrande mit ihren Blicken aufgesogen, jeden Kirchturm um seinen Namen gefragt, jeden Bahnhof aufatmend hinter sich verschwinden sehen, denn jede Minute brachte sie ja dem seligen Lande näher, dem reichen gelobten Land in den Bergen.

Vielleicht hätte sie das alles einmal mit Jubel begrüsst in jungen Jahren. Jetzt aber hatte sie ängstlich auf der Bank gesessen, die Augen starr vor sich, als wäre kein Sommerland zu Seiten der Fenster, sondern als gäbe es nichts mehr für sie ausser einem endlos grauen Schienenstrang, darauf unerbittlich die Bahn aus Eisen sie in eine erschreckende Fremde führte.

Sie fand ihre Gedanken erst wieder, als sie in einem schmalen Zuge sass, der gemächlich mit vielem Geschnauf und Geklingel durch waldiges Land fuhr.

Wälder. Ja, da sind nun die Wälder.

Sie blickte hinaus. Sie sah Holzfäller, arme verhärmte Gestalten, die von der Arbeit dem Zuge nachsahen. Sie erspähte mühsame Wägelchen, darauf Reisig geladen war und dürres Astwerk.

Sie sah Dörfer, die eingezwängt in Bergbuchten dalagen, mit kleinen Häusern, nicht grösser als die in Thorde, weniger freundlich sogar mit ihren schwärzlichen Schieferwänden.

Es ging zum Abend. Die hohen Tannen drängten sich dunkel und schwer bis dicht an die Bahn.

Wo war das Reh, das durch die Wälder springen sollte? Warum funkelten die Berge nicht? Wo waren die silbernen Wege?

Düstere spitze Tannen, düstere Tannen.

Ihre Äste knarrten gegen das Fenster.

Melitta sah scheu auf ihre Hände. Sie hatte die Hände gefaltet. Sie blickte nicht mehr auf.

Ein böser Zauber ist draussen.

Es ist Abend.

Am Abend wird sie wohl kommen, die grosse Hexe, und alles verwirren, damit der Mensch unklar wird und sich nicht mehr auskennt.

Wo ist die kreuzgesegnete Türe?

Auf einmal ist man ganz allein, so seit Anbeginn verlassen. Nie noch stand man so einsam in dieser Welt.

Es ist keine Hütte da, die sich öffnet. Kein Tor tut gastlich sich auf. Nein, nirgends ist eine gesegnete Schwelle.

Melitta befällt ein Zittern. Ihre Hände haben sich verkrampft. Wenn jetzt ein Ton von ihren Lippen käme, würde er anwachsen zu einem wehen wilden Schrei. Aber ihr Mund ist gelähmt. Nur der starre Blick ihrer Augen ist ein Angstruf.

Nein, das Reh springt nicht mehr durch die rauschenden Wälder.

Diese Wälder sind eine hohe dunkle Wand.

Und das Reh liegt in ihrer Düsterkeit zerschellt und zerbrochen im Aufsprung.

Melitta schauert. Sie kann sich nicht wehren. Ihre Hände fliegen auf ihrem Schoss.

Dann aber hallen ein paar Worte an ihr Ohr. Eine alte bedächtige Stimme ist es.

Ja, da sitzt ein alter Mann. Er kramt seine Siebensachen zusammen, die neben ihm auf der Bank liegen. Er macht sich fertig zum Aussteigen.

Er sagt: »Nun sind wir gleich da.«

Dieses kleine Wort kommt wie eine grosse Freundlichkeit heran. Die trübe Lampe im Abteil scheint heller aufzuflammen. Es ist warm auf einmal. Der Kampf löst sich. Die Blicke ruhen. Die Hände liegen still.

Es ist eine gute Stimme.

Der Mann sagt: »Da drüben, die hellen Fenster, das ist das Schloss.«

In der Dunkelheit hoch oben sind nahe Sterne.

Das also ist das Schloss.

Melitta fragt nicht. Sie lässt den Alten erzählen. Er sagt Nebensächliches. Er sagt:

»Ein hübsches Städtchen. Ja, nun werde ich einige Zeit da zu tun haben.«

Er berichtet, dass er Aufseher wäre, Aufseher in einer Schneidemühle. Lange Jahre schon, ja, wie lange eigentlich? Da müsste er erst einmal nachrechnen.

