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Gegen Abend traf Pagel mit seinem Planwagen in dem Gasthof zwischen den Chausseen ein. Hier pflegte er seit Jahren auszuspannen, ehe er am nächsten Tage die Fahrt nach Erwinsrode fortsetzte. Der Gasthof lag an der Kreuzung der neuen Chaussee und der alten Heerstrasse, auf der schon vor Hunderten von Jahren das Kriegsvolk der grossen Herzöge gezogen war. Jetzt ruhte dieser Heerweg unbenutzt mit friedlicher Grasdecke, aus der im ersten Frühling Feigwurz und Lerchensporn und in der späteren Jahreszeit Einbeere und Habichtskraut hervorsprossen.
Als Pagel seinen Wagen auf den Hof fuhr und sich daran machte, das Pferd abzuschirren, kam die Wirtin lebhaft aus der Küche.
»Sieh einer an, der Nachbar!« freute sie sich, und trug ihre ganze Fülle an den Wagen. »Wusst ich es doch, ein Strohhalm lag auf der Treppe.«
»Riekchen!« rief sie über den Hof.
Nun liess sich auch die andere sehen, blankgeputzt wie ein Apfel.
»Nein, die Freude«, lachte Tante Riekchen.
Sie liessen Pagel gar nicht zu Worte kommen. Jede Frage nach seinem Wohlbefinden beantworteten sie gleich selbst. Dann, nach dieser ersten Neugier, standen sie erschöpft da, schlugen nur die Hände zusammen und nickten mit dem Kopf.
Nachdem Pagel den Wagen in die Remise geschoben und das Pferd versorgt hatte, kam auch er zu ein paar Fragen.
Die Frauen rissen sich gegenseitig die Antwort aus dem Mund, und da sie sonst an grössere Bedächtigkeit gewöhnt waren, gerieten sie mit ihren Worten ins Stolpern. Den Satz, den die eine begann, vollendete die andere.
»Ja, was gibts Neues –«, sagte Frau Hosang.
»Viel«, lachte Tante Riekchen. »Oder hast du es schon vergessen?«
»Nichts vergesse ich«, beteuerte Frau Hosang. »Eher knüpfe ich einen Knoten ins Schürzenband.«
Dabei strich sie um ihre Behäbigkeit, aber es war kein Knoten da.
»Es ist nichts zu vergessen«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Sie hats, sie hats«, prustete Tante Riekchen. »Es war wohl kein Kauz hier?«
»Kauz?« wunderte sich die Wirtin und fuhr mit der Hand nach ihrem Haar.
Tante Riekchen triumphierte:
»Kein Kauz war da! Hör bloss!«
Frau Hosang sah Pagel hilflos an.
»Aber Riekchen«, sagte sie dann kopfschüttelnd.
Plötzlich schien sie zu begreifen, worauf Riekchen hinauswollte. Sie schlug die Hände zusammen und fing an zu lachen.
»Das muss ich dir in Ruhe erzählen, Nachbar. Ach ja, der Verrückte. Nein, was für ein Mensch.«
Riekchen liess sie nicht ausreden.
»Er wollte nach Juliusbad – – –«
»Eine Freundin dort – – –«, unterbrach Frau Hosang.
»Jugendfreundin wohl«, betonte Riekchen.
»Sie hat Millionen«, lachte die Wirtin.
»Millionen«, lachte Riekchen und klatschte in einemfort in die Hände.
Sie hatten Pagel in der Mitte. Wie zwei alte gute Gänse umschnatterten sie ihn. So geleiteten sie den Nachbar in die Gaststube. Sie hatten ihn mit Beschlag belegt. Sie liessen gar nicht zu, dass er sich setzte. Sie zupften an ihm herum. Sie lachten: »Welch komischer Kauz auch, dieser Verrückte, der da gewesen war.«
»Sag selbst, Nachbar, Millionen!« – »Millionen!«
»Ja, in Juliusbad wachsen sie an den Bäumen. Du hättest bloss hören sollen, was er zurecht schwatzte!« erklärte die Wirtin.
Sie hielt sich die Ohren zu.
»Nein, so was!« rief sie immer wieder.
»Ich habe in Juliusbad nichts zu suchen«, sagte Pagel.
Frau Hosang sah ihn mitleidig an:
»Ich habe mich schon oft gefragt, was du gegen Juliusbad hast, Nachbar.«
Riekchen enthob Pagel einer Antwort:
»Er muss früher viel von sich hergemacht haben.«
Sie dachte noch an den komischen Kauz.
»Er war ein Landstreicher«, stellte Frau Hosang fest. Sie hatte sich beruhigt und wischte das Lachen aus den Augen.
»Da sitzt noch einer«, sagte sie doppelsinnig.
An dem Tisch in der Fensternische sass verdriesslich der Trompeter Jakob Rauchmaul.
Pagel war froh, von dem Gespräch der beiden Frauen wegzukommen. Er trat zu Jakob und fragte:
»Was hat dir die Suppe versalzen?«
Jakob wollte nicht mit der Sprache heraus. Pagel respektierte sein Schweigen und drang nicht weiter in ihn. Er wandte sich einem anderen noch leeren Tisch zu, doch der Trompeter machte wortlos eine einladende Handbewegung.
Pagel nickte und setzte sich. Nach einem Weilchen entschloss sich Rauchmaul zu reden. Er nahm einen seufzenden Anlauf.
»Die Aline.«
Dann schwieg er.
Auch kam die Wirtin dazwischen und fragte, ob der Nachbar schon sein Abendessen haben wollte.
»Gibs nur«, antwortete Pagel.
Während Rauchmaul dann sein Herz ausschüttete, stellte Riekchen das Essen hin, dampfenden Sauerkohl mit Kartoffelklump. Ab und zu unterbrach der Trompeter seine Worte und schnupperte über den Tisch.
Ja, die Aline. Da war sie vorhin im Gasthof gewesen und hatte gefragt, ob Forellen zu holen wären. Nein, es wurden keine verlangt. Aber bei dieser Gelegenheit war ihr der Trompeter vor die Augen gekommen. Ärgerlich war Aline herumgefahren: »Du hast mir gerade gefehlt«, hatte sie gesagt. Jakob war über diese böse Begrüssung, die ihm von seiner Schwester zuteil wurde, ganz niedergeschlagen gewesen. – »Du freust dich doch sonst, wenn du deinen Bruder siehst, Linchen?« hatte er verstört gefragt. Da war ihm Aline mit einem kurzen Lachen gekommen. – »Sonst ja, aber nicht hier, und am wenigsten in Erwinsrode. Mir kannst du jetzt nicht auf dem Hals liegen.« – Damit hatte sie sich umgewendet und ihn stehen lassen. Sie war dann kurz darauf gegangen, doch musste man zugeben, dass sie trotz dieser Widerhaarigkeit ein gutes Herz besass, denn Tante Riekchen hatte dem trostlosen Trompeter ein grosses Glas Nordhäuser hingestellt. Das spendiert dir Aline. Du hast noch eins gut. Aber von wegen Erwinsrode bliebe es dabei.
»Ich bin ein heimatloser Mensch«, klagte der Trompeter und sah Pagel wehmütig an. »Die eigene Schwester verschliesst einem ihr Haus.«
Er dachte daran, wie zufrieden er schon manchmal in der kleinen Stube im reichen Winkel gehaust hatte, in Wochen, wo das Wetter gar zu arg zum Trompetenblasen gewesen war. Noch nie hatte Aline ihm die Bodenkammer verweigert.
Nun sass er in dem Gasthaus, trostbedürftig und in seiner Musikantenehre gekränkt.
»Als wär man ein Landstreicher. Ich kanns mir nicht erklären.«
Er versank dann in ein langes Nachdenken.
Erst als Pagel den leeren Teller beiseite geschoben hatte und die klobige Holzpfeife in Brand setzte, nahm der Trompeter seine Rede wieder auf.
Er war bei seiner Unglücklichkeit angelangt, bei seinem Leben.
»Ja, siehst du, Nachbar, das ist so, wenn Frauen kein Zutrauen haben zu den Männern. Du vertrinkst es doch bloss, hat meine Mutter kurz vor ihrem Ende gesagt. Die Krankheit hatte sie grämlich gemacht. Ich kanns verstehen, dass Aline ihr näher stand. Doch wenn sie ihr schon das Häuschen überschrieb, so konnte sie mir wenigstens ein Anrecht auf den Holzschuppen geben. Du lachst mich aus, Nachbar, aber der Holzschuppen hat seine Stabilität. Er ist in den Berg hineingebaut und wenn man seine Strohschütte darin hat, so könnte man es wohl aushalten. Aber auch damit war es nichts. Nun, vielleicht ist es gut so. Verwandte kommen auf die Dauer schwer miteinander aus. Je näher, je eher, sagt man.«
Er betrachtete nachdenklich das leere Glas, das vor ihm stand.
»Doch glaube ich nicht, dass Mutter mit Alines Launen zufrieden wäre. Nein, das glaube ich nicht. Ich kann's nicht glauben«, schloss er seinen Vortrag.
Pagel, der wusste, dass Aline gutherzig war, wollte die Sache einrenken. Der betrübte Trompeter tat ihm leid.
»Sie wird es nicht so gemeint haben«, sagte er, »und wenn du morgen bei ihr mit vorsprichst, wird sie sich freuen.«
Dem Trompeter tat dieser Zuspruch wohl. Er hätte sich gerne mehr Trost schenken lassen, aber die Wirtin setzte sich jetzt mit an den Tisch.
»Hats geschmeckt?« fragte sie, und sah befriedigt, dass Pagel auch nicht ein Restchen auf dem Teller gelassen hatte. Sie stellte allerlei Fragen nach Land und Leuten, und Pagel berichtete ihr, was er auf seiner Fahrt von diesen oder jenen erfahren hatte.
Hier war einer gestorben, und da war geheiratet worden. Kinder wurden geboren und Ziegenlämmer, dort war eine Kirche geweiht und andernorts das Schulhaus abgebrannt.
Von Freude und Verdruss konnte Pagel berichten, von misslichen Dingen und kleinen Zufriedenheiten. So wie das Leben hintreibt, bald mit einer Träne, bald mit einem Lächeln, aber doch immer des Nachdenkens wert.
»Jawohl«, sagte Frau Hosang oft dazwischen, als bedürften diese Geschehnisse nachträglich noch ihrer Zustimmung.
»Jawohl«, sagte Frau Hosang und blickte auffordernd den Trompeter an, als würde das Schicksal mit sich selber unzufrieden sein, wenn es nicht auch des Beifalls des Trompeters Jakob Rauchmaul gewiss sein dürfte.
Doch Jakob hörte nur mit halbem Ohr hin.
In Gedanken ist er noch bei Aline und sucht nach den Gründen ihrer Unfreundlichkeit. Er kann nicht glauben, dass sie ihm die kleine Auseinandersetzung damals in dem Käsedorf nachträgt, als er ihr den wohlgemeinten brüderlichen Rat zu geben wünschte, die Treppe, welche sie in den Ehehimmel führen sollte, nicht in gar zu hohem Bogen zu bauen. Aline ist nicht der Mensch, der verschossene Pfeile aufsammelt und sie dem anderen immer wieder nachschleudert. Wenn sie jetzt also unwirsch zu ihrem Bruder gewesen ist, so muss es eine andere Bewandtnis haben.
