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Der Tod des Vaters brachte manche Veränderung.
Mutter und Sohn behielten von der Wohnung nur zwei Zimmer und die Küche. Die übrigen Räume bewohnten jetzt Fremde. Frau Mathilde erteilte Unterricht im Klavierspielen; sehr viel später kam auch die deutsche Sprache hinzu. Denn die kleine Pension, die sie bezog, reichte nicht aus.
Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sie zunächst keine Kraft in sich, die in grauer Hoffnungslosigkeit drohende Zukunft an sich herankommen zu lassen. Etwas, das wie dicker Nebel um ihren Geist lagerte, ließ sie wohl keine Möglichkeit deutlich ins Auge fassen, auf welche Weise sie sich dieser Zukunft entziehen könnte. Dumpf und schmerzvoll fühlte sie aber in jeder Minute dieser unerhört langsamen Tage, wie unmöglich es ihr war, an ein Weiterleben auch nur zu denken.
Fiel einer ihrer glanzlos erstorbenen Blicke auf Anasthase und stand die unausweichliche Verpflichtung, des Kindes wegen sich weiter hinzuziehen, als Mauer vor dem ersehnten Nichts, dann konnte sie das Kind auch grell als eine Last empfinden. Fast im Augenblick dieser 23 Empfindung erschrak sie freilich vor ihrer Unmütterlichkeit. Einige Frömmigkeit mußte sich doch noch in ihr behauptet haben, denn etwas von Sichversündigen ging ihr durch den Kopf. Mit abbittender Scheu, doch mit der Aufmerksamkeit einer Fremden, blickte sie von der Seite auf den Jungen. Dabei fiel ihr, eigentlich zum ersten Male, der ungemein kluge Kopf des Knaben auf:
Durchsichtig zart die Haut; ohne gerade kränklich zu wirken, doch als schimmerte durch sie hindurch ein Netz von feinen Äderchen. Leichte Schatten auch unter den Augen, die unter tief dunklen, schmalgezeichneten Brauen eher licht schienen. Eine hohe, blasse Stirn. Feine, gerade Nase. Und dichtes, leicht welliges Haar, ein Ton von Braun darin; am übermäßig gewölbten Hinterhaupt lag es künstlerisch üppig. Etwas fremdartig hob sich vom Ganzen die untere Gesichtshälfte ab: Ein sinnlicher Mund mit vollen, auffallend roten Lippen, ein frauenhaft weiches Kinn. Was Frau Mathilde zwar längst bemerkt hatte – diesmal vertiefte es aber ihr Schuldgefühl –, im Ausdruck dieses zarten Gesichtchens herrschte ein ernster, grüblerischer Geist, Unkindlichkeit und Unruhe.
Da begann Frau Mathilde, wie noch nie von einer traurigen Zärtlichkeit für den sonderbaren Jungen erfüllt, mit ihm zu sprechen. Über den Vater, über den Krieg, über Volk und Familie, Deutschland – allmählich über alles, das sie beide zutiefst betraf. Was Anasthase damals sagte, war so reif und verständig, daß Frau Mathilde von da an das Gefühl der Einsamkeit und ihr Gedanke an die Zukunft langsam das Schreckhafte verlor. Sie fand zuerst Trost, später beinahe Lebensfreude im Beobachten der erstaunlich raschen Entwicklung dieser jungen Intelligenz. Vertraut auch mit den 24 unbedeutendsten Regungen dieses Geistes und Herzens, erkannte sie dabei für sich selbst, von einer wie stumpf-praktischen Seite sie die Dinge des Lebens vorher betrachtet hatte. Und in der Wandlung, die sich infolge der innigen Teilnahme an der so andersartigen Gedankenwelt ihres Sohnes in ihrer eigenen Welt vollzog, durchlebte sie eine späte geistige Jugend. Jetzt, da Anasthase in ganz unbändigem Wissensdrang sie mit tausend Fragen bestürmte und sie durch die Mitteilung seiner eigenen selbständigen Wahrnehmungen und Vorstellungen in immer neues Erstaunen setzte, sah sie erst, wie wenig ihr vom eigentlichen Wesen der Dinge, selbst solcher Dinge, mit denen sie doch seit jeher und täglich in Berührung gekommen, bekannt war. Ehe sie die Überraschung darüber aber noch recht überwunden hatte, war es bereits Anasthase, der die Rolle des Führenden, eines mit Nachsicht Erklärenden, übernommen hatte. Und bald waren es nur noch rührend unbeholfene Versuche, die Frau Mathilde unternahm, um mit den schwachen Mitteln ihres Geistes und Wissens den Sohn im Fluge seiner Gedanken doch nicht ganz zu verlieren.