»Ich habe manchen Rock abgerissen in Erwinsrode«, sagt er.

Früher sei er auf allen Mühlen im Lande herumgekommen, aber nun sei er schon seit langen Jahren auf der Schneidemühle.

Jetzt hätte sein Chef ihn nach Juliusbad beordert an die Stuhlfabrik. Herr Leisegang, das wäre sein Chef, wollte längere Zeit mit seiner jungen Frau auf Reisen gehen. Da sollte nun er, der Alte, in der Fabrik die Aufsicht führen.

»Auf dich kann ich mich verlassen, Gottwald«, hätte Herr Leisegang gesagt.

Der Alte erzählt gerne. Er hat die ganze Fahrt über vor sich hingedruselt, nun beim Aussteigen wird er lebendig.

»Herr Leisegang ist reich«, sagt er. »Er hat die Tochter eines Hotelbesitzers geheiratet.«

»Wir haben auch ein Hotel«, antwortet Melitta zögernd.

Wo das wäre?

»In Thorde«, sagt sie, »an der See.«

Thorde, dieses Wort, wie eine Türe hat es sich aufgetan. Melitta ist hineingeschlüpft in dieses Wort.

»Thorde«, sagt sie und fühlt sich auf einmal geborgen. Ach, es wäre schön, in diesem Gedanken auszuruhen.

Aber der Zug hält. Man muss aussteigen. Es ist eine grosse Hast und Unruhe auf einmal.

Melitta hält sich dicht an Gottwalds Seite. Sie spricht hastig auf ihn ein. Sie erzählt von Thorde. Umgeben von einer fremden Stadt, flüchtet sie sich in die verlassene.

»Thorde ist eine grosse Stadt«, erklärt sie aufgeregt. »Unser Hotel hat hundert Zimmer. Es sind breite Terrassen am Strande und eine grosse gläserne Veranda. Dicht vor dem Hotel legen die Dampfer an, es kommen Reisende aus aller Welt. Ja, Thorde ist berühmt.«

Sie verliert den Boden unter den Füssen. Eine herrlich wundervolle Spiegelung schwebt ihr vor, Thorde, die reiche Stadt am Meer. Ein grosses weisses Segel taucht auf. Ist es der Mond, ist es ein Schiff? Ja, ein Schiff wird es sein, ein Schiff fernher aus weiten Meeren.

Melitta legt die Hand auf Gottwalds Arm.

»Der Kapitän wird kommen«, beteuert sie, »ja, der Kapitän kommt.«

Der Alte blickt sie verdutzt an. Es ist heller Mondschein, er sieht deutlich ihr Gesicht. Melitta lächelt.

Er brummelt etwas, er wird nicht klug aus ihrer Rede.

Dann schreit Melitta leise auf. Eine Frau ist an sie herangetreten. Eine Frau? Ein Weib mit zerrissenem Tuch und die Haare unordentlich über dem dunklen Gesicht. Es streckt bettelnd die Hand aus.

Melitta ist erschrocken.

»Keine Angst«, sagt Gottwald, »es ist bloss Schikane.«

Er jagt sie fort.

Ja, das ist Schikane, das Zigeunerweib. Davon treiben sich viele in dem Land in den Bergen herum.

»Zigeuner? Nein, die kommen nicht zu uns nach Thorde«, sagt Melitta. »Zu uns kommen die reichen Leute.«

»Ja, das hier ist ein armes Land«, sagt Gottwald. »Viel Not und Elend.«

»Arm –?« fragt Melitta betroffen.

»Ja, viel Armut. Die Gruben sind stillgelegt, die Hüttenwerke arbeiten kaum noch.«

»Und das Silber in den Bergen?« fragt Melitta.

Gottwald schüttelt den Kopf.

»Damit ist es vorbei«, sagt er. »Das war früher einmal. Ja, das Silber – es ist gebrochen und verprägt. Kleine und grosse Münzen, leichte und schwere, aber alle rund und weg in den Wind. Etwas Eisen noch und Blei, das ist alles.«

»Und die Edelsteine?« fragt Melitta.