Jakob sitzt grübelnd neben dem Gespräch der beiden, aber er kann in seinem Gedächtnis nichts finden, was zwischen ihm und Aline im Wege liegen könnte. Vielleicht sind ihr von allzu raschen Nachbarsleuten ein paar hämische Worte ins Ohr gesteckt worden. Gut und endlich ist ein Trompeter kein Pfarrerssohn. Ach ja, es ist nicht zu leugnen, dass man bei Jakob manchen schiefen Strich ins Holz gekerbt fände, doch würde es das erstemal sein, dass Aline daran Anstoss nähme.
Wenn Jakob sich hätte erklären können, aus welchem Grunde Aline ihm die Behaglichkeit im reichen Winkel diesesmal verweigerte, dann wäre alles in Ordnung gewesen. Er würde auf seinem Wege umkehren, und im nächsten Jahre wieder kommen. Was ist schliesslich ein Jahr? Ein Katzensprung vom blühenden Baum zum reifen Apfel und ein bisschen Schlaf danach, wenn der Schnee die Strasse versperrt.
Jakob legte den Zeigefinger auf den Rand seines leeren Glases und liess es auf dem Tisch tanzen.
Riekchen hatte ihre Arbeit in der Küche beendet und setzte sich nun zu den dreien. Sie sah andächtig auf Jakobs Geschicklichkeit, und wenn ihre Blicke sich streiften, legte sich ein Lächeln in ihr mondliches Gesicht, ein zärtliches Lächeln, als stünde sie in einem Frühlingsgarten und wüsste noch gar nicht, dass Blätter welk werden und fahl über die Wege fallen können.
Da sass er vor ihr, der begabte Schwestersohn, der lange Trompeter.
Wie oft hatte sie für ihn eine Lanze gebrochen, wenn seine Mutter ärgerlich über den verfehlten Beruf mit ihrem Unmut nicht an sich halten konnte.
»Es ist eine Gottesgabe«, hatte Riekchen gesagt.
»Ein Teufelsgeschenk«, hatte Jakobs Mutter widersprochen. »Er ist wie sein Vater. Sie verstehen besser auf der Flasche zu musizieren als auf der Trompete. Der Grossvater hats auch schon so gehalten. Diese Rauchmauls, der Himmel hat mich mit ihnen gestraft.«
Nein, Riekchens Schwester hatte nicht viel Verständnis für Trompeterstücklein, und doch wollte es einstmals ihr Stern, dass sie in solch eine musikalische Familie hineinheiraten durfte, während Riekchen, die schon vor Rührung weinte, wenn sie sich nur selber singen hörte, alleine durchs Leben laufen musste. Ja, nun, wo mehr als die Hälfte des Lebens mit bunten Hoffnungen vertan war, musste sie froh sein, im Gasthofe bei Frau Hosang am Herde stehen zu dürfen.
»Soll ich dir das Gläschen bringen, das du noch gut hast?« fragte sie den Trompeter.
»Aline soll sichs gut bekommen lassen«, war die verdrossene Antwort.
Tante Riekchen seufzte:
»Ich weiss auch nicht, was ihr in den Kopf gefahren ist.«
Jakob winkte ab:
»Erledigt und zerrissen«, sagte er und stellte das leere Glas umgekehrt auf den Tisch.
»Jakob«, bat Riekchen erschrocken. »Gräm dich nicht, es ist bloss eine Laune von ihr gewesen. Aline ist so ein gutes Kind. Jetzt nimmt sie mir immer die Wege nach der Schneidemühle ab.«
»So«, sagte Jakob gleichgültig, doch auf einmal stutzte er, pfiff durch die Zähne und sah Tante Riekchen an. »Die Schneidemühle? Aha. Also dann ginge die Uhr ja wieder mal richtig. Die Schneidemühle, sieh einer an.«
»Was meinst du denn?« fragte Tante Riekchen neugierig.
Jakob gab ihr einen Klaps auf die Hand.
»Es gibt Menschen, die neben dem Bach stehen und hören ihn doch nicht gluckern. Du gehörst auch dazu, Tante Riekchen.«
Sie sah ihn verständnislos an.
Jakob blickte zu Pagel hinüber und zu Frau Hosang, als erwartete er von ihnen eine Zustimmung, aber die beiden sprachen von anderen Dingen. Darum nickte er selbst noch einmal bestätigend mit dem Kopfe, tippte sich an die Stirne, liess zwei Finger langsam über die Tischplatte gehen, zwinkerte zu Tante Riekchen hin und flüsterte: »Leisegang!«
»Was?« fragte Tante Riekchen laut.
Jakob stellte sein leeres Glas wieder zurecht.
»So, nun kannst du mir einschenken, was ich noch guthabe«, sagte er vergnügt.
Er wusste jetzt, weshalb Aline ihn nicht in Erwinsrode haben wollte.
Tante Riekchen war unzufrieden. Sie wartete noch, dass Jakob sich näher aussprechen möchte. Als sie endlich einsah, dass sie kein Wort aus ihm mehr herauslocken könnte, stand sie auf, um ihm das Glas zu füllen. Die drei Schritte, bis zum Flaschenschrank hin, war sie ärgerlich auf ihn. Als sie sich dann umwandte und seine langen Beine sah, die er seitwärts unter dem Tisch hervorstreckte, hatte sie ihren Ärger vergessen.
»Ich mache dir gleich noch ein Fussbad«, sagte sie, denn sie glaubte, ihm immer eine Wohltat zu erweisen, wenn sie ihm nach einer langen Wanderung das warme Seifenwasser bereitstellen konnte.
Am nächsten Morgen kehrte Jakob Rauchmaul nicht um, wie er es sich tags zuvor überlegt hatte. Er wanderte nach Erwinsrode, obwohl er wusste, dass Aline sich nicht scheuen würde, ihm die Türe vor der Nase zuzuschlagen.
Er war schon fort, als Pagel sich an den Frühstückstisch setzte. Riekchen hatte ihre Beschäftigung auf dem Hofe und die Wirtin trug ihm selber das Essen auf.
»Nun gehts also nach Erwinsrode?« sagte sie.
»Ja, und dann weiter hinein in die Berge«, antwortete Pagel.
»Dass du das so aushältst«, seufzte sie. »Ich kann mich da gar nicht reindenken. Wenn ich so ohne meine vier Wände sein sollte –.«
»Meine vier Wände sind der Wagen«, erwiderte Pagel.
»Das schon«, sagte die Wirtin, »aber wenn man älter wird, will man doch gern zur Ruhe kommen.« »So ist es«, entgegnete Pagel. »Darum habe ich auch schon meine Pläne.«
Die Wirtin horchte auf.
»Ach«, sagte sie hastig.
Sie hoffte, dass Pagel mehr von seinen Absichten verraten würde, aber er hielt es nicht für nötig.
»Ist der Kaffee auch heiss genug?« fragte sie besorgt. »Soll ich dir noch Schinken bringen?«
»Es ist alles gut«, antwortete Pagel.
»Du willst dich also verändern?« forschte die Wirtin nach einem Weilchen.
»Noch hängt alles in der Luft«, erwiderte er.
Die Wirtin atmete auf.
»Da steht der Zucker«, sagte sie gastlich und schob ihm die Schale mit den grossen Stücken hin, die aus einem Zuckerhut geschlagen waren.
»Also verändern«, sagte sie.
»Eigentlich soll man nicht durch unfertige Türen gehen«, antwortete Pagel.
Er hatte sich behaglich zurückgelehnt und stopfte mit vieler Sorgfalt die Tabakspfeife.
»Es ist noch nicht's im reinen«, fuhr er fort, »nur habe ich mit Meister Freilich darüber gesprochen, und er will sehen, was sich tun lässt.«
Er schwieg wieder und die Wirtin wusste nicht, ob es ihm angenehm sein würde, wenn sie ihm mit weiteren Fragen käme. So sagte sie nur:
»Da ist es in guten Händen. Man muss einen Menschen haben, mit dem man sich bereden kann. Ich halte mich immer an den kleinen Kantor. Übrigens war er gestern hier. Du hättest ihn wohl auch gerne wieder gesehen?«
»Nun, ich werde ihn in Erwinsrode treffen«, antwortete Pagel. »Ich weiss ihn schon zu finden. Er hat sein Plätzchen abends in der Krone.«
»Was soll er auch anfangen?« bemerkte Frau Hosang. »Mir tun die Männer immer leid, wenn sie im Alter so allein herumsitzen. Nun ja, er ist noch gar nicht so alt, ein guter Fünfziger wohl, eigentlich in den besten Jahren, aber Emmas Tod hat ihn alt gemacht. Sie war eine gute Seele. Ach Gott, wie oft hat sie da auf der Bank gesessen!«
Die Wirtin sah trübselig vor sich hin.
»Ja, was soll er anfangen? Vormittags hat er seine Schule, nachmittags kramt er in den alten Büchern oben auf dem Schloss, und abends, nun, da will er sein Stündchen in der Krone haben, um von all den gelehrten Sachen lozukommen. Früher hat er zu Hause gesessen und Musik gemacht. Aber soll er jetzt den Mäusen was vorflöten?«
Frau Hosang begann die gute Ehe zu schildern, die der kleine Kantor mit Emma geführt hatte. Sie fand gar kein Ende.
»Wie Turteltauben«, sagte sie immer wieder.
Sie selbst hatte auch keinen Grund, sich über ihren seligen Mann zu beklagen, und die Blumen, die sie ihm jedes Jahr eigenhändig auf den Hügel pflanzte, waren noch immer beredte Zeugen ihrer liebevollen Gesinnung. Aber wenn sie auf die Ehe des Kantors zu sprechen kam, hatten ihre Augen einen andächtigen Glanz, als wäre sie dabei, ein Evangelium zu verkünden.
Ach ja, der kleine Kantor. Eigentlich war er gar nicht so klein, aber den Namen hatte er behalten, aus einer Zeit, als er den Kleinen noch das Einmaleins und das Alphabet beibrachte, während der damalige ältere Lehrer die grösseren Schulkinder betreute. Nun hatte schon lange Jahre der kleine Kantor sich mit den Grossen abzuplagen, aber der Name war ihm geblieben.
Pagel freute sich immer, wenn er ihn bei seinen Besuchen in Erwinsrode traf. Nicht, dass er ein besonderes Ohr für die Gespräche des Kantors gehabt hätte, über die verstaubten Bücher und alten Handschriften in den Bodenkammern des Schlosses, über die neue Fibel, die von der Schulbehörde eingeführt werden sollte, oder die Neubearbeitung des Gesangbuches.
Solche Gespräche nahm Pagel hin wie das Murmeln eines Baches, dem auch keine andere vielfarbigere Melodie aufgezwungen werden könnte, an dessen klar spiegelndem Wasser man sich dennoch erfreut, an den blanken Kieseln im Grunde und den sanften Ufern mit den ewigen Moosen und den freundlichen freudvoll wiederkehrenden Blumen.
Wie solch ein Bach in dem Herzen des Wanderers ein inniges Lied anklingen lässt, so war das geruhige Dasein des kleinen Kantors wie ein liebenswerter Klang in Pagels Leben gewirkt worden, vor vielen Jahren, damals, als er sich heimatlos in fremder Heimat fand, herausgerissen aus dem Boden, darein er gepflanzt schien, und abgetan von denen, die ihm am nächsten standen.
Wohl war die Pforte von ihm selbst zugeworfen worden, aber die innere Türe war schon verschlossen gewesen, als die äussere mit hartem Entschluss zufiel.
Zuversichtlich war Pagel damals in das Land in den Bergen gefahren, doch die Hoffnung sollte ihm davonflattern wie ein müder Vogel und das Vertrauen am Wege sterben.
