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Aus einem unsichtbaren Orchester quillt Ton: Dunkler, schwermütiger Streicherklang streift eine Tiefe an, nur um sich aus ihr emporzuheben und eindringlich satt zu verharren – – ein schicksalschwerer Akzent – und die Frage erlischt in zwei Halbtönen. Schweigen. – – Die Melodie schien aus dem Erdinnern gekommen zu sein. Oder aus dem Weltraum. Anasthase legt sich's wie eine Ahnung von »drüben« um die Brust. – Zum zweitenmal steigt sie auf, höher und drängender. Holzbläser träumen diesmal den beiden Schlußtönen nach. Und noch einmal der gleiche Gedanke, noch bestimmter und tönender geäußert. – Dann strömt breit Wohllaut aus den Cellis, reißt anschwellend viele Stimmen mit sich. Auch er verklingt, mutlos und müde. Und in seinem Schweigen noch hebt zwischen Streichern und Holz ein Spiel an, ein Spiel von ja und nein, fragend und antwortend. – – Jetzt aber – die Musik wird unaufhaltsam dichter, leidenschaftlicher. Tonwolken ballen sich zusammen. Ein Orkan hetzt sie vorwärts. Erregung pfeift immer von neuem in Geigenläufen hinan. Glut bricht aus Hörnern, Trompeten, Posaunen: Taumel – – Anasthase schwebt irgendwo, bodenlos, von Ungeahntem getragen. Plötzlich versieht er sich dessen. »Verflucht!« stößt er zwischen den Zähnen hervor. Aber besiegt und 106 von neuem entführt. – Die Musik jauchzt, flammt, rast auf der Höhe. Breite, absteigende Geigenstriche stürzen sie in die Tiefe. Matt und todestraurig zieht sich eine apathische Weise am Boden . . .
Der Vorhang rauscht. Helle . . . Anasthase schrickt zusammen, sucht sich zu besinnen: Was war das? Ach – Bayreuth – Tristan! Das Lichtvolle dort – die Bühne: Schiffszelt von königlich steifer Pracht . . . Fernher eine Stimme. Eine wunderbar helle freie Männerstimme. Anasthase erinnert sich plötzlich nicht mehr, wem sie gehört. Was tut's auch? Sie klingt. Unirdisch voll Reiz. Es soll wohl etwas Lustiges, Keckes sein, dieses Lied. Und wirkt doch wehmütig. Nur deshalb, weil es so schön klingt? Ruft alle Schönheit in unsern Sinnen Traurigkeit wach? Aber, nicht denken jetzt! Nur lauschen! Bald ist der Zauber zu Ende; was dann bleibt ist ohnedies – alles Elend der Gedanken . . . Was regt sich das Orchester so synkopisch auf? Und die machtvolle Weibesstimme? Richtig – Isolde! Und das Lied vorhin, das mutvoll sehnsüchtige, war das Lied eines jungen Seemanns gewesen. Schade, daß alles das Sinn haben muß! – Was ist's mit Isolde? Das Orchester schäumt, von ihrer Stimme glanzvoll überboten. Ach ja! – die Fabel: Von Tristan verschmäht, ihr Stolz zerbrochen, ihr Weibtum nur noch dem Greisen wert, dem dieses Schiff sie zuträgt. Das Schiff, das – Tristan! – steuert. Abrechnen mit Tristan! Ihn gedemütigt sehen, den verächtlichen Knecht seines Königs Marke! – so rast Isolde in Selbstzerfleischung. Anasthase berührt es widerlich. Das Weib und die konventionelle Dramatik der Musik. Aber die Stimme muß er bewundern und das Orchester. Das unerhörte Orchester. Da ist wohl Vollendung, Erfüllung 107 eines kühn geträumten Wunsches. – Aber dort – die zarte Frau mit den großen Augen und den Bewegungen einer ganz jungen, besorgten