Gottwald sieht sie betrübt an.

»Alabaster«, sagt er leise. »Er funkelt, aber es ist ein Gips.«

Sie gehen schweigend nebeneinander her. Bis zum Marktplatz gehen sie zusammen. Der Alte zeigt Melitta den Weg. Der Weg ist leicht zu finden.

Kaum ein paar Schritte allein, ist das Zigeunerweib schon wieder da.

Tzigane redet auf Melitta ein. Sie will ihr wahrsagen. Sie versucht ihre Hand zu erhaschen. Sie will Melitta in das Laternenlicht ziehen. Sie wird ihre Handlinien deuten.

Aber Melitta hat die Hand geballt. Sie stösst nach Tzigane. Sie läuft fort vor der Zigeunerin.

Sie läuft die leere Strasse entlang, den Koffer fest an sich gepresst.

Sie ist ausser Atem.

Sie stöhnt.

Ein Liebespaar kommt aus der Nebengasse. Sie heftet sich den jungen Leuten an die Fersen. Sie blickt sich scheu um.

Das Zigeunerweib ist verschwunden.

Das Liebespaar ist so versunken, dass es die Nähe der Frau nicht merkt. Eng umschlungen, schweben die Liebenden vor Melitta her.

Die Strasse liegt hell im Mondschein. Es ist ein zarter Duft aus den Gärten. Es sind leichte glucksende Vogelrufe im Blätterwerk.

Wenn die Liebenden stehenbleiben, um sich zu küssen, weicht Melitta scheu zurück.

Lautlos steht sie dann im Schatten eines Baumes.

Die Liebenden haben die Welt vergessen, den Stern, den Mond, sie sind sich selbst das Licht, Erde und alle Zeit.

Wenn sie weiter schreiten, folgt ihnen Melitta. Unhörbar ist ihr Schritt.

Sie ist nichts als ein dunkler Schein, der im Mondlicht dahinwandelt.

Sie hat des Weges nicht acht, sie würde den Liebenden über alle Strassen hin folgen.

Ach, es ist eine Finsternis gewesen, Jahre um Jahre. Eine lange Zeit, ein Leben ist hingeflossen, abgetrennt von dem grossen Strom.

Nun ist ein Licht aufgeglommen um diese einsame Stunde. Ein heimliches Licht wird vor ihr hergetragen. Die Liebenden tragen es in ihren Gebärden. Ja, ein Abglanz fiel in ihr Herz.

Sie ist müde von der Fahrt, von allen Gedanken.

Sie ist müde von dem Gehörten. Ein Mann hat ihr erzählt, dass dieses Land in den Bergen ein armes Land wäre. Das Silber ist alle. Die Edelsteine sind tot.

Aber die Liebe geht vor ihr her.

Ein junges Paar küsst sich im Mondschein.

Dann, vor einer Türe, steht das Paar lange, Hand in Hand.

Die Liebenden nehmen Abschied.

Melitta hält sich in dem Gebreit eines Baumes.

Dann ist der junge Mann gegangen. Das Mädchen blickt ihm noch nach. Es sieht sich um, bemerkt die Frau und erschrickt etwas, kommt näher, tritt zu der fremden Frau, zu Melitta, und sagt:

»Er ist mein Verlobter.«

Ihr Blick ist noch verträumt.

Es drängt sie, von ihrem Glück zu einem Fremden zu sprechen.

»Wir werden bald heiraten«, sagt sie, »wir haben schon eine Wohnung gemietet. Ja, nun werden wir bald für immer zusammen sein.«

Das Mädchen erwartet keine Antwort, aber es ist doch verwirrt, weil Melitta so stille verweilt.

Es fragt besorgt:

»Wo wollen Sie hin, liebe Frau?«

Melitta antwortet nicht darauf. Sie steht unbeweglich. Ihre Gedanken wiederholen die Worte des Mädchens, wieder und wieder: ›Ja, nun werden wir bald für immer zusammen sein.‹

Melitta blickt das Mädchen an. Ach, was hat es blonde Haare und welch zartes Gesicht.

Einmal war einer, der sagte: Wie eine Miss. Er war Seefahrer und weit durch die Welt gekommen. Er hatte viele Frauen gesehen. Wenn er heimkam, sagte er: Du bist die Schönste.