Er war der Mann geworden, der ohne Namen durch die Wälder zog. Ja, diese Berge hatten ihn eingefangen mit ihrem unermesslichen Grün. Mit wallendem Blättergewoge war der Sommer vorübergeblüht, war das Laubmeer über ihn hingerauscht, war er hinabgesunken in die unendliche Stille der Buchengrotten. Aber der Winter, der von den Bergen herniederstieg, seinen weissen Totenmantel von Tal zu Tal ausbreitete und grimmige Eisspeere durch die erstarrten Wälder schleuderte, hatte ihn aufgejagt aus seiner einsamen Vergessenheit und ihn wie ein Waldwesen mit vorsichtiger Scheu sich den Häusern und Menschen wieder nähern lassen.
Damals war Pagel in die Nagelschmiede in Sorgenstein gekommen. Meister Freilich war noch ein jüngerer Mann gewesen, der bei seinem Vater arbeitete. Sie hatten sich in dem Gasthaus zwischen den Chausseen kennengelernt und Hosang, der Wirt, hatte ihnen noch das Bier eingeschenkt.
Ja, so lange ist das schon her.
»Ich werde es dir nun nachmachen, das Heiraten«, hatte damals Hosang zu Freilich gesagt.
Zu jener Zeit gab es noch keine Frau Wirtin in dem Gasthof, aber die drei hatten auf ihr Wohl getrunken, lange durstige Züge, sich den Mund gewischt und die leeren Gläser über den Tisch geschoben.
»Und was ist mit Emma?« hatte Hosang gefragt. Ehe er seine Braut kennenlernte, hatte er selber ein Auge auf Freilichs Schwester geworfen, aber Emmas Mutter hatte beizeiten abgewinkt. Sie würde ihre Tochter nie in eine Gastwirtschaft gegeben haben.
»Flöhe und Jungfern, wer kann wissen, wohin sie springen«, hatte Freilich geantwortet.
Es war in der Woche vor Neujahr gewesen, als Pagel in die Nagelschmiede gekommen war.
»Da bist du!« hatte Freilich ihn begrüsst und dafür gesorgt, dass Pagel gut aufgenommen wurde. Mutter Luise nahm sich seiner mit gutherziger Zutraulichkeit an und der alte Meister Wilhelm liess sich seine Gesellschaft gerne gefallen. Er war ein neugierseliger Mensch mit offenem Ohr und mit flinken Augen. Helene, Freilichs Frau, hatte nur Blicke für ihren Mann, war wohl freundlich zu Pagel, aber sein Kommen und Gehen bedeutete für sie auch in späteren Jahren nichts weiter als den Gang der Jahreszeiten.
Sie wusste, wenn Pagel später mit seinem Planwagen vor dem Hause vorfuhr, dass wieder ein halbes Jahr vergangen war. Immer stand sie mit freundlichem Lächeln dann in der Türe, und als sie ihn einmal nicht auf der Schwelle begrüsste, ahnte Pagel mit Erschrecken, dass ihr Lächeln wohl niemals mehr über seinen Weg fallen würde.
Damals aber, in jener längst vergangenen Neujahrswoche, trug sie ihm das erste Essen auf, während Emma, ihre Schwägerin, sich vor Staunen über den fremden Mann nicht vom Tische rührte.
In dem Verschlag neben der Küche aber hatte eine Gans geschnattert.
»Die ist von Heinrich«, hatte Mutter Luise erklärt, und ihre behäbige Rundlichkeit war für Augenblicke wieder in Aufregung geraten.
Heinrich war der Besitzer eines Ackerhofes vor Erwinsrode gewesen, eine gute Partie für ein junges Mädchen, das gesund und bei Kräften war und sich vor keiner Arbeit scheute.
Am Heiligen Abend war er vor der Nagelschmiede mit seinem Schlitten vorgefahren und hatte die Gans abgeladen, die sich wild gebärdete, aber dann doch sicher von Meister Wilhelm in den Verschlag hineinbugsiert wurde. Es war ein reiches Geschenk gewesen, und Emma war bis über die Ohren rot geworden.
»Das können wir doch gar nicht annehmen, Heinrich«, hatte Mutter Luise gesagt, doch Heinrich war ein nobler Mensch, aus der Brusttasche hatte er noch ein Kuchenherz hervorgeholt und es Emma geschenkt.
Ach ja, dieser Heinrich. Wie lange ist das her? Erde liegt darüber und Rasen. Der Hof ist längst in andere Hände gekommen.
Aber damals schnatterte noch die Gans und am Silvesterabend sollte sie verspeist werden. Da war noch ein Altgeselle gewesen, Karl mit Namen, ein tüchtiger Nagelschmied, nüchtern und sparsam, denn er wollte es zu einem kleinen Eigentum bringen. Zu jener Zeit gab es gut zu tun, überall im Lande wurden Fabriken gebaut. Meister Wilhelm war dem Gesellen gewogen. Er hätte wohl gerne gesehen, wenn Emma in dem Metier geblieben wäre, und Karl gab sich auch Mühe, sein Gesicht zärtlich zu machen, soweit es einem groben Schmied möglich ist.
An jenem Silvestermorgen hatte er durch den jüngsten Blasjungen der Meisterstochter eine grosse Brezel überreichen lassen, die auf einem Nagelblech lag und mit bunten Bändern geschmückt war. Eigentlich waren solche Brezeln erst auf Gründonnerstag fällig, aber Karl ahnte, dass er der Zeit vorausgreifen müsste, um das Glück in seinen Hafen zu lotsen.
Emma hatte sich über das bunte Backwerk gefreut, aber Mutter Luise war wenig einverstanden gewesen mit diesem Geschenk, denn das Schnattern der Gans hatte in ihren Ohren schon den Klang von Hochzeitsglocken bekommen.
Meister Wilhelm jedoch sass schmunzelnd vor seinem Gläschen Nordhäuser, mit dem er jeden Morgen den runden Käse zu würzen pflegte.
An jenem Tage hatte Pagel den kleinen Kantor kennengelernt. Da kam er an, den Kopf etwas vorgeneigt, wie es seine Art war, und die rechte Hand vorsichtig auf der Manteltasche. Es war leicht zu erraten, dass diese Tasche einen Schatz barg, und dann hatte dieser Schatz auch schon auf dem Tisch gelegen, ein Zuckerschwein war es gewesen, das ein Kleeblatt im Maul trug, einen Geldsack um den Hals gebunden hatte und Glück bringen sollte.
»Das ist für Sie, Fräulein Emma«, hatte der kleine Kantor gesagt.
Mutter Luise war aus der Küche hinzugekommen. Ach, sie kam von einer leckeren Gans, die nun kahl gerupft und mit leerem Bauch auf die Bratpfanne wartete, und da stand ein schmächtiges Zuckerschwein, das es an Grösse nicht einmal mit der Brezel des Altgesellen aufnehmen konnte.
Emma aber war rot geworden und stotterte an ihren Dankesworten herum.
Den ganzen Tag versuchte Mutter Luise Emmas Herz zu erforschen, aber Emma war ein stilles Mädchen, rotbackig, und leicht in Verlegenheit zu bringen, und es war nicht einmal zu sagen, ob ihr Herz sich mit irgendwelchen Fragen überhaupt schon beschäftigt hatte.
Am Abend sass sie zufrieden zwischen ihren Eltern, und Karl, dem der bunte Kringel eine grosse Sicherheit verliehen hatte, erzählte von seiner Reise nach Erwinsrode. Ja, er hatte etwas vor. Jeder hat ja seine Pläne und Hoffnungen.
Auch der kleine Kantor war zu den Schmiedsleuten gekommen. Recht still war er gewesen, und da auch Pagel keine geschwätzige Zunge hatte, so sassen die beiden nebeneinander und taten nichts, als Mutter Luise die Stube voll zu rauchen.
Ach, wie lange ist das alles her. Die Jahre sind Rauch, steigen auf und verfliegen.
In jener Silvesternacht war draussen vor dem Hause plötzlich ein gewaltiger Peitschenknall gewesen. Sie waren neugierig an das Fenster getreten und erblickten in dem trüben Licht Heinrich, den Hofbesitzer.
Mit langer Peitschenschnur knallte er vor dem Fenster sein Ständchen. Ja, er verstand sich auf das Buntklappen! Deutlich konnte man den hellen und dunklen,, den kurzen und langen Peitschentönen eine Melodie unterlegen. Es war das vertraute Neujahrslied gewesen: »Das alte Jahr vergangen ist, wir danken dir, Herr Jesus Christ.«
Aber das allein wollte Heinrich nicht verkünden. Seine Peitschenmusik sollte mehr verraten. Wunsch und Willen sollte sie kundtun. Nach einer sausenden Schleife liess er seine Peitsche von der Liebe des lieben Heinrich singen, der heimlich zur Gartentür hereinkommt und die Liebste in die Arme schliesst.
Pagel, der neben Emma stand, hatte gehört, wie sie leise jeden Ton mitsang. Ja, Heinrich schien mit seinem Peitschenklappen die Türe zu Emmas Herzen aufgeschlagen zu haben. In der späteren Stunde sass sie mit bewunderndem Blick diesem Freier gegenüber, der die Peitsche ebensogut zu handhaben verstand wie das Messer, mit dem er den duftenden Braten zerlegte, ohne daran erinnert zu sein, dass dieser arme Vogel vor kurzem noch sein Liebesbote gewesen war.
Der kleine Kantor hatte bescheiden vor seinem Teller gesessen. Es wird ja leider Gottes den Küstern und Kantoren oft nachgesagt, dass sie sich nur in fremden Häusern bei festlicher Gelegenheit sattessen können. Da ihm jedoch daran lag, solchen Verdacht bei Emmas Eltern nicht aufkommen zu lassen, hatte er sich mit einer geringen Portion begnügt. Dem Altgesellen aber war der Appetit ganz und gar vergangen. Er kaute grimmig und mit langen Zähnen.
Wirklich, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass Heinrich den Sieg davontragen würde. Über seinem vollen Teller strich er behaglich die Lobsprüche über das Buntklappen ein, mit denen Meister Wilhelm nicht mehr sparte, denn er hatte sich inzwischen überlegt, dass ein Ackerhof neben einer Nagelschmiede wohl bestehen könnte.
Zwischendurch versuchte Karl, den Hofbesitzer aus dem Sattel zu heben. Er behauptete, dass sein Vater noch einen richtigen Schottischen hätte klappen können. Aber er wurde jämmerlich von Heinrich zurechtgewiesen:
»Das ist gar nichts. Da hättest du mal meinen Vater hören sollen. Der klappte dir das Vaterunser von vorn bis hinten.«
Nein, Karl hatte nichts mehr zu hoffen.
Aber da war der kleine Kantor aufgestanden und in den Flur gegangen. Das Gespräch am Tisch war so laut, dass man die ersten Töne nicht hörte, die da aus dem Hausflur hereindrangen. Dann aber hatte Emma auf einmal gesagt:
»Da pfeift wer.«
Nun horchten sie alle hin, und es wurde deutlich, dass es kein Pfeifen war, sondern ein leises Flötenspiel.
Ja, der kleine Kantor hatte draussen in der Finsternis gestanden und auf seiner alten Flöte das Neujahrslied gespielt, das Heinrich vorhin geklappt hatte: »Das alte Jahr vergangen ist –«
Ach ja, wie lange ist das her.
Manches Lied ist inzwischen zu Ende gesungen.
In jener fernen Silvesternacht war Heinrich nicht der Sieger geblieben. Das Flötenspiel des kleinen Kantors ist so süss gewesen, dass es das Mädchen fortlockte von der Schwelle, hinein in den dunklen Gang. An der Treppe hatte sie neben dem flötenden Kantor gestanden, so dicht, als fürchtete sie, dass ein Ton unerhört davonflüchten könnte.