Sie klammerte sich um so fester an dieses Leben in ihrem Kinde, als schon seit Kriegsbeginn natürlich jeder Verkehr mit ihren deutschen Verwandten abgeschnitten war. Waren auch sie durch den Krieg irgendwie schmerzlich betroffen? Obzwar: interessierte sie das wirklich noch sonderlich? Fast war sie selbst von der im dunkelsten Empfinden wurzelnden Abneigung ergriffen, die Anasthase seit dem Tode des Vaters gegen alles Deutsche zeigte. Wirklich, nämlich innerlich verwandt fühlte sie sich allein dem Toten und Anasthase. Und je näher sie diesen persönlich rückte – dem einen durch seine 25 Gegenwart, dem anderen gerade dadurch, daß er nicht mehr war –, um so unpersönlicher wurden ihr jene Verwandten; sie verschmolzen in ihrem Empfinden allmählich mit jener unpersönlichen Masse, von der die feindliche Kugel ausgesandt worden war, die dem Leben dieses stillen und pflanzenhaft zarten Menschen roh ein Ende gemacht hatte. Dem Leben dieses eigentlich unergründlichen Menschen, dem allein sie noch heute alles verdankte, was sie besaß: den Jungen.
Sie verteidigte die Deutschen noch immer; doch nur mit halbem Glauben und mehr aus Verpflichtung. So vermochte sie auch nichts über die nicht leidenschaftslose Abneigung Anasthases – das einzige, das noch knabenhaft an ihm war.
Anasthase haßte die Deutschen. Und es war ihm Bedürfnis, dies seiner Mutter, der Deutschen, nicht zu verschweigen. Daß ihm jedoch die Franzosen, daß ihm alle Menschen ebenso widerlich waren, verschwieg ihr der Franzose in ihm.
Menschlich verbunden fühlte er sich nur den Tieren – seit er einmal das verpickte Auge, die tragischen Bewegungen eines Tanzbären und eines Hasen verzweifelte Anstrengungen, den bannenden Lichtkegeln der Autoscheinwerfer zu entkommen, beobachtet hatte.
Doch mit den Tieren seiner Umgebung wußte er auch nicht viel anzufangen. So war er ohne Freunde. Seine Mutter? – gewiß, er liebte sie; konnte sie ihm aber anderes sein als Zuhörerin oder Pflegerin? – Sein Umgang, die Schule, seine ganze kleine Welt von früher wurde tot für ihn und reizlos; nicht belebend, fördernd, sondern wie ein Mantel aus schlechtem Gips, der nur ein Erklingen erstickt. Das Erklingen von etwas 26 Wunderbarem in seinem Innersten, dem mit steigendem Entzücken zu lauschen er längst begonnen hatte . . .
Er zerbrach diesen Mantel und fand etwas, das ihn mit einem Schlage aus der Einsamkeit erlöste. Kein Wirklichkeitsleben war es, das ihn umfing; aber er fühlte kaum Traurigkeit über ungelebtes Jungentum. Es war ein Leben im Geiste der Musik, eigentlich ein viel unbegrenzteres Wolkenreich, in welchem Worte, Töne, Farben endlich einen Sinn gewannen . . .
Und dieses Wolkenreich begann er sich nun, zäh wie ein Verzauberter, Schritt für Schritt zu erobern.
Zunächst hatte er sich in den wenigen Jahren zu einem erstaunlichen Beherrscher des Klaviers ausgebildet; ein Instrument, das ihm als solches völlig gleichgiltig war, ihn klanglich sogar höchst unbefriedigt ließ, das ihm jedoch unentbehrlich war. Denn nur auf ihm waren seine immer neuen Entdeckerfahrten ins Gebiet des musikgewordenen Geistes möglich. Anasthase war vielleicht nicht Musiker im eigentlichsten Sinne. War ihm doch, wie gesagt, die Musik nicht so sehr um ihrer selbst willen, also der Töne wegen, so unentbehrlich geworden, sondern vielmehr als jenes Reich eines dichterischen Weltgeistes, für dessen Sprache er zufällig am empfänglichsten war.
Einer von den wenigen Freunden seines Vaters, der auch dessen Familie gutgesinnt geblieben, der Musikalienhändler des Städtchens, gestattete Anasthase, alle Noten seines Vorrates, die für ihn Interesse haben konnten, zum Durchspielen nach Hause zu nehmen. Von diesem Entgegenkommen hatte Anasthase die ganzen Jahre auch überreichlich Gebrauch gemacht. Seine unerhörte 27 Sicherheit im Blattspielen und die Gabe, sich fast auf den ersten Blick über das Wesentliche jedes Werkes zu unterrichten, ermöglichten ihm, in kurzer Zeit ungeheuer viel kennenzulernen. Dazu las er alle kritische Fachliteratur, die er irgendwie auftreiben konnte. Und immer von neuem war er verblüfft, wieviel lauterster Unsinn gerade über Musik zusammengeschrieben wurde, wie wenig schöpferische Kritik es überhaupt zu geben schien. Ist es da verwunderlich, daß er bald ein vages Lebensziel darin erblickte, sich zu einem Musikkritiker auszubilden, wie er einen solchen im Augenblick peinlich vermißte?