Ach, was hatte das Mädchen damals blonde Haare, welche zarte Haut, wie Milch und Blut. Und der Gang, welch leichter Gang und was für zierliche Füsse. Ja, sie war anders gewesen als alle Mädchen von Thorde.

Melitta wendet sich ab. Sie geht unschlüssig weiter. Sie weiss wohl nicht mehr, wohin sie zu gehen hat.

Dann ist das junge Mädchen neben ihr und sagt:

»Sie sind fremd hier. Ich fühle es. Bitte, wo wollen Sie hin?«

Melitta überlässt sich dieser zarten Stimme.

Sie nennt Emitas Namen.

»Die alte Frau?« fragt das Mädchen mitleidig. »Sie wohnt unten in unserem Haus. Es geht ihr nicht gut. Sie ist sehr elend.«

Sie führt Melitta in das Haus.

Ein schönes Haus, eine Villa. Nein, Emita hat nicht gelogen. Es ist eine Villa. Melitta lächelt.

Das Mädchen sagt:

»Meine Eltern haben das Haus vor einigen Jahren gekauft.«

Melittas Gesicht wird starr.

Dann muss sie Stufen herniedersteigen.

»Dort unten die Tür«, sagte das Mädchen.

Melitta steht in dem Türrahmen.

»Sie wird schlafen«, sagt das Mädchen noch, »sie schläft immer.«

Auf dem Tisch brennt eine Lampe. Das Licht ist heruntergeschraubt. Es ist viel Dunkelheit in der Stube.

Melitta sieht nichts darin als den Tisch und an der einen Wand ein Sofa.

Sie tritt zaudernd an die Lampe und lässt das Licht heller werden.

Es ist nichts in dem Zimmer als der Tisch und das Sofa.

Die Türe zur Kammer steht offen.

Das Licht, das hineinfällt, zeigt eine leere Wand.

Melitta blickt sich suchend um, aber sie wagt nicht, in die Kammer hineinzusehen.

Sie fürchtet sich. Sie schraubt das Licht ganz hell.

Aus der leeren Kammer kommt eine Stimme, eine schwache witternde Stimme, Emitas Stimme. Sie fragt:

»Wer ist da?«

Das Licht hatte ihr Lager getroffen.

Melitta blieb stumm.

Die Kranke bewegte sich unruhig. Sie ächzte, sie fragte noch einmal.

Melitta antwortete nicht. Lautlos stand sie am Tisch. Sie hielt den Atem an, sie hatte die Hände auf das Herz gepresst, damit man seinen Schlag nicht vernähme.

Sie lauschte furchtsam auf jede Bewegung der Kranken.

Auch als diese wieder eingeschlafen war, stand sie noch lange regungslos.

Der grosse Traum ist zerbrochen.

Zwei kahle Stuben, das ist die Wirklichkeit. Arm ist das Land in den Bergen.

Als es tiefer zur Nacht ging und die Müdigkeit über sie kam, setzte sie sich in die äusserste Ecke des Sofas. Wenn sie den Kopf zur Seite wandte, sah sie das Fussende von Emitas Lager.

Wenn sie sich Mühe gab, hinzuhorchen, hörte sie deren hastigen Atem.

Sie sass steif und starr. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten.

Vielleicht glaubte sie, dass ein Zauber sich ereignen würde, dass diese Wände um Mitternacht sich verwandeln könnten, dass sie sich auftäten und eine Pracht ohnegleichen hereinzöge.

An den Wegen haben dunkle Tannenzapfen gelegen. Am Morgen waren sie Gold.

Ein trockener Zweig verwandelte sich in einen Silberstab. Er schlug tönend an, wo reiches Erz in der Erde lag.

Eine einfache Spindel wurde gefunden. Sie spann ohne Unterlass das weicheste Garn und niemals ging der Flachs zu Ende.

In der dunkelsten Nacht geht der Bergmönch um. Er schenkt den Ärmsten das ewige Grubenlicht. Eine Unschlittkerze ist es, aber sie leuchtet durch alle Zeit, und das Geschwel ihrer Flamme duftet wie süsses Wachs.

