Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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146 Postludium

Adieu, mein Claude . . . Allen wirst du wohl »Anasthase« bedeuten. Denn schwerfällig müht sich, in der Tat, dein gewissengepeinigter Geist. Mir aber bist du – selbst dort, wo du es am wenigsten scheinst – bist du immer das Geschöpf einer berückenden Musik Debussys geblieben, bist: Claude. Und darum vielleicht verstehe ich dich. In allem.

Ich verlasse dich ungern. Ins Ungewisse –

Was wird aus dir werden? – –

 

Claude, um der ewigen Liebe willen – was war das eben?!! Eine Vision? Ein Angsttraum? – Ich schaudere noch . . .

Höre! Unwillkürlich schloß ich vorhin, in Gedanken an deine Zukunft versunken, die Augen. Und – wie das bei dem innigen geistigen Verhältnis, in welchem ich zu dir stehe, ja nicht weiter verwunderlich ist – ich war dir ganz, ganz nahe. Teilte, dir unwahrnehmbar, mit dir das kleine Abteil des Zuges, der dich und deinen toten Freund nach München führt. Sah dich, von aller Welt verlassen, von Fieber und Schluchzen geschüttelt – ein Kind! – in der Fensterecke kauern. Und fühlte, was du fühltest . . . Wie trüb wurde mir da ums Herz! Denn bin ich an all deinem Kummer nicht ein wenig schuld? – Von Selbstvorwürfen bedrängt, überdachte ich gerade, ob ich deiner Geschichte nicht etwa noch ein Kapitel anfügen sollte, ein Kapitel mit für dich sonnigeren Umständen, damit ich froheren Abschied von dir nehmen könnte – da, da formten deine zerrissenen Lippen Worte. Gespenstisch krochen sie in die lastende Stille des 147 Abteils. Du sagtest, mit nach innen gekehrtem Blick – zwei Worte waren es nur, doch eine ungeheuere Besorgnis ergriff mich um dich – du sagtest:

»Wagner wirkt.«

Nichts weiter. – Den Stabreim, Claude, könnte ich dir am Ende noch verzeihen, ihn deiner Erregtheit zuschreiben oder so. Doch was mich niederschmettert, Anasthase, ist der Sinn dieser Worte! So falsch deutest du also die Geschehnisse deiner wenigen Bayreuther Stunden – Geschehnisse, die dich tief im Urpersönlichen betrafen: Liebe und Tod – so falsch deutest du ihren Sinn, daß du für Wirkung der Musik Wagners hältst, was doch nichts anderes war als zufällige Gleichzeitigkeit im Ausbruch längst angesammelter Seelengewitter – Ja, nichts anderes war es, und wäre es tausendmal auch die Tristanmusik gewesen, die gestaute Schwüle des zweiten Aktes, welche diese Entladungen endlich und letztnotwendig zeitigte! Verstehst du mich, Anasthase? –

Und wie ich noch erregt überdachte, was ich tun müßte, um dir den Irrtum solcher Annahme recht eindringlich vorzuhalten – denn könnte ein solches Mißverstehen nur zu leicht nicht lebensbestimmend für dich werden? – da stand auf einmal ein Bild vor meinen Augen auf. Das Dunkel, das meinem Blick bis dahin deine Zukunft verhüllt hatte, lichtete sich jetzt, und mit hellseherischer Klarheit erschien mir einer, der dir glich – oder warst du selbst es? – einer . . .

Kein Zweifel mehr: Anasthase Alfaric! Im Sommer des nächsten Jahres. Er ist nur um ein Jahr älter geworden, doch nicht die Spur mehr von Jugend und Lebhaftigkeit ist in ihm. Erloschen ist der fanatische Strahl seiner Augen. Pergamenten sein in strenge Falten gelegtes 148 Gesicht. Und feierlich gemessen sind seine Bewegungen. Er trägt schwarze Gewandung. Ein langer Rock mit schwarzseidenen Revers, eine breite dunkle Krawatte, die den Ausschnitt der hochgeschlossenen Weste gänzlich ausfüllt; schwarze Tuchgamaschen auch über den Schuhen. Und ein hoher sittlicher Ernst liegt über der ganzen Erscheinung. Dieser nun gefestigte Anasthase ist täglicher Gast in der Villa »Wahnfried«. Manchmal allerdings ist er dort nicht zu sehen. Dann weilt er zur Einvernahme auf dem Gerichte. In Strafsachen Honegger, Prokofieff, Schönberg, Bartok und anderer, die alle wegen persönlich beleidigender Äußerungen in Anasthases Streitschriften die Klage gegen ihn überreicht haben. Ansonsten führt er, täglich von neun bis elf Uhr, Fremdengruppen durch die Räume des Hauses »Wahnfried« und erklärt alles. Minuten der Weihe aber sind jene für ihn, in denen er – nur für wenige ganz, ganz Würdige – mit einem Schlüssel, den er in einem Leinensäckchen über dem Herzen trägt, die Türe eines abseits gelegenen Raumes öffnet, in dessen Mitte sich erhöht eine Truhe befindet. Selber stets von neuem ergriffen, entnimmt er voll religiöser Andacht dem Innern der Truhe ein – Hemd. Das Hemd, dessen der Meister sich zuletzt bedient hatte. »Der Meister, dessen Töne in empfindsamen Gemütern heute noch Liebe hervorzurufen vermögen und – Tod«, wie er dann, etwas orphisch, hinzuzufügen pflegt.


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