Aus der Einfalt ihres Herzens hatte sie sich entschieden.
Mutter Luise war schnell mit dieser Entscheidung einverstanden geworden. Schliesslich war ein Kantor nicht zu verachten. Er hatte sein festes Einkommen und später seine Versorgung. Aber dem alten Meister Wilhelm hatte der gelehrte Mann zuerst gar nicht gepasst. Jedenfalls war er an dem Silvesterabend recht knurrig gewesen, doch da er es nicht fertig bekam, unmutig dabeizusitzen und nichts zu sagen, so hatte er sich Pagels angenommen, und mit seinem Sohne, zu dritt, waren sie in Überlegungen gekommen, wie der neue Freund sich eine sichere Existenz unter den fremden Menschen schaffen könnte.
Da ist zum ersten Male die Idee mit dem Planwagen aufgetaucht.
Jene Neujahrsnacht war für Pagel ein neuer Anfang geworden.
Viele Wege sind inzwischen befahren.
Nun liegt Erde darüber und Rasen. Viele Male schon haben inzwischen die Täler geblüht, sind die Waldbäume bunt geworden, hat der Schnee die Wege erfüllt.
Lange ist das her.
Nun sitzt Pagel in dem Gasthofe zwischen den Chausseen. Er hört den Erzählungen der Witwe Hosang zu, hat sich zurückgelehnt und raucht aus seiner kurzen Holzpfeife. Er hat die Augen halb geschlossen.
Die toten Menschen waren emporgestiegen und standen unaufdringlich da.
»Ja, sie lebten gut miteinander«, sagte Frau Hosang.
Sie war noch immer bei Emma und dem kleinen Kantor. Sie verstummte plötzlich, weil ihr einfiel, dass dem Mann, der ihr gegenübersass, vielleicht noch nie die Segnungen der Ehe zuteil geworden wären. Sie wusste nichts von seinem früheren Leben, Pagel war kein Mensch, den man mit Fragerei bedrängen konnte.
Sie streifte ihn mit einem mitleidigen Blick, schob ihre rundlichen Hände ihm etwas näher und sagte ohne Übergang:
»Oft ist der Abend das Schönste vom Tage.«
Pagel hatte die Tabakspfeife ausgeklopft, vorbeigefallene Asche vom Tisch gestrichen und stand nun auf.
»Dann werde ich fahren«, sagte er und begann, sich für die Fahrt zu rüsten.
Frau Hosang wollte den Gast gerne noch ein Weilchen zurückhalten. Es hatte sich so gut geschwatzt in dieser Vormittagsstunde. Sie erkundigte sich also nach Muster und Güte der Waren, die Pagel in seinem Wagen mit sich führte, liess sich von ihm Tischdecken vorlegen, die sie für ihre Gastwirtschaft zu benötigen schien, und verhandelte mit ihm wegen des Preises.
Während dieses Geschäftes kam Riekchen aufgeregt in die Gaststube gelaufen und verlangte hastig ein kleines Geldstück.
»Man kann sie nicht wegjagen. Sie hexen einem was an«, flüsterte sie ängstlich.
Sie war erschrocken, als sie das Zigeunermädchen schon in der Wirtstüre stehen sah, lief ihr abwehrend entgegen und streckte das Geld hin.
Tante Riekchen war ein vertrauensvoller Mensch. Vor dem lieben Gott hatte sie keine Angst. Sie glaubte, dass er ein Auge zudrücken würde, wenn sie sonntags einmal die Kirche schwänzte. Die Zigeuner jedoch flössten ihr eine unbeschreibliche Furcht ein, und sie würde sich zu Tode geängstigt haben, wenn man in ihr die Vorstellung geweckt hätte, dass statt des lieben Gottes ein alter Zigeuner im Himmel thronen könnte. Dann hätte sie wohl keinen Sonntag die Kirche ausgelassen.
Riekchen hielt die Hände krampfhaft auf dem Rücken. Sie wollte sich nicht die Zukunft aus den Handlinien deuten lassen. Wahrsagerei war für sie eine gefährliche Wissenschaft.
Sie stand vor der jungen Zigeunerin und schüttelte in einemfort den Kopf, als könnte sie damit deren dunkle Andeutungen auseinander sprengen.
Schliesslich blieb ihr doch nicht's weiter übrig, als mit einem handlichen Riegel von Speck das Tor ihrer Zukunft geschlossen zu halten.
Die Zigeunerin trollte mit vielen Dankesworten davon. Sie behauptete, dass sie Tzigane hiesse, aber die Leute konnten mit diesem Namen nichts anfangen und nannten sie Schikane.
Da stand nun Schikane auf der Landstrasse, wickelte den Speck in ihr Tuch und tat das Geld in die Tasche ihres weiten Rockes.
Tante Riekchen verfolgte von der Hoftüre aus jede ihrer Bewegungen. Sie wartete, bis Schikane zwischen den ersten Bäumen des Waldes, in den die Landstrasse einbog, verschwunden war.
Riekchen war in dem Land in den Bergen geboren, dicht an einem Walde sogar, denn ihr Vater hatte sich als Waldhüter sein bescheidenes Auskommen verdient. Es gab für sie nichts Schöneres als einen kleinen Spaziergang durch die Tannen, wobei man Kienäpfel aufsammelte, deren würzige Glut später in dem Herdfeuer prasselte. Ja, sie liebte den Wald, aber es war doch schrecklich, was alles in seinen Tiefen sich verbarg.
Zwar trug das Verborgene keine greulichen Masken mehr, die grossen Räuber waren ausgestorben, doch gab es noch vieles, das ein abseitiges Leben führte und seine eigene Ewigkeit zu haben schien.
Weit und klar ist die See, hell und durchsichtig das Land dahinter, aber der Wald ist ein verhüllender Abend, und über die Lagerstätten, die er bereit hält, huschen leichtlich die Geschöpfe der Nacht.
Pagel war gegen Mittag mit seinem Planwagen aufgebrochen.
Frau Hosang hatte im Hoftore gestanden, das geduldige Pferd noch einmal gestreichelt und sah nun seufzend dem verschwindenden Wagen nach.
Auch Riekchen war auf die Strasse getreten, und die Gebärden der beiden Frauen verrieten, dass sie den Abfahrenden schweren Herzens nur aus ihrer fürsorglichen Obhut entliessen.
»Er sollte sich endlich wo niederlassen«, sagte die Wirtin ärgerlich. »Immer bloss auf dem Wagen –«
»Dabei treibt sich soviel Gesindel draussen herum«, seufzte Riekchen. »Schikane war auch wieder hier.«
Sie verriet nicht, dass sie dem Zigeunermädchen ein Stück Speck geopfert hatte. Frau Hosang nahm es genau mit Küche und Keller.
Auf Riekchen hatte der Besuch der Zigeunerin immer noch seine Nachwirkungen. Manchmal dauerte es den ganzen Tag, bis sie nach solchen Begegnungen wieder in das Gleichgewicht kam.
Auch die spasshafte Freude, die sie oft bei der Zubereitung des Suppengrüns empfand, war ihr heute vergällt. Wenn sie sonst Rüben und Knollen, welche die Suppe schmackhaft machen sollten, putzte und zerschnitt, tummelten sich ihre Gedanken in freundlichen Vorstellungen: die dünnen Scheiben der Mohrrüben, in die Sonne gehalten, zeigten gelbe, wundervoll haargenaue Sterne. Auch in der schmal geschnittenen Petersilienwurzel war ähnlich ein solch zierliches Geäder zu entdecken. Der dicke Sellerie dagegen hatte hundert schnurrige Wurzelfüsse, und in den maigrünen Blättern des Porree lag fein ineinandergefaltet eine ganze Wiese voll Ruch und Sattigkeit; und gar erst die Zwiebel, die unter vielen Mänteln ihr Herz versteckt hielt, konnte Riekchen zur Rührung bringen.
Heute gingen beide Frauen den häuslichen Verrichtungen gedankenvoll nach, ein wenig aufgestört und besorgt, als begänne plötzlich aus heiterem Himmel ein leichter Nebel zu fallen.
Inzwischen fuhr Pagel gemächlich des Weges.
Er war an den Tannen vorüber, die nun hinter ihm den Berghang emporklommen, hatte das Stück Wiesenland passiert, auf dem neugierig die wenigen Kühe von Sorgenstein lagerten, und gelangte nun in einen lichteren Wald.
Hinter hellgrauen Buchenstämmen schien eine silberne Landschaft verschwenderisch sich aufzutun. Die Strasse gestattete hier einen Durchblick in das abfallende Land. Über die Felder der Ebene hinweg, über vereinzelte rote Dorfflecken, sah man in der Ferne zusammengedrängt wie zwei aufgereckte Steine die Domtürme der Stadt.
Dann begann der Wald sich dichter an den Weg heranzuschieben, wurde enger und vielfältiger und liess den Blick nicht mehr in eine grössere Weite entgleiten.
Der Schlag der Holzfäller war nun vernehmbar, und nackte glatte Baumkörper lagen aneinandergereiht den waldigen Hang hinauf. Abseits vom Wege, doch über aufgestapeltes Holz sichtbar, stand eine Hütte, die den Holzknechten als Unterkunft diente.
Aus dieser Richtung hörte Pagel laute Stimmen.
Sie werden sich in die Haare geraten sein, dachte er gleichgültig.
Doch auf einmal lief ihm schreiend Tzigane in den Weg. Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf das Pferd zu, so dass das Tier mit einem Ruck erschrocken stand.
»Bester Herr«, wehklagte das Mädchen. Dabei wies sie aufgeregt nach dem Stimmengewirr.
»Was ist?« fragte Pagel unmutig. Er war kein Freund dieser umherstreifenden Gestalten. Es war auch anzunehmen, dass die Holzfäller sich dieses Mädchens wegen an die Köpfe gingen.
»Sei ruhig«, sagte Pagel leichthin, »sie dürfen dir nichts tun.«
Tzigane aber hob die Hände und jammerte: »Der Herr!«
Pagel stutzte bei diesem Wort, horchte einen Augenblick in die lauter werdenden Stimmen, fürchtete dann wohl ein Unrecht und stieg vom Wagen. Er folgte dem Mädchen den kurzen Waldsteig empor und sah nun vor der Hütte ein Handgemenge.
Ein paar Holzfäller bedrängten einen Mann, der gegen die Hüttenwand gelehnt mit der Rechten die Angreifer sich vom Leib zu halten suchte, während er mit dem linken Arm das Gesicht schützte, das unter einem grossen Schlapphut halb verborgen war.
Pagel ging entschlossen auf die Männer zu.
»Er hat uns das Vesperbrot gestohlen, Nachbar«, erklärte einer der Holzfäller.
Durch Pagels Dazwischenkommen zerbröckelte die Rauferei und der Angegriffene liess jetzt den Arm sinken.
Pagel sah ihm ins Gesicht. Es war gross, rund und mit lebhaften Äuglein über einer knubbligen Nase. Das alles war von einem wirren Bart umrahmt, dessen fahles Gehaar wie trockene Baumfasern morsch über den Kragen hing.
Pagel starrte in dieses Gesicht.
Dann trat Tzigane vor und mit ihrem bunten zerfransten Tuch wischte sie dem Geschlagenen die erregte Stirne.
Für Augenblicke war das Gesicht verhüllt, doch in Pagels Gedanken stand es unverdeckt, rücksichtslos und überwältigend.
Es ging eine Erschütterung durch ihn, und während er sich abwandte, sagte er zu den Leuten:
»Lasst den Mann laufen, ich kenne ihn.«
Die Holzfäller murrten und wollten sich nicht beruhigen.