Steif und starr sass Melitta.

Die »Wände blieben geschlossen, und nur eines veränderte sich: die Lampe brannte nieder, sie verlosch und es blieb nichts als ein bitterer Ruch von Rauch.

Am Morgen klopfte das junge Mädchen an die Türe. Es brachte Milch und Brot. Es öffnete das Fenster und liess die Sonne herein. Es sagte:

»Da hat sich die alte Frau wohl gefreut.«

Melitta nickte und nahm dem Mädchen die Gaben ab.

»Sie schläft noch«, flüsterte sie.

Das junge Mädchen trat vorsichtig in die Kammer. Emita war wach. Sie fragte:

»Mit wem sprichst du da?«

Das junge Mädchen lächelte und streichelte der Kranken begütigend die Hände.

»Ihre Tochter ist doch gekommen.«

Emita blickte sie ungläubig an und wandte den Kopf zur Türe.

Das junge Mädchen sah sich nach Melitta um, ging zu ihr in die Stube und sagte:

»Sie hat es wieder vergessen. Die Freude hat sie durcheinander gebracht.«

Aus der Kammer kam jetzt ein leiser fragender Ruf:

»Melitta?«

Dem jungen Mädchen traten die Tränen in die Augen. Ach, die sterbende Mutter ruft ihre Tochter.

Das junge Mädchen verliess leise die Wohnung.

Melitta faltete die Hände. Ihr Herz ging unruhig. Sie schluchzte. Aufschreiend warf sie sich an Emitas Lager nieder. Sie weinte haltlos.

Am Abend, als die Dunkelheit wieder von den Stuben Besitz nahm, sagte Emita:

»Nimm dieses Tuch fort.«

Sie wies mühsam hinter sich und Melitta sah, dass zwischen Bett und Wand ein Gestell unter einem Tuche verborgen war.

Es war ein Gewirr von Stangen und Drähten, deren Bedeutung Melitta sich nicht erklären konnte.

»Stille«, sagte Emita, und sie lauschten beide, aber es bewegte sich nichts in der Kammer. Kein Laut war hörbar, nicht der mindeste Ton.

Emita seufzte.

Sie liess Melitta das Tuch wieder über das Gestänge breiten.

Dann schloss sie wieder die Augen und schlief.

Sie wurde von Tag zu Tag schwächer.

Wenn sie aufdachte und zum Bewusstsein kam, bat sie Melitta, das Tuch fortzunehmen. Doch rührte sich keiner der Drähte.

Nach Tagen stand eine Frau vor der Türe, die Melitta nicht kannte.

»Ich bin Frau Potinecke«, sagte die Fremde, »ich heisse Aline.«

Sie setzte sich ohne grosse Umstände. Sie sagte:

»Ja, ich habe Ihnen den Brief geschrieben. Ich komme von Zeit zu Zeit nach Juliusbad. Dann sehe ich jedesmal nach der Kranken. Ich habe mich die Wochen über um sie gekümmert. Aber es ist doch besser, dass Sie nun da sind.«

»Der Arzt gibt ihr nicht mehr viel Zeit«, antwortete Melitta.

»Es ist das Beste«, sagte Aline, »es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein alter Mensch nicht unter die Erde kommen kann.«

Aline blieb ein paar Stunden da.

Sie erzählte von sich. Sie hätte es ganz gut getroffen, sie hätte einen Töpfermeister geheiratet. Sie besässen ein eigenes Haus.

»Im reichen Winkel«, sagte Aline.

Ja, es liesse sich alles gut an.

Wie es denn mit Melitta wäre? Sie erkundigt sich, sie stellt viele Fragen. Es ist keine Neugier. Sie nimmt Anteil an Melittas Schicksal.

Ja, das Leben hat Melitta viel aufgepackt. Sie schüttet ihr Herz aus.

»Er wird wiederkommen, der Kapitän. Er ist lange fort, aber er kommt wieder«, sagt sie.