Es kam ihm einzig darauf an, der sachlichen Wahrheit nahezukommen. Dieses Streben auch nur einen Augenblick lang zu vergessen, um Witz zu beweisen, eine Pointe anzubringen, glaubte er verächtlich. Seinem Geiste nach skeptisch, war er im Verwerfen wie im Anerkennen doch gleich temperamentvoll. Bescheidenheit und das Gefühl für Autoritäten ging ihm völlig ab. Mit einem nervös vorahnenden Instinkt spürte (oder vermißte) er in jeder Musik das natürliche, gleichsam transzendentale Maß an Bewegung heraus; Vortragsbezeichnungen würdigte er keines Blickes. Was aber mehr als all das, mehr als sein bereits nicht unbeträchtliches Fachwissen ihn zum Festlegen musikalischer Werte vorherbestimmte: er spürte keinerlei Drang nach eigener schöpferischer Betätigung. (Denn eigenes Schöpfertum, dem Grenzen gesetzt sind, macht den Kritiker wohl auch bei der Beurteilung von Werken anderer duldsam.) Vor allem aber fühlte Anasthase – und das ist das Wesentliche – eine ernste, doch von Enthusiasmus freie, fast bekenntnishafte Verbundenheit mit dem Geiste der Töne 28 ständig in sich wachsen; eine Verbundenheit, die um so innerlicher wurde, je mehr sein äußeres Leben an Reizen, seine Zukunft an Hoffnung auf solche verarmte.
Zum Glück blieben, denn Anasthase war von ausgeprägter Gewissenhaftigkeit, auch die Zweifel an dieser seiner Bestimmung nicht aus. So entdeckte er zunächst, daß es ihn unbewußt nach Romantik hungerte. Anderseits war die Entwicklung seines musikalischen Geschmackes schon genügend weit gediehen, daß er sich sagen mußte, es könne nur irgendeinem geistigen Defekt entspringen, wenn man einem Zeitalter, das mit seinen Maschinenrhythmen siegreich alle Musik zu durchdringen begann, mit romantischem Empfinden begegnen will. Ja, dieser »Defekt« wirkte sich sogar noch weit allgemeiner aus: Musik, die im innersten Sinne nur Musik war, gefiel Anasthase bestenfalls. Heiß aber machte sie ihn erst dort, wo sie ihm irgendeine dichterische Vision vorstellte. (Aber war es dann noch Musik?) Vielleicht fand er gerade das bei den Modernen. Jedenfalls drängte ein Herz, das in seinen Ohren schlug, ihn zum Neuen; bereits etwas klassikmüde, bestrickten ihn kühne Harmonik, ungebändigte Formen. Durfte ein Kritiker aber Herz haben? Und Vorlieben? Mußte das Gute und Bedeutende an der Kunst jedes Jahrhunderts ihm nicht gleich nahe sein?!
So wies seine still verfließende Jugend Erlebnisse nur im Geistigen auf. Dort allerdings mitunter recht stürmische Höhen und Tiefen. Schroff wechselten Glaube und Zweifel an Kunstwerken, an Kunst überhaupt, an die eigene Bestimmung zum Richter. Der Ozean von Musik, der allmählich in seinem Gehirn brandete – bald glaubte Anasthase ihn sich bändigen zu können zu 29 klarer Ruhe und Beschiffbarkeit, bald glaubte er, von seinen Wassern blind, in ihm zu versinken. In welcher Form der Alltag sich auch immer an Anasthase herandrängte, nichts vermochte ihn länger als für Augenblicke dieser Gedankenwelt zu entfremden. Selbst seine Pubertät ging fast sturmlos darin unter. Im Anblick eines prallen weiblichen Hinterteils kam es wohl vor, daß er aufschrak und sein Geschlecht spürte; doch es drang kaum in sein Bewußtsein. Gleich dachte und fühlte er den Reiz in Klängen zu Ende.
Auch daß darüber der Krieg zu Ende gegangen, Frankreich ein trauriger Sieger war und bereits einige Jahre wieder bewaffneter Friede herrschte, war ihm kaum aufgefallen. Beraubte ihn höchstens eines Gefühls: er haßte die Deutschen nicht mehr. Sie waren ihm ebenso langweilig geworden wie seine Landsleute.