»Man sollte ihm das Fell vergerben. – Er hat uns das Brot weggefressen.«
Sie machten Miene, sich wieder auf den Mann zu stürzen. Aber jetzt stand Tzigane vor ihm und es hatte den Anschein, als wäre sie bereit, alle Schläge zu empfangen, die ihm zugedacht waren.
Die Holzfäller waren drauf und dran, nicht viel Umstände mit dem Zigeunermädchen zu machen, zuckten aber doch zurück, als Pagel nun von neuem sich einmischte.
»Ihr könnt von meinem Vorrat haben«, sagte er, »kommt mit.«
Es war wohl wirklich nur der Hunger, der sie so wütend gemacht hatte. Die Aussicht auf Essen stimmte sie milde. Gemeinsam gingen sie zum Wagen. Aus der Kiste unter dem Bock holte Pagel Brot und Wurst hervor und gab das den Männern. Sie entdeckten eine Flasche und liessen sie reihum gehen. Sie wurden zugänglich und fanden sogar ein Wort der Entschuldigung für den Landstreicher.
»Nun ja, wenn einem der Magen knurrt«, sagten sie, lachten über den Zwischenfall und gingen davon wieder an ihre Arbeit.
Pagel sah jetzt den Mann, der dieses Durcheinander heraufbeschworen hatte, sorglos auf sich zukommen.
Tzigane war verschwunden.
Der Mann zog den Hut:
»Eine verteufelte Geschichte! Durchaus nicht ungefährlich. In den Abruzzen ist es mir grad so ergangen, aber ich konnte die Kerle damals mit dem Revolver in Schach halten. Er war mit Edelsteinen besetzt und ein General hat ihn mir später abgekauft.«
Er machte sich daran, auf den Wagen zu steigen.
»Eine günstige Gelegenheit, die man nicht unbenutzt vorüber lassen soll«, lachte er schallend. Den peinlichen Vorfall hatte er wohl schon vergessen.
Er sass bereits auf dem Bock, schlug ein Bein über das andere, faltete sorgfältig den Mantel darüber und wartete, dass Pagel das Pferd antrieb.
»Eine vortreffliche Einrichtung, solch Wagen«, rief der Mann. »Eine Wanderschaukel! Eine Herrgottswiege! Ich weiss das zu schätzen. Ich habe die ganze Welt bereist. Jetzt will ich nach Juliusbad, meiner Jugendfreundin die Hand drücken. Oh, sie ist reich, sie hat Millionen! Glauben Sie nicht, mein Herr, dass ich ein Wegelagerer bin, ein Dieb oder ein Anstreicher. O nein, mein Name ist Stiwenhack!«
Wie einen Fanfarenstoss schmetterte er diesen Namen hinaus. Wie ein Füllhorn sollte er sich auftun, mit Glanz und Pracht, mit Verheissung und Flitter den anderen überschütten. Stiwenhack. Jawohl, Stiwenhack, der Maler!
Er hatte mit griechischen Mönchen gezecht, Pan selber hatte ihm sein Lied gesungen. Ein leichtes war es ihm, eine schimmernde Welt aufzubauen. Aber lausige Holzfäller hatten ihm um eine trockene Stulle den Schädel einschlagen wollen! Was ist das für ein Schicksal!
»Jawohl. Sie hat Millionen«, posaunte Stiwenhack. »Eine wundervolle Frau, eine Künstlerin von Gottes Gnaden, eine Kaiserin! Welch Name schon: Emita!«
Er nahm den Hut ab und legte ihn auf das Knie. Das Haar hing ihm in weissen wilden Strähnen in die Stirn.
»Emita«, sagte er und breitete die Hand aus. »Sie haben mir das Leben gerettet, mein Herr. Meine Freundin wir sich freuen, Ihnen zu danken. Jawohl, lassen Sie uns nach Juliusbad fahren.«
Er wartete keine Antwort ab.
»Nach Juliusbad«, rief er begeistert. »Ich muss sie wiedersehen. Wann habe ich ihr zuletzt die Hand geküsst? Warten Sie, mein Herr, das war –. Wie vergeht doch die Zeit. Zehn Jahr, zwanzig Jahr.«
Stiwenhack ist bezwungen, dass es soviele Jahre sind.
»Wo war ich in den Jahren?« fragt er sich.
Er vergisst, dass ein anderer noch neben dem Wagen steht. Er ist nicht mehr der Laute, Schwatzhafte. Er hat die Hand zurückgenommen, streicht über den schäbigen Hut und faltet die Hände.
»Zwanzig Jahre«, sagt er, »oder noch länger. Ja, wo bin ich gewesen?«
Hingetrieben durch Tag und Tag, hier und dort ohne Ziel. Dieser Weg, jener Weg, Staub und Schmutz. Ach ja, die Füsse schwer hin über Steine, das Haupt umfangen von buntem Nebel, der davon flog, wenn man die Wange an ihn lehnen wollte, um zu schlafen.
Alle diese Jahre durchstreift Stiwenhack. Wie ein irrer Schmetterling taumelt er um das Licht, das er eben selbst entzündete.
»Ja, sie hat Millionen«, flüstert er.
Er beugt sich vom Wagen und will es Pagel ins Ohr sagen. »Millionen. Ich habe sie kennengelernt in Thorde. Sie sind ein Waldmensch, lieber Herr. Ach, wenn Sie das Meer kennten! Ich habe es kennengelernt. Ich war in Thorde. Eine Stadt, sage ich Ihnen, eine Stadt am Meer. Da bin ich ihr begegnet. Ihre Tochter war dort mit einem Kapitän verheiratet. Er besass ein Schiff, ein wundervolles grosses Schiff. Ja, einen weissen Dampfer. Er ist bei Kap Hoorn versunken. Entschuldigen Sie, mein Herr, wenn ich Sie damit langweile. Manchmal aber überfällt einen die Erinnerung. Ja, ganz plötzlich kommt sie auf einen losgesprungen.«
Stiwenhack drückte den Hut wieder aufs Haar. Er hatte ihn weit im Nacken. Den Kopf hochgereckt sass er eine Weile schweigend. Seine Augen schwelgten. Er hatte seine Gedanken zurückgeschickt in das glanzvollste Jahr seines Lebens. Schweigend sass er eine Weile. Dann sagte er zu Pagel:
»Sie hätten sie sehen müssen. Ein Bild, eine Schönheit. Wir sassen auf der Terrasse am Meer. Ich werde dich malen, Melitta, sagte ich.«
Stiwenhack unterbrach sich. Es fiel ihm auf, dass der andere noch keine Anstalten machte, auf den Wagen zu steigen.
Der Himmel hatte sich inzwischen bewölkt, und der Regenschauer, den Frau Hosang am Vormittag schon prophezeit hatte, schien heranzuziehen.
»Der Himmel will seine Schleusen öffnen«, drängte Stiwenhack, und als Pagel noch immer zögerte, versicherte er verwundert, dass von seiner Person doch nichts Böses zu fürchten wäre.
Er stutzte:
»Sie werden doch nicht etwa glauben, mein Herr – –!« und schabte an einem Fleck auf dem Ärmel.
Pagel stieg auf den Wagen. Er sagte nichts.
Stiwenhack legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Sie haben mir das Leben gerettet. Die Mordbuben wären zu allem fähig gewesen. Ich stehe in Ihrer Schuld. Ich will Sie königlich belohnen.«
Er brachte seinen Mund dicht an Pagels Ohr:
»Mein Herr, nicht dieser Frau allein wegen bin ich gekommen. Es ist etwas anderes, was mich herlockt. Vielleicht sind die hundert Jahre um. Ich weiss einen Schatz, der von einem schwarzen Hund bewacht wird. Jawohl, diesen Schatz will ich heben. Ich habe schon einmal an seiner Schwelle gestanden, aber es war noch nicht die Zeit.«
Die letzten Worte wiederholte er noch einmal, denn das Rumpeln des Planwagens über die holprige, mit Steinen aufgeschüttete Waldstrasse verschlang vieles von seiner Rede.
Stiwenhack sah missmutig drein, verstimmt, dass seine Worte so wenig Widerhall bei seinem Begleiter zu finden schienen. Auch konnte er sich nun, wo er mühelos weiterbefördert wurde, einer Schläfrigkeit nicht erwehren. Strapazen und Entbehrungen machten sich fühlbar.
Das Brot, das er den Holzfällern fortgegessen hatte, war seit dem Morgen zuvor der erste Imbiss gewesen. Noch eben überschäumend von grossen Worten, sank er nun langsam auf dem Sitz in sich zusammen. Der Kopf fiel ihm auf die Brust und seine starken Atemzüge verrieten, dass er schlief.
Es begann zu regnen, mählich zunächst und in zählbaren Tropfen, dann rascher und dichter stürzte schliesslich ein voller Regen hernieder, der heftig gegen den Wagen schlug und nur widerwillig dem Gefährt eine Gasse gestattete.
Pagel zog den Plan vor dem Sitz zusammen, und so geschützt fuhren sie schweigend dahin.
Starr und ohne Bewegung hielt Pagel die Zügel, nur wenn der Weg anstieg, liess er die Leine mit leichtem Schlag auf den Rücken des Pferdes klopfen. Er schenkte dem Mann, der neben ihm sass, keine Beachtung. Dieser Mensch, aus einem vergangenen Leben plötzlich an seine Seite gespült, war ihm so unfassbar aufgetaucht wie die Gestalt eines schreckhaften Traumes. Während diese bei geringer Bewegung eilends aber in graue Leere zerrinnt, schien dieser Alp in der Nähe des Menschen ein grosses Wohlbehagen zu empfinden, geruhigen Schlaf und sattes Gewissen zu haben. Nein, das war kein Traum, der sich abschütteln liess.
Er sank gegen Pagels Schulter, lehnte den schlafenden Kopf vertraulich an, wurde breiter und schwerer, ja, er wuchs.
Wie die Haulemutter wuchs er, wie diese knöchrige Alte, die man aus Barmherzigkeit vom Wege aufliest, sie mitnimmt an seinen Tisch und ihr Essen gewährt und Obdach, dann aber entsetzensvoll sieht, wie sie mit jedem Bissen wächst und wächst, die gierigen Hände ausstreckt nach dem letzten Stück Brot, grösser wird als der Ofen, bis ihr Haupt die Decke zerstösst und sie hohnlachend zum Dache hinausfährt.
Pagel bekam es nicht über sich, den Mann anzurühren und auf seinen Platz zurückzulehnen. Nicht diese Last drückte ihn, ein anderes war es, was sein Herz abschnürte.
Das Versunkene wirft die dünne Schicht ab, worunter man es für alle Zeit begraben hielt. Aus der Welt der Erscheinung, darin man es weit zurückgeworfen glaubte, tritt es in die Welt der Vorstellung. In jeden Gedanken zwängt es sich hinein, bis in das äusserste wird man erregt davon, machtlos hingegeben, ohne andere Gegenwehr als eine scheinbare Erstarrung, die aber unter dem ersten tastenden Erinnern zerschmilzt und ohne Hilfe sich in Tränen aufzulösen begehrt. Keine Gründe gelten mehr, alles klagt an.
Der Wald, dessen grüne Dämmerung sich oft lindernd über das Leben bog, ist plötzlich zerrissen, und aus seiner bangen, unsäglich schmerzhaften Wunde steigt in hartem Nebel ein verlassenes Gebilde, entrückt, aber doch nahe, die graue See, der eintönige Strand, der tote Leuchtturm und die Häuser um ihn, unergründlich, wer sein Leben nun darin hat.
Durch solche Schatten fährt jetzt der Wagen. Durch Regen und Schatten fährt er, dunkles holperndes Rollen der Räder.