»Ja«, antwortet Aline. »Wie die Menschen oft fortgehen. Ach Gott, man sieht sie jahrelang nicht. Man verliert sich aus den Augen.«

Sie seufzt. Sie sagt:

»Mein Bruder. Er ist auch fortgegangen. Er war Trompeter. Er ist einfach in die Welt gelaufen. Es behagte ihm hier nicht mehr. Er ist nach Amerika. Nun sind die Menschen so einfach fort. Auch der Nachbar ist fort. Er ist schon jahrelang fort.«

Melitta weiss nicht, wer der Nachbar ist.

Aline erklärt es ihr. Sie sagt:

»Er handelte mit Leinenwaren. Er fuhr mit einem Planwagen durchs Land. Er ist immer gekommen. Wir warten alle auf ihn. Aber nun ist er seit Jahren weg. Kein Mensch weiss, wo er geblieben ist. Natürlich, eines Tages kommen sie alle wieder. Das ist ganz selbstverständlich. Wo sollen sie schliesslich bleiben? Es kommt jeder nach Hause.«

Aline hat in den Jahren oft an den Nachbar denken müssen. Nun gut, sie hat den Töpfer Potinecke geheiratet. Sie kann sich über nichts beklagen. Doch der Nachbar war ein Charakter. Vielleicht hat er sie deshalb enttäuschen müssen.

Nun erzählt sie von ihm:

»Der Nachbar war verheiratet gewesen. Vielleicht ist er wieder zu seiner Frau gegangen. Man hatte gar nicht gewusst, dass er eine Frau hatte. Er war viele Jahre hier im Lande.«

»Ich war noch ein kleines Mädchen«, sagt Aline, »da kam er schon. Immer ist er gekommen, alle zwei Monate. Nun ist er seit Jahren fort. Er wird wohl nach Hause gegangen sein.«

Melitta stimmt hastig zu:

»Ja, sie kommen alle nach Hause. Auch Dorothee wird kommen.«

Ach, wenn sie doch wüsste, wo Dorothee wäre.

Sie blickt Aline inständig an:

»Wissen Sie nicht, wo Dorothee ist?«

Aline schweigt. Sie weiss nicht, was sie antworten soll.

Sie hatte Dorothee gebeten: Fahr hin, deine Mutter wird nun da sein.

Aber Dorothee hatte sich gesträubt.

Sie waren seit einiger Zeit gut bekannt geworden. Töpfer Potinecke hatte in der Nagelschmiede in Sorgenstein einen neuen Rauchfang zu ziehen. Da hatte er Dorothee kennen gelernt, die damals gerade Wilhelms Frau geworden war.

Zu Hause hatte Potinecke zu Aline gesagt:

»Ein tüchtiger Mensch, die neue Meistern. Mit der wird es Wilhelm schon zu was bringen.«

Aline war neugierig geworden und es ergab sich bald eine Gelegenheit, dass sie Dorothee kennen lernte.

Mit der Zeit kamen sie dann öfter zusammen, und schliesslich hatten sie soviel Vertrauen zueinander gefasst, dass sie sich gegenseitig aussprachen.

So hatte Aline von Dorothees erster Ehe gehört, von dem Zerwürfnis mit ihrer Mutter, und von einer so gut wie unbekannten Grossmutter, die Emita hiess.

Aline hatte manchmal ein weiches Herz und versuchte dann immer wieder, die junge Frau zu einer Reise nach Juliusbad zu veranlassen:

»Sie ist deine Grossmutter, du musst dich einmal um sie kümmern.«

Doch Dorothee blieb hartnäckig.

Sie hatte in Sorgenstein ein neues Leben begonnen. Sie lebte mit Wilhelm in glücklicher Ehe. Das erste Kind war geboren worden, sie erwartete ein zweites.

Diese zufriedene Welt, in die ein gütiges Schicksal sie, über alle Erwartungen gnädig, hineingewoben hatte. wollte sie nicht durch die unglücklichen Verwirrungen abgelebter Jahre zerstören, oder zum mindesten in Unruhe versetzen lassen.

Aline erreichte es aber, dass sie von Dorothee die Erlaubnis erhielt, Emita einmal besuchen zu dürfen.

Neugierig kam sie in den ärmlichen Haushalt der alten Frau. Sie hatte sich eine solche Verlassenheit nicht vorstellen können. Sie erschrak über Emitas verworrenes Gehabe. Sie musste geheimnisvolle Geschichten anhören.