Mutter –: Brangäne. Sie ist schön. Ein ganz persönlichkeitsloser Schatten. Viel schöner ist sie als Isolde, die zu beruhigen sie in stiller Dienstseligkeit bemüht ist. Tristan ist zu begreifen, denkt Anasthase, wenn er diese laute Isolde mit möglichst viel englischen Seemeilen Stundengeschwindigkeit seinem alten König zuführt! An seiner Stelle würde er eine so königliche und hochdramatische Frau in einer edlen Regung nämlich gleichfalls irgendeinem guten Freund überlassen. Er würde sich dafür aber an die Dienerin halten. Wie schön müßte das sein: ihre traumhafte Stimme immer um sich haben; sie am Morgen, gleich beim Erwachen, zu hören. Und später beim Frühstückstisch wieder – da trägt sie ein Hauskleidchen vom selben leuchtenden Blau wie jetzt – sie gießt ihm den Tee ein. Er lauscht ihren ruhigen zärtlichen Bewegungen, nimmt sie behutsam auf den Schoß . . . Herrgott, was dröhnt diese Isolde immer noch?! Lästig ist das! Ach ja: Brangäne hat Tristan den Befehl zu überbringen, er möge schleunig vor seiner Herrin Isolde erscheinen. Unsympathisches Weib! – Licht flutet jetzt mit den Klängen zusammen – ein starker Reiz –: Brangäne hat den Vorhang des Schiffszeltes zurückgeschlagen, ein weiter Bord wird sichtbar; Seeleute lagern auf ihm. Blauer, leuchtender Meereshimmel – wie Brangänens Kleidchen. Einer träumt starr am Steuer: Tristan. Wie wundervoll zaghaft in der Gebärde Brangäne den Befehl ausrichtet. Er wird von Tristans Knappen (Kurwenal heißt er, richtig, dieser kornwallische Bürger Schippel) und von den Mannen mit einem Schmählied auf die 108 irische Königstochter beantwortet; ein Lied, das den Helden Tristan taktlos verherrlicht. Doch mit maßloser Klangüppigkeit brausen die Stimmen des Chors in Anasthases hungriges Ohr. Das ist Erlesenstes! Anasthase weiß, daß es nur eine sehr kurze Chorstelle ist, und er geizt um jede Sekunde, die er sich an ihrem Klangreiz sättigen kann. Schade, nun ist es vorbei. Brangäne flieht ins Zelt zurück, die geliebte Herrin vor dem Spott der Kriegsleute zu schützen. Aber Isolde ist nicht mehr aufzuhalten: Fühllos gegen Brangänens Verzweiflung, befiehlt sie ihr streng, für Tristan und sie den Todestrank zu bereiten.
Bis hierher stand Anasthase noch halb und halb voreingenommen dem Werk gegenüber. Abgelenkt zum Teil von seinen ganz unfeierlichen, schlampigen Gedanken an Brangäne, zum größeren Teil jedoch gleichgültig gelassen von der konventionellen Dramatik, in der die Musik sich bisher bewegte. Jetzt aber, da der Gedanke einer fernen Verschmelzung von Liebe und Tod zum erstenmal auftaucht, bricht Wagners Genie für ihn überzeugend aus dem tonüberströmenden Orchester. So zwingend, daß Anasthase, vom Strom Wagnerscher Dramatik fortgerissen, in den Tonfluten, die ihn umbranden, ertrinkt und – kritiklos, wie Leichen es eben einmal zu sein pflegen – auf ihnen nur noch dahintreibt. Abgestorben das Leben seiner eigenen rebellierenden Gedanken, ist er nur noch Medium des fremden, verhaßten, doch stärkeren Geistes. Wie ihm das mit Wagner eben seit jeher ergangen war. Nur ist diesmal die treibende Gewalt besonders zwingend durch die Erlesenheit ihrer Mittel.