Ja, der Wald ist aufgespalten, aus tiefer Mulde blinkt der bleierne Spiegel des Wassers. Nicht die weite strahlende See, die auch in dunklen Stunden perlend die Weisse ihrer Wellen empor treibt, ein stumpfer trüber Teich ist es, der sein bewegungsloses Wasser in dumpfem Banne zurückhält.
Oft um Mitternacht zieht äsend ein Reh mit seinem Kalb um dieses Gewässer. Einmal hatte sich ein Wilddieb aus Sorgenstein aufgemacht, um im Schutze der Nacht zu verbotenem Schuss zu kommen. In seiner Jagdgier schonte er das Rehkalb nicht, das plötzlich mit mildem Ausdruck vor ihm stand. Er schoss das Tier, nahm es über die Schulter und schickte sich zum Heimgang an. Er hatte den Teich zur Linken, doch als er jetzt den Blick dahin wandte, war dieser Teich verschwunden und an seiner Stelle erhob sich ein Gotteshaus.
Der Wilddieb war kein ängstlicher Mensch. Viele Male schon hatte er sein Leben aufs Spiel gesetzt und, gewöhnt an der Schwelle des Todes zu schreiten, nahm er keinen Anstoss, dem Zauberwerk dieser Nacht auf den Grund zu gehen.
Er betrat den Kirchenraum und schritt durch morsche Bankreihen, auf denen sich Andächtige drängten, deren jahrhundertalte Gesichter Tod und Verwitterung offenbarten. Die Kerzen im Räume verstrahlten einen blauen Lichtschein und auch aus der Orgel brausten statt ehrwürdiger Himmelsklänge bald breit hinflammend, bald grell aufzuckend bläuliche Blitze.
Einer der Verzauberten erhob sich und wies den Wilddieb schweigend hinaus, aber von unsäglicher Neugierde gepackt, weigerte sich der Mann. Auch die warnende Hand eines Zweiten beachtete er nicht, vielmehr er bog sich hernieder und sah in eines der aufgeschlagenen Gesangbücher. Es war eine fremde Schrift, die er nicht entziffern konnte. Während sich seine Augen mit dieser Fremdartigkeit noch abmühten, betrat der Prediger die Kanzel. Fahler und vergangener als seine Gemeinde stand er hinter dem Heiligen Buch. Keine Worte formten seine Lippen, die sich qualvoll bewegten, sondern blaue Flammen kamen ihm aus dem Munde. Dazu bewegte er die Hände, deren Schatten in der Vielfalt des blauen Lichtes über alle Masse an das graue Gemäuer geworfen wurden.
Diese Schatten schienen auf den Wilddieb eindringen, ihn packen und erwürgen zu wollen.
In grauenvollem Entsetzen floh der Eindringling, doch schlug die schwere Türe so hart hinter ihm zu, dass ihm die Fersen zerschmettert wurden. Mühselig schleppte er sich nach Hause, sank krank aufs Bett und starb am neunten Tage. Das Rehkalb aber war verschwunden.
Düsteren Zauber sagt man dem Teich nach.
Pagel wendet den Kopf. Unwirklich Gewordenes gewinnt wieder Gestalt:
Er steigt die Stufen zu einem Hause empor. Es ist ein heiteres Haus mit Türmchen und Erkern und mit einem Balkon, dessen Rand mit Blumen geschmückt ist.
Pagel liest das Türschild, zögert einen Augenblick und läutet um Einlass.
Eine Frau öffnet, verwundert, ihn vor der Türe zu sehen. Es ist keine gutmütige Verwunderung, ihr Mund hat sich zusammengezogen und in ihren Augen liegt ein missmutiges Überlegen.
Er hält ihr die Hand hin.
Sie stösst eine Türe auf und beide befinden sich in der Küche neben dem Flur.
»Ich soll von Melitta grüssen«, sagt Pagel befangen. »Auch Dole.«
»Schon gut«, unterbricht ihn Emita. »Warum kommst du so unangemeldet? Ich kann dich nicht hereinbitten. Der Millionär hat Besuch.«
Emita ist ganz unbeherrscht in ihrer Verlegenheit.
Pagel begreift das nicht. Er sagt:
»Du hast doch geschrieben.«
»Der Brief, ach so, ja«, fällt Emita hastig ein, »ich schrieb doch, dass wir im Sommer kommen.«
Pagel weiss nichts darauf zu antworten. Er dreht den Hut wortlos in den Händen.
»So, es geht euch also schlecht«, mutmasst Emita. »Ich muss auch sagen, dass ich gedacht hatte, du würdest schneller Kapitän. Die gute Melitta, nun hat sie ein Restaurant.«
Emita spricht halblaut und hastig, als könnte es jemand hören.
»Heute geht es wirklich nicht«, drängt sie. »Morgen, komm morgen wieder. Du bleibst doch noch in Juliusbad?«
Sie macht eine Pause. Sie nimmt das Taschentuch und tupft den Mund.
»Ja, komm morgen wieder«, sagt sie freundlicher. »»Wir können dann über alles reden. Der Millionär fährt morgen in die Stadt.«
Sie erschrickt.
Im oberen Flur wird eine Türe geöffnet und eine grelle ungeduldige Männerstimme ruft durch das Haus:
»Wer ist da?«
»Geh«, bittet Emita. »Ich kann dich jetzt wirklich nicht sprechen. Bitte geh doch.«
Sie seufzt.
Sie schliesst hinter Pagel schnell die Haustüre.
Verständnislos steht er auf der Stufe. Er hört, wie Emita in ihrer Aufregung allzu laut hinaufruft:
»Ein Bettler! Ich habe ihn schon fortgeschickt.«
Jeden Gedanken ausgelöscht geht Pagel davon.
Ach, er weiss nicht, warum Emita ihn fortschicken musste, warum sie dastand in grenzenloser Verwirrung und Worte wählte, die sie im nächsten Augenblick schon bedauerte. Aber wie aus dem Boden hervorgezaubert hatte Pagel vor ihr gestanden. Unvorbereitet war sie auf sein Kommen gewesen. Wie sollte sie ihn jenem Millionär vor Augen bringen, dem sie erzählt hatte, dass der Gatte ihrer Tochter ein grosser Kapitän wäre, dessen Uniform allein schon Aufsehen erregte, geschweige denn die hohe sehnige Gestalt dieses gebräunten Seemanns. Statt dessen stand Pagel da, ungeschickt in seinem guten Anzug; kein prunkvoller Kapitän, der die Schätze fremder Länder mit vollen Händen ausbreitete, sondern ein bescheidener Seefahrer, dem sie ihre Tochter einmal mit vielen Hoffnungen gegeben hatte, der zwar ein achtbares Leben aufbaute, aber nicht die pompösen Träume Emitas zu verwirklichen vermochte.
Im Gegenteil, es hatte den Anschein, als ob er Geld von ihr haben wollte für das Logierhaus am Strand von Thorde, wo ihre Tochter nun als Wirtin sitzen musste.
Ja, Pagel war wohl gekommen, um die Millionen zu holen. Aber in Emitas Hause gab es keinen Millionär mehr. Dem Manne, der sie mit seinen Launen und seiner Verdriesslichkeit quälte, waren die Millionen längst durch die Finger gelaufen. Von einem kümmerlichen Rest zehrte er noch und Emita haderte, dass er den Weg zu ihr spät erst zurückgefunden hatte, als in der Welt, die ihm einmal alle Tore geöffnet hielt, er nichts weiter mehr begehrte als eine letzte warme Stube.
Keine Zeile hatte Pagel vorher geschrieben. Auf einmal stand er da.
Was kann Emita dafür, dass sie ihm die Türe weisen musste?
Sie ist eine Frau, die fühlt, dass sie alt wird, deren Lebensabend gar nicht sicher steht. Sie hat ihre Jahre vertanzt und versungen, und nun, wo sie nicht weiss, wie es mit dem armen Millionär einmal ausgehen wird, hatte sie wohl geglaubt, in Thorde einen Hafen zu finden. Jetzt aber musste sie die Ahnung haben, um dieses Letzte noch betrogen zu sein.
Emita ist kein rücksichtsvoller Mensch, denn das Leben ist mit ihr auch nicht zart und behutsam umgegangen. In der Erregung kann sie ihre Worte nicht abwägen. Alle Verwirrung und Verlegenheit, in der sie sich plötzlich befindet, presst sie zusammen in den harten Ruf: »Ein Bettler! Ich habe ihn davongeschickt.«
Auf einer Bank vor dem Schloss von Juliusbad fand Pagel sich wieder. Da sass er und schrieb wenige Zeilen an Melitta:
»Es geht auch ohne mich. Du hast das Logierhaus. Ich fahre wieder auf See.«
Das war das Letzte gewesen.
Nicht die See hatte sein späteres Leben bestimmt. Die Wälder in dem Land in den Bergen liessen ihn nicht wieder fort.
Durch Schatten fährt der Wagen, durch Regen und Schatten, dunkles holperndes Rollen der Räder. –
Der schlafende Mann an Pagels Schulter bewegt sich ungeschickt, wird langsam munter und reckt sich gähnend.
Hinter dem letzten Waldstück werden Häuser sichtbar, trübe und unwirtlich in dem grauen Wetter.
Stiwenhack reibt sich die Augen.
»Das ist Juliusbad?« fragt er enttäuscht.
»Es ist Erwinsrode«, antwortet Pagel.
Das ist das erste, was er spricht.
Das Leben ist ein Buch, in fremder Schrift geschrieben. Wer vermag alles zu entziffern.
Immer hatte Erwinsrode den Nachbar heimatlich aufgenommen. An diesem Tage nun wollte es ihn mit Regen empfangen, aber als der Planwagen in die erste Strasse einbog, liess das Wetter nach, der Himmel klärte sich, und sanftere Wolken boten einen gefälligen Abend.
Langgestreckt lag das Städtchen im Tal der wilden Hanne, eingeengt durch waldige Berge, zu denen bis auf halber Höhe winklige Treppen emporführten. Diese Stufen mündeten in einen bequemen Steig, der einen angenehmen Rundgang um die Stadt ermöglichte. Dem Schloss gegenüber, das sich auf der mittleren Bergkuppe erhob und mit seinen starken Türmen den Eingang in das Tal sicherte, verbreiterte dieser Steig sich zu einem Platz, von dem aus der Verweilende einen unbehinderten Blick auf das Städtchen zu seinen Füssen geniessen konnte.
Hier auf einer Bank sass der Trompeter Jakob Rauchmaul in trübseligen Überlegungen, die Beine weit ausgestreckt, dass die Stiefelspitzen neugierig über den grünen Abgrund schwebten, und die Hände nachdenklich über der Trompete gefaltet.
Er war guter Laune nach Erwinsrode gewandert, bereit, Alinen lächelnd entgegenzutreten, schalkhaft mit dem Finger zu drohen und der Überraschten klarzumachen, dass er hinter ihr Geheimnis gekommen wäre.
Du willst mich nicht bei dir haben, liebe Schwester, hatte er sagen wollen. Nun gut, ich nehme es dir nicht übel. Weiss ich doch, dass du damit umgehst, die eingewickelten fünf Talerstücke für ein Paar Brautschuhe anzulegen. Ja ja, wenn die Gedanken eines verliebten Frauenzimmers auch einen leisen Gang haben, ein fixer Trompeter hört die leiseste Note.
Kurz und gut, liebe Aline, wollte er sagen. Du willst mich nicht hier haben, weil der reiche Herr Fabrikant einstweilen nichts von dem Hungerleider wissen soll, aber das ist recht ungeschickt, denn nach der Hochzeit bieten Verwandte einen noch saureren Anblick, und ich denke doch, dass du mich nicht etwa zeit deines Lebens verleugnen willst.