»Der Millionär ist tot«, hatte Emita gesagt, »ja, er hat die grosse Schlacht verloren. Er konnte es nicht überleben. Jeden Abend höre ich ihn. Er spielt auf der Totenharfe.«

Aline hatte mit Erschauern das seltsame Gerät betrachtet. Sie wagte nicht zu atmen, ihre Finger brannten, als sie zum ersten Male die Hand daran legen sollte, weil Emita sich zu schwach gefühlt hatte, die Drähte in Bewegung zu setzen.

Aline hatte sich vorgenommen, die Alte nie wieder aufzusuchen, so erschrocken war sie gewesen.

Aber die Furcht ist ein süsser Honig. Immer wieder, von neuem gierig, stellte Aline sich bei Emita ein.

Allerdings versuchte sie jetzt nicht mehr, Dorothee zu überreden. Sie verheimlichte ihr sogar manchen Besuch.

So war das viele Monate gegangen, dann wurde Emita hinfälliger und konnte das Bett nicht mehr verlassen.

Da schrieb dann Aline nach Thorde und bat Melitta, zu kommen.

Sie hatte diesen Brief ohne Dorothees »Wissen abgesandt, und erst nach Tagen fand sie den Mut, es einzugestehen.

»Fahr hin«, bat sie, »deine Mutter wird nun da sein.«

Aber Dorothee hatte sich geweigert.

Ja, sie liess sich von Aline sogar versprechen, verschwiegen zu sein und alles daranzusetzen, um zu verhindern, dass Melitta jemals von Sorgenstein etwas erfahren oder gar hinkommen könnte.

Nun sass Aline bei Melitta und musste diese Frage über sich ergehen lassen:

»Wissen Sie nicht, wo Dorothee ist?«

Aline schwieg. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie war verlegen geworden, hilflos war sie, und weil ihr einfältiges Herze keinen Ausweg wusste, liess die Verwirrnis Tränen über ihre Wangen tropfen.

»Ach Gott, der Mensch«, schluchzte sie, »was ist schon der Mensch?«

Sie stand auf, trocknete ihre Tränen und wollte gehen.

Sie hatte bis jetzt noch nicht nach Emita gesehen. Das fiel ihr an der Türe ein.

Sie wandte sich um, trat in die Kammer und stand ein Weilchen am Bett der Kranken.

Emita hatte geschlafen. Nun wurde sie etwas wach und flüsterte leise vor sich hin.

Aline beugte sich zu ihr, um die Worte zu verstehen.

»Er spricht nicht mehr«, hauchte Emita.

Aline redete ihr gut zu, tröstete sie und schob ihr die Decke zurecht.

Über diesem Geflüster wurde Emita vollends wach. Sie erkannte Aline und ein Lächeln ging über ihr Gesicht.

»Es ist gut, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Die Frau versteht es nicht.«

Sie wies auf Melitta.

»Nimm das Tuch fort«, bat sie Aline.

Aline sah unentschlossen auf Melitta, aber als die Kranke ungeduldig wurde, entfernte sie das Tuch von den Drähten.

Es war dann ganz stille im Zimmer, und sie lauschten.

War es nun die Erschütterung des Hauses durch einen Wagen, der vorüberfuhr, war es der Luftzug durch das noch geöffnete Fenster, waren es die Seelen, von denen man sagt, dass sie auf einsamer Wanderung durch die Lüfte dahinzögen, – der Draht begann leise zu klingen.

Emita lag mit verzücktem Gesicht im Kissen. Aline zitterte, Melitta stand abweisend. Nichts in ihrem Gesicht drückte eine Teilnahme aus.

Dann, als der Draht schwieg, musste Aline das Tuch wieder darüber tun. Sie tat es furchtsam und mit grosser Hast. Sie beeilte sich, aus der Stube zu kommen. Sie sagte draussen im Flur zu Melitta:

»Ich bin noch ganz von mir. Sie glaubt, dass es der Millionär ist. Ja, sie glaubt, der Tote macht sich bemerkbar.«

Melitta hatte die Hand an der Türe. Sie warf einen Blick durch die leere Stube. Sie sagte tonlos:

»Der Millionär?«

Sie lachte kurz auf:

»Es gibt keinen.«

Sie begann plötzlich auf Aline einzureden. Sie liess die Türe nicht los. Sie klammerte sich daran. Sie sagte:

»Nein, es hat nie einen Millionär gegeben. Sie können es mir glauben, Frau. Das alles ist Lüge. Es ist alles nicht wahr gewesen.«

Sie begann zu schluchzen:

»Ich habe es auch geglaubt. Diese Millionen –«

Sie schluchzte krampfhaft.