Sklavisch folgt Anasthase von da an der Linie des Werkes:
109 Tristan erscheint. Mit innerster Würde sucht er Isoldes höhnisch-verzweifelten Anklagen zu begegnen. Alle Kräfte Isoldes strömen aber bereits unaufhaltsam der ersehnten Vernichtung entgegen. Voll grausamer List verfängt sie den gehaßten Geliebten in einem Widerspruch. Schweigend bekennt er eine Blutschuld, deren Sühne sein Leben in Isoldes Hand legt. Und ruhig reicht er ihr sein Schwert, damit sie ihn töte. Da blickt Isolde eine Sekunde lang in einen neuen Abgrund: Will Tristan ihr noch im Sterben entweichen, allein den Tod suchen und sie selbst kalt ihrem Marke-Schicksal aufsparen?! Herrisch winkt sie der Dienerin um den Pokal mit dem Todestrank. Brangäne, verständnislos, erblickt im Tode nur etwas Furchtbares; gefoltert von ihrer naiven Liebe zur Herrin, vertauscht sie heimlich den Todestrank mit dem Liebestrank. Tristan trinkt entschlossen. Kaum kann ihm Isolde den Rest entreißen. Sie leert ihn in einem gierigen Zuge. – – Und: Wunder! Harfen! Geigen! – Mann und Weib, die Todfeinde, verzehren einander mit Blicken des Liebestaumels . . . Wesenlos in einen Winkel gehaucht, betrachtet Brangäne mit großen, entsetzten Augen die Wirkung ihrer Täuschung. Die Trunkenen stürzen einander in die Arme . . . Immer häufiger dringt von außen der Chor der Matrosen, freudig König Markes grüne Gestade begrüßend, in Tristans und Isoldes weltferne Seligkeit. Brangäne allein erkennt die Gefahr. Da stürzt Kurwenal herein, den König bereits mit großem Gefolge zu verkünden. Der Vorhang des Zeltes öffnet sich weit – Kurwenal und Brangäne reißen die Liebenden voneinander – Sonne, Fahnen, Fanfaren, jubelndes festliches Volk!
110 Der losbrechende Applaus übt auf Anasthase ungefähr die gleiche Wirkung aus, wie das Erscheinen des krawallierenden Hochzeitsgefolges König Markes auf Tristan und Isolde: verständnislos und benommen blickt er sich nach der Ursache dieses leeren Schalls um. Da sieht er sich im Theater sitzen – im Wagnertheater! In Begeisterung wie noch nie . . . »Fichtre«, murmelt er, in seine Vatersprache zurückfallend, und stürzt an die Luft. Draußen befremdet ihn das helle Sonnenlicht, der blaue bayrische Himmel. –
Saul Ring holt ihn ein. Er hat etwas müde, welke Züge. Aber spöttisch bemerkt er: »So blaß, Herr Alfaric? Da sind Sie scheinbar also nicht auf Ihre Kosten gekommen. Ganz gegen Ihre Absicht ergriffen. Am besten: Sie lassen sich an der Kasse das Eintrittsgeld zurückgeben!«
Merkwürdig: jetzt tut Anasthase der Hohn weh. Es ist aber auch nicht mehr der überlegen wohlwollende Spott, der ihm an Saul Ring geradezu wohltat – etwas gegen ihn Feindseliges ist jetzt der Grundton dieser Spötteleien. Und Saul Ring selbst – ein gänzlich Fremder. Betroffen findet Anasthase nichts anderes zu entgegnen als: »Ja, ich bin sehr ergriffen. Aber, hier ist wohl Zauberei am Werk!«
Unsagbar höhnisch blickt Saul Ring ihn von der Seite an: »Wenden Sie sich mit dieser Entdeckung doch an eine der Pickelhauben da – vielleicht vermag die Polizei Sie vor Wagner zu schützen!«
Anasthase überhört es. »Dieses Orchester«, sinnt er, »– der Chor, die Stimmen . . .!«
»Und der Wagner?« rührt Saul Ring grausam an die Wunde.
Anasthase fährt gereizt auf: »Lassen Sie mich!« Doch 111 sofort tut ihm seine Heftigkeit leid. Er blickt Saul Ring an; und aus seinen Zügen glaubt er einen so schmerzhaft verquälten Zynismus zu lesen, wie nur letzte innerliche Vereinsamung ihn hervorzurufen vermag. Da will er etwas sagen, irgend etwas Warmes, Herzliches, das dem seltsamen Menschen wohltun oder ihn gar bewegen würde, auszusprechen was ihn bedrückt. Er findet die richtigen Worte nicht. Auch fürchtet er eine allzu schroffe Zurückweisung und schweigt. Saul Ring schweigt gleichfalls. Es ist ein unangenehmes Schweigen, das jeder von beiden zu beenden wünscht. Und beide suchen nach einer Alltäglichkeit, die zu einem glatten Redegespräch Anlaß gäbe.