Überdies, liebe Aline, das hatte Rauchmaul sich ausgedacht, ist der Musikant noch immer der geriebenste Sendbote in Liebessachen gewesen, indem die edle Musika jegliches Herze zu schmelzen bringt, wobei der Trompete die grösste Kraft innewohnt, denn sie weiss bei Abendsegen und bei Kriegssignal gleichermassen sich zu bewähren.
Also, liebste Schwester –, und das sollte der Schluss der Ansprache sein, bediene dich der Künste deines Bruders Jakob!
Aber zu dieser Rede war Rauchmaul gar nicht gekommen.
Als er vorsichtig um das Eckhaus in den reichen Winkel biegen wollte, hatte Aline ihn schon bemerkt und dem freundlichen Gesicht über dem Damm das Fenster vor der Nase zugeworfen. Gleichzeitig hörte Jakob, wie der Schlüssel in der Türe mit vieler Kraft umgedreht wurde, dass der Trompeter nicht einmal den Mut fand, auch nur einen Finger auf die Klinke zu legen.
Niedergeschlagen war er davongegangen, beschämt, weil eine Nachbarin sich ausschütten wollte vor Lachen, und verdriesslich, dass ein paar Kinder ihm nachliefen und auf ihren Fäusten trompeteten. Es bestand kein Zweifel, dass er als ausgeblasener Trompeter den reichen Winkel nicht eher wieder betreten durfte, als bis Aline ihr Unrecht gutgemacht hatte. Vorläufig aber schien es, als wäre sie auf eine Versöhnung nicht erpicht und es ihr gleichgültig, wo ihr Bruder Jakob seine müden Beine ausruhen könnte.
Er war mit mancher Anstrengung die Gassentreppe hinter Alines Haus emporgeklettert, hatte während des Regens in dem hölzernen Laubengang gestanden, der an dem kleinen Pfarrgarten vorbei zur Kirche führte, und sass nun, nachdem der Regen verrauscht war, grübelnd auf der Bank über der Stadt. Zuweilen hielt er in seinen Gedanken inne, wenn er von seinem Ausguck dieses oder jenes in den Gassen unten beobachten konnte: das armselige Gefährt des Lumpenhändlers, der mit schrillem Pfeifen die Leute auf sich aufmerksam machte, die heimkehrenden Kühe, deren Glocken weich und dunkel durch die Gassen läuteten, oder den Karren des Gemüsemanns, mit einem Ziegenbock bespannt, und von einer hinkenden Frau geschoben.
Auf einmal stutzte der Trompeter, denn er sah, zuerst noch auf der Chaussee, dann durch das Glockentor in die Hauptstrasse, einbiegend, einen grünen Planwagen.
»Der Nachbar«, sagte Jakob erfreut vor sich hin, ohne recht zu wissen, weshalb dieser Anblick ihn aufatmen liess.
Sein Auge folgte gespannt dem Wagen, der nun langsam über den Marktplatz fuhr, vorüber an dem bunten Fachwerkbau des alten Rathauses, an der frisch getünchten Fassade des Hotels ›zur Krone‹, an der wohlhabenden Apotheke vorüber, deren Besitzer gerade das Haus verliess und dessen behäbiges Auftreten nicht mehr darauf hindeutete, dass sein dürrer Grossvater in feuchten Berghöhlen nach vermeintlichen Einhornknochen herumgekrochen war, um aus ihnen ein heilsames Pulver zu stampfen.
Dann an dem kleinen Hause vorbei, in welchem vor Jahrhunderten jener törichte Mann geboren wurde, der mit einer Regenbogenfahne den armen Leuten das Glück bringen wollte, und wo ein Kramladen jetzt vielerlei Gegenstände, in mühseliger Heimarbeit hergestellt, für billiges Geld feilbot, an diesem Hause vorbei, über dessen Pforte ein vergoldeter Heiliger segnend seine Hände hielt, bog der Planwagen in den breiteren Fahrweg, der in sachter Biegung sich den Berg emporzog.
Hier, in der Mitte der Berggasse, vor dem Grundstück des Schlächters Demuth, holte der Wagen in schwerfälligem Bogen aus und verschwand durch den offenstehenden Torweg in das Obergeschoss des Hauses.
In diesem Obergeschoss, das scheinbar wie ein ebener selbständiger Bau an der Strasse lag, waren Remise und Pferdestall untergebracht, um den bequemen Zugang von der breiteren Berggasse auszunützen, während das Erdgeschoss, von der flachen und trotz aller Enge lebhaften Eselsgasse erreichbar, Schlächterei und Wohnräume umfasste.
Die Anlage des Hauses zwischen den beiden in ungleichen Höhen gelegenen Gassen brachte es mit sich, dass die Pferde in dem standfesten geräumigen Bodenraum, gewissermassen zu Häupten der Menschen, ihre Unterkunft hatten, und dass Dinge, die sonst im Keller verwahrt werden, wie Holz und Kohlen, oben im Hause lagerten.
Dieses Obergeschoss besass einen grünen Vorplatz, der als Bleiche für die Wäsche benützt wurde, und durch eine ausgetretene Steintreppe mit dem zusammengepressten dämmrigen Hof in Verbindung stand.
Von der Schmalseite dieses Hofes führte eine dicke Bohlentür in eine Berghöhlung, die als Vorratskammer und Kühlraum diente.
Die Schrägseite des Grundstücks berührte eine Treppengasse, die sogenannte Kutteltreppe, von der aus eine schmale grüne Tür in das Dachwerk des Hinterhauses zu einer hellen und freundlichen Bodenstube mündete, in der Pagel während seines Aufenthalts in Erwinsrode seit Jahren logierte.
In dieses verzwickte Grundstück, eines der ältesten und wunderlichsten des Städtchens, war der Nachbar mit seinem Planwagen nun verschwunden.
Der Trompeter, der von seiner Bank aus diesen Vorgang mühelos verfolgen konnte, blieb noch ein Weilchen geruhsam sitzen, zuversichtlicher als vorher in dem Gedanken, dass er mit des Nachbarn Hilfe schon einen Weg finden würde, die erboste Aline zu versöhnen.
Als er dann etwas später auf dem Hofe sich umsah, sass Pagel in der kleinen Frühstücksstube, deren Türe dem Laden gegenüber vom Hausflur abging und beim Öffnen und Schliessen in drei wohlabgestimmten Glockenschlägen läutete. Frau Demuth aber stand auf dem Hofe vor dem Waschherd unter dem niedrigen Holzdach, und ein Mann mit grossem Schlapphut, der dem Trompeter gänzlich unbekannt war, beobachtete bald geduldig ihre geschäftlichen Hantierungen, bald liess er seine Blicke prüfend über die Hofseite schweifen.
»Ein Motiv«, sagte er vorsichtig, mit beschreibender Handbewegung, in dem Augenblick, als der Trompeter dazutrat.
»Ein Motiv«, wiederholte er, und sein Blick bat Jakob um Bestätigung.
Der Trompeter kniff nun auch ein Auge zu, so, wie er es bei dem Unbekannten sah. Sie standen dann ein Weilchen wortlos nebeneinander, mit abwägenden Blicken und kleinen hingeknurrten Beifallstönen.
Die Hofseite des Grundstückes war ein malerisches Durcheinander, das Hintergebäude ein Wirrwarr von Treppen und Lattengängen, überall scheinbar mit leichtfertiger Hand gebaut, hier ein Verschlag und dort ein Schuppen angekleckst, und der Treppengang, der an der Aussenseite emporführte, zeigte an vielen Stellen das alte Buchengeflecht, von dem der Lehmbewurf abgefallen war.
Dieses luftige Bauwerk hatte schon viele Jahre überdauert, ja, alles stand ohne Bedenken seinen Mann, wie auch Frau Demuth rasch und ohne grosse Mühe mit dem Leben fertig wurde und sich wenig darum kümmerte, ob jedes ihrer Vorhaben solide untermauert war.
Warum sich mit einem schlechten Weg abplacken, bloss weil er gerade ist? Auf einer guten Krümmung kommt man schneller zum Ziel, das war ihre Ansicht.
Es kam ihr nicht darauf an, einmal ein Stück Wild in die Stadt zu verkaufen, das bei Nacht geschossen wurde, oder Forellen in die Pfanne zu tun, die armen Holzknechten unversehens ins Garn gegangen waren. Sie war eine stattliche Anzahl Jahre jünger als ihr Mann, und es hiess, dass sie den alten Demuth mit Goldzähnen aufgeputzt: hätte, damit er ansehnlicher an ihrer Seite einherschritte.
Frau Demuth erzählte gerne von sich, denn es war ihr eine Befriedigung, dass sie nicht am Ofen hocken geblieben war, und dass das Leben sie trotz mancher Fehlschläge nicht klein bekommen hatte.
»Ich habe immer über der Nadel gesessen«, pflegte sie zu sagen, »da wollte ich nun mal zwischen die Welt gehn. Jawohl, ich zog in die Welt, und wie zog ich in die Welt –! Nichts fand ich als den.«
Dabei zeigte sie immer mit dem Daumen über die Schulter nach einem eingebildeten Dritten, und es war wohl nicht misszuverstehen, dass sie den Schlächtermeister Demuth meinte.
Sie hatte ihn kennengelernt, als er noch mit dem Hundewagen, darauf sein Schlächtergerät verstaut war, im Lande umherzog und überall fragte, ob ein Schwein im Hause zu schlachten wäre. An einem Lederriemen hing damals ein breites Messer an seiner Seite, und er hatte sich sozusagen in Frau Demuths Herz geritzt an jenem Wintertage, als er mit klammen Fingern mit diesem Messer eine kleine Weihnachstanne absäbelte und mit bunten Lichtern geschmückt in ihre einsame Näherinnenstube brachte.
Sie hatte damals ihr Herz allzusehr überfliessen lassen, und wenn sie auch später mit ihrer Ehe nicht gerade unzufrieden war, gab es doch Tage, an denen sie dem Himmel den Vorwurf nicht ersparen konnte, dass er sie nichts Besseres in der Welt hatte finden lassen. Dass dieser Himmel nicht gleich mit Gewitterwolken aufzog, wenn sie einmal allzuschnell bei der Hand war, ihre kleinen Lebensgüter aufzubessern, schien eine stillschweigende Abmachung zwischen ihnen zu sein, denn eigentlich musste der Himmel sich genieren, dass er für ein hübsches junges Mädchen, das mit vollen Segeln zwischen die Welt gehen wollte, seinerzeit nichts anderes auf Lager gehabt hatte als eine Schlachterwerkstatt.
Da stand sie nun vor dem Waschtrog, wühlte Wäschestücke in dem weissen Seifenschaum und wartete darauf, dass die beiden Mannsbilder neben ihr ein gescheites Wort über die Lippen brächten.
»Ein Motiv«, hatte zwar der eine gesagt, und der Trompeter tat so, als wäre ihm ein Licht aufgegangen.
Ein schönes Motiv! dachte Frau Demuth ärgerlich. Sobald Geld genug da ist, wird die ganze Geschichte heruntergerissen und neu gebaut. Man muss sich ja schämen mit solcher Winkelei.
»Ja, das gäbe ein Bild«, sagte der Fremde zu Frau Demuth und legte die Finger abwägend ans Kinn.
»Auch Künstler?« fragte der Trompeter und fasste den grossen Schlapphut ins Auge.
»Maler«, sagte Stiwenhack bescheiden, »und ich glaube, ich verstehe mein Handwerk.«
Es lag ihm daran, das Vertrauen der Schlächtersfrau zu erringen.