»Alles erlogen.«

Sie griff Alines Hand. Sie jammerte:

»Wie kann eine Mutter so ihre Tochter belügen? Ach, sie ist nicht meine Mutter. Nein, sie ist meine Mutter nicht mehr. Bleiben Sie doch, gehen Sie doch nicht fort. Ich will Ihnen alles erzählen. Kommen Sie doch wieder herein, bitte, kommen Sie doch.«

Aber Aline war so erschrocken, dass sie sich losriss. Sie stolperte die Stufen empor.

»Bleiben Sie doch«, schrie Melitta.

Doch Aline war schon durch die Türe.

Melitta stand alleine im Flur und weinte laut.

Das junge Mädchen erschien auf der Treppe. Es stieg langsam hernieder. Es geleitete Melitta sanft in die Stube.

Aline war in grosser Verwirrung nach Sorgenstein gekommen. Sie war so mitgenommen von dem Besuch bei Emita, dass sie auf Dorothee keine Rücksicht nahm. Sie verschwieg ihr nichts. Sie sagte:

»Es ist eine Sünde. Du musst hinfahren. Du musst dich um sie kümmern. Wer weiss, was geschieht? Es war schrecklich. Ja, du musst sofort hin. Man darf nicht die Augen einfach zumachen.«

Dorothee konnte sich nicht entscheiden. Sie sprach mit Wilhelm. Sie redeten mit dem alten Meister Freilich.

Er wusste noch gar nicht, dass Melitta in Juliusbad war.

Er schwieg eine Weile. Er sass in Gedanken.

»Deine Mutter?« fragte er sinnend.

Er konnte lange zu keinem Entschluss kommen. Endlich sagte er:

»Der Verstand sieht mit vielen Augen, aber welches sieht richtig? Der Mensch sieht zu kurz oder zu weit. Wenn er den rechten Weg findet, ist es durch Gottes Güte.«

»Ja, durch Gottes Güte«, sagte Meister Freilich. »Ich bin ein alter Mann und darf das sagen. Es gehört ein langes Leben dazu, um zu wissen, dass Gott gut ist.«

Er wandte sich zu Dorothee:

»Du fragst mich? Was soll ich dir nun raten? Man weiss nie, was man sich ins Haus trägt. Das Rauhe legt den Mantel ab und hat ein glattes Gesicht. Das Glatte tritt freundlich ein und gebärdet sich voll Unverstand. Wer kann wissen, was durch die Türe kommt? Tu, wie es dein Herz verlangt.«

Die besinnliche Art des Alten hatte Dorothee weich gestimmt. Es war das erste Mal, dass Meister Freilich vor ihr von Gottes Güte sprach.

Sie dachte an ihre Mutter, – nicht an jene Zeit, wo sie gegeneinander gestanden hatten, sondern an jene früheren Jahre, in denen Melitta in der Verlassenheit ihres Herzens alle Liebe einmal über sie ausschüttete.

Das war damals gewesen, als Herr Daudat Melitta immer wieder bestürmte, seine Frau zu werden. Sie hatte ihn zurückgewiesen, sie wollte nichts davon wissen. Sie lag abends schluchzend auf den Knien, sie hatte das Kind an sich gepresst: nein, er ist nicht tot. Er ist fort. Ach, er ist fort. Nun habe ich nichts mehr als dich.

Aller dieser Tränen entsann sich Dorothee.

Sie sassen zu dritt um den Tisch.

Wilhelm hatte ihre Hand gefasst und Meister Freilichs Blick lag auf ihr.

»Ich will morgen hinfahren«, sagte Dorothee. Der Meister nickte ihr zu:

»Freilich, der Verstand hat viele Augen, das Herz nur eine Stimme.«


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