»So?« antwortete Frau Demuth gedehnt.
Sie dachte wohl: gleich zwei solche Künstlerseelen im Haus, da muss man die Augen aufhalten.
Ausserdem wusste sie von dem Fremden nichts weiter, als dass der Nachbar ihn mitgebracht und auf dem Hofe wortlos verabschiedet hatte. Der Fremde, der sich jetzt als Maler entpuppte, war aber nicht gegangen, sondern hatte sich treuherzig an Frau Demuth herangepürscht. Nun schien er sich etwas Besonderes ausgedacht zu haben. Er wandte sich zu dem Trompeter und sagte, zwar leichthin, aber doch mit Bedeutung:
»Solch Bild, über dem Sofa zum Beispiel – ein Schmuckstück!«
Der gewitzte Trompeter, der sofort spürte, dass für ihn vielleicht etwas abfallen könnte, ging glatter aufs Ziel los.
»Nun, Frau Demuth, wie wärs? Anscheinend eine gute Gelegenheit. Ich würde das Bild zwar nicht über dem Kanapee aufhängen, es scheint mir besser in die Frühstücksstube zu passen. Wenn man schon ein so altes Haus auf dem Hals hat, soll man die Gäste auf diese Sehenswürdigkeit aufmerksam machen. Es kommt doch mancher Fremde, der eine feine Nase für altes Gerümpel hat.«
Frau Demuth äusserte sich dazu nicht, sie rieb unermüdlich die Wäschestücke auf dem Waschbrett, aber im stillen schien sie doch Überlegungen anzustellen. Jedenfalls betrachtete sie den Mann mit dem Schlapphut eingehend, ohne ihre Tätigkeit im geringsten zu unterbrechen.
»Sie sind also Maler?« fragte sie schliesslich.
Rauchmaul gab dem anderen einen leichten zuversichtlichen Stoss in die Seite.
Stiwenhack trat langsam aus seiner Bescheidenheit heraus.
»Jawohl, ein Maler«, antwortete er kühner.
»Sie könnten das also abzeichnen?« erkundigte sich Frau Demuth.
Stiwenhack sah gekränkt drein, besann sich dann aber und setzte ein verzeihendes Lächeln auf:
»Abzeichnen? Das wäre nicht der richtige Ausdruck. Ich würde es farbig darstellen, naturgetreu, so, wie es vor Ihnen steht.«
»Also ein richtiger Maler«, entgegnete Frau Demuth mit Verständnis.
»Kunstmaler, liebe Frau. Ein bekannter Name: Stiwenhack! Professor und Kunstmaler! Ja, Sie sehen mich ungläubig an. Ach – beste Frau, das Leben hat seine Höhen und seine Niederungen. Die Grösse des Menschen offenbart sich in der Gelassenheit, mit der er alle Stationen überwindet. Sehen Sie mich an: Ich habe einen Überfall hinter mir. Fünf Kerle stürzten sich auf mich und haben mir meine Habseligkeiten entrissen. Ich wäre ein jämmerlicher Mensch, wenn ich deswegen grollen würde. Das Leben lehrte mich, dass das Schicksal, das mich heute durch fünf Männer bestiehlt, morgen zehn Männer schickt, die mir die Tasche mit Geld füllen.«
Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf den Trompeter. Er dachte an seine Schwester Aline. Heute hatte sie ihm das Haus verschlossen, aber morgen würde sie die Türe weit auftun und aus allen Fenstern nach ihm rufen. So zuversichtlich war er plötzlich, dass er dem Fremden derbe auf die Schulter klopfte und ihm lachend zuzwinkerte. Jawohl, wir Künstler, sollte es heissen. Da müssten schon tausend Kleinteufel kommen, und selbst die würden uns nicht ins Bockshorn jagen.
Er lachte Frau Demuth an und wies zustimmend auf den Maler.
Auch auf sie hatten die Worte ihre Wirkung nicht verfehlt. Zwar war sie bloss eine bescheidene Schlächtersfrau, aber was Höhen und Tiefen des Lebens anbelangte, ach ja, da konnte sie auch ein Wörtchen mitreden.
Sie strich den Seifenschaum von den Fingern und trocknete die Hände an der Schürze. Sie bat Stiwenhack in die Küche und tischte Brot und Wurstwaren vor ihm auf. Immer, wenn ihr etwas im Leben schief gegangen war, hatte sie sich mit einer tüchtigen Mahlzeit getröstet. Vielleicht hatte das Leben sie deshalb in eine Wurstküche versetzt. Schliesslich hatte alles sein Fünkchen Vernunft.
»Guten Appetit«, sagte sie freundlich, und weil Rauchmaul unschlüssig in der Türe stand, bekam auch er sein Stück Schinken.
Stiwenhack aber, der Kunstmaler, der ausgeraubte Professor, sass breit am Tisch, und während er Bissen um Bissen in den Mund schob, sagte er kauend:
»Das Bild – ich garantiere Ihnen, liebe Frau, es würde ein Kunstwerk werden!«
Pagel wartete in der Frühstücksstube auf Meister Freilich. Der Meister hatte schon am Nachmittag nach ihm gefragt und dem Schlächter bestellt, dass er vor seinem Heimweg noch einmal mit vorsprechen würde.
Nun hatte der Trompeter sich zu Pagel an den Tisch gesetzt.
Es war ihm in der Küche eingefallen, dass er ja nicht des lustigen Malers wegen gekommen war, sondern mit Pagel über Aline sprechen wollte. Er lachte noch, als er Pagel begrüsste.
»Ein drolliger Mensch, den du da mitgebracht hast«, sagte er, »wo hast du ihn bloss aufgegabelt, Nachbar?«
Pagel überhörte diese Frage.
»Er ist ein Kunstmaler«, sagte Rauchmaul.
»Ja, ich weiss«, wehrte Pagel ab.
»Da hat er's dir also auch gleich erzählt«, setzte Jakob das Gespräch beharrlich fort. »Ja ja, was für Menschen so herumlaufen! Er ist ein Professor, nun, zu Reichtümern scheint er's auch nicht gebracht zu haben. Aber wer hat das heutzutage? Wenn's bloss um Geld ginge, doch gibt es genug anderen Verdruss.«
Das Lachen war ihm vergangen. Er wollte sein Klagelied wegen Aline anstimmen.
»Ja, die leibhaftige Schwester«, seufzte er.
Doch in diesem Augenblick kam Meister Freilich, und Jakob musste seinen Unmut für sich behalten.
Meister Freilich sah den Trompeter und warf einen fragenden Blick auf den Nachbar.
»Es ist kein Geheimnis. Er mags ruhig mit anhören«, bestimmte Pagel. »Was hast du ausgerichtet?«
»Ich will nicht stören«, sagte Jakob rücksichtsvoll und setzte sich an den Nebentisch, doch so, dass ihm kein Wort entgehen konnte.
»Ja, Leisegang«, berichtete der Meister, »ich habe mit ihm gesprochen. Freilich, sprach er, hätte er sich wohl gern eines reicheren Kompagnons versehen. Doch wie ich schon sagte, ist ihm mehr an Zuverlässlichkeit gelegen als an Kapital. Du magst ihn also aufsuchen, Nachbar, und Näheres mit ihm bereden. Freilich muss er morgen früh verreisen und wird erst in zehn Tagen zurück sein, doch könntest du dich leicht hier verweilen und Abstecher in die Umgegend machen. So habe ich Leisegang gesagt, dass du zum besprochenen Termin dich einstellen wirst. Damit wird er die Angelegenheit für sich so lange zurückstellen. Freilich, das wäre alles, Nachbar.«
Pagel dankte dem Meister für seine Bemühungen, beredete mit ihm, dass es wohl das Klügste wäre, das Quartier bis zur Rückkehr des Herrn Leisegang in Erwinsrode zu behalten, und beide äusserten ihre Zufriedenheit, dass die nun in Angriff genommene Sache allen Vorzeichen nach einem guten Ende entgegenginge.
Meister Freilich kürzte das Gespräch ab, denn er wollte noch vor Nacht in Sorgenstein sein.
Als er gegangen war, setzte sich Rauchmaul wieder an Pagels Tisch. Er hätte gerne ein paar Fragen getan, verbarg aber seine Neugier, wollte statt dessen sein Herz wegen der Schwester ausschütten, besann sich jedoch, weil ihm eine bessere Idee gekommen zu sein schien, betrachtete Pagel wohlgefällig und sagte anerkennend:
»Nachbar, du bleibst immer der alte. Ich kenne dich nun schon ein gutes Dutzend Jahre. Du hast dich nicht viel verändert. Dabei meine ich doch, müsstest du ein ganzes Bündel auf dem Buckel haben.«
Pagel lächelte: »Reichlich über fünfzig.«
»Das beste Alter«, lachte Rauchmaul, »im Mai blühen zwar die Veilchen, aber im September ist der Wein reif.«
Er wandte sich vertrauter zu dem Nachbar:
»Ich habe schon Aline gesagt, die Jahre fallen weg wie die Blätter. Halt dich ran, damit du später nicht mal allein unterm kahlen Baum sitzt. Das hab ich ihr gesagt. Wenn ein Mädchen in die reiferen Jahre kommt, will sie natürlich nicht all und jeden. Noch dazu, wenn sie ihr bisschen Geld hat und solch hübsches Haus wie das im Winkel.«
Er machte eine Pause und fuhr dann, scheinbar gleichgültig, fort:
»Du willst dich nun auch festsetzen, Nachbar. Ich habe vorhin so ein Wort gehört. Ich bin nicht neugierig. Ich will dich nicht ausfragen, man soll über seine Pläne nicht sprechen. Sowas zerredet sich leicht. Aber das ist keine dumme Idee mit der Schneidemühle. Ein solider Mann, der Leisegang, und tüchtig! Der bringt seine Fabrik auf die Beine. Nein, das ist keine dumme Idee. So, also Leisegang. Nun, da müsstest du ja auch nach Erwinsrode ziehen.«
»Wenn's soweit ist, werde ich es durch Jakob Rauchmaul ausblasen lassen«, antwortete Pagel gutmütig. »Und damit dir inzwischen die Kehle nicht trocken wird, soll uns Demuth noch ein Gläschen bringen.«
Der Trompeter war sofort dabei und liess die Türglocke mehrmals anschlagen, bis der Schlächter griesgrämig hereingeschlürft kam.
»Was hast du uns da für'n Eulenspiegel mitgebracht, Nachbar?« fragte er brummig und holte mit seinen grossen Händen die Gläser fort. »Das sitzt drüben bei der Frau und schwatzt und frisst.«
»Ein Professor! Solch feines Haus habt ihr noch nicht unter euerm Dach gehabt. Ein Bildermaler. Nun, da kann man schon sein Geld mit verdienen. Ich sag dir, Meister, es gibt Leute, die zahlen dir glatt hundert Mark auf den Tisch für solch Bild.«
Demuth schnaufte:
»Der sieht nicht so aus, als könnte er ein Schwein abstechen!«
Er setzte sich prustend an den Tisch.
»Hast du den kleinen Kantor schon gesprochen, Nachbar? Mit dem ist auch nicht mehr viel los. Wir kommen eben alle so langsam in die Jahre, wo einen der Deuwel nach und nach durch den Wolf dreht.«
»Dabei sind ihm jetzt erst noch Zähne gewachsen«, kicherte der Trompeter.
Demuth warf einen grimmigen Blick auf Rauchmaul:
»In deinem losen Mundwerk würden sie keinen Halt haben. Da gehören schon ein paar Kinnladen zu.«
Dabei mahlte er laut mit den neuen Zähnen.