Siegfried Wagner, der Sohn und Erbe, geht an ihnen vorbei. Geschäftig. In weißen Hosen, weißen Schuhen, blauem Sakko. Von Trabanten beider Geschlechter umgeben. Eine unleugbare Ähnlichkeit springt Anasthase in die Augen. »Ist das nicht –?« ruft er aus. Saul Ring nickt ganz ernsthaft mit dem Kopfe: »Freilich. Der Bärenhäuter.«
Damit ist jedoch die Unterhaltung neuerdings erschöpft. Anasthase will, um nur etwas zu sagen, einiges von der Tragik der Söhne großer Väter bemerken, aber im selben Augenblick schon findet er den abgebrauchten Gedanken doch zu albern.
Von der Hecke, die den Vorplatz des Theaters umsäumt, sieht man unten die Stadt liegen. Der Ausblick ist vollendet malerisch; er stimmt Anasthase zu Betrachtungen: »Das Scheusal wußte eben in allem, was es wollte!« findet er. Versonnen. – Saul Ring lacht. Etwas gezwungen. »Erhalten Sie sich diese Marotte, Herr Alfaric! Die macht Sie kostbar. Wagnerianer sind zwar 112 wie der Sand am Meer, Sie selbst sind nur einer von Tausenden, dafür aber einer der fanatischesten!« Unwillkürlich reißt es Anasthase in die Höhe. Findet er selbst mehr als eine paradoxe Behauptung in diesen Worten? Fast schreiend kommt aus zerquältem Hirn seine Antwort: »Was? Ich – Wagnerianer?!«
»Geben Sie sich nicht so aus, Verehrtester!« warnt Saul Ring, feindlich. »Sie haben doch noch zwei Akte Tristan vor sich!«
Anasthase will heftig werden, sich den ewigen Spott verbitten. Dann aber blickt er Saul Ring an, fest und ernst: »Und Sie?« forscht er. »Wie hat die Musik denn eigentlich auf Sie gewirkt? Sie sehen nicht aus, als wären Sie kühl geblieben!«
Um Saul Rings Mund geht ein Zucken, als hätten seine Finger etwas Ekelerregendes berührt. Eine Schlange vielleicht. Er sucht nach einer spöttisch ausweichenden Antwort. Da Anasthases Blick aber in entschlossenem Ernst weiter auf seine Augen geheftet bleibt, findet er nichts zu sagen. Sein Gesicht wird noch um einen Schatten fahler. Als würde die Notwendigkeit einer aufrichtigen Antwort ihm mit einem heftigen Stich ans Herz greifen. Er muß sich jedes Wort abringen: »Ja, vergessen Sie nicht, daß ich unmusikalisch bin! Mich mußte es also umwerfen.« – Und seine Miene ist wieder maskenhaftes Grinsen, wie er auf Anasthases Zügen das Erscheinen eines Lächelns erwartet. Es bleibt aus. Anasthase sinnt einen Augenblick, dann nimmt er die Antwort, wie sie ist: tiefernst. »Sie – unmusikalisch?« vergewissert er sich noch rasch. »Wie kommt es aber dann, daß Sie in musikalischen Dingen so glänzend beschlagen sind?«
113 »Ich habe mich viel mit Musik auseinandergesetzt«, erklärt Saul Ring. »Doch immer nur – rein geistesgeschichtlich. Und dazu hatte ich natürlich bloß Schriften nötig. Fast niemals – die Töne.«
Eine seltsame Mutlosigkeit, die in dieser Erklärung schwingt, ergreift Anasthase von neuem. Hat die Musik ihn so weich gestimmt, daß er heute überall tiefstes Herzleid vermutet? In der rührenden Gegenüberstellung von »Schriften« und »Tönen« glaubt er den Ursprung jener geheimen Trauer zu erkennen, die er am Grund der Seele des Freundes wach fühlt. Und er muß sich gewaltsam beherrschen, um dem Fremden nicht um den Hals zu fallen, ja um die Tränen zurückzudrängen, die ihm in die Augen schießen wollen. Die »Schriften« – denkt er –: alles papierene Wissen, traurige Frucht dieses sicherlich ungelebten Historikerlebens. Und jetzt die »Töne« –: Ausdruck des Lebenden, Lockenden! – Er macht eine Bewegung, um die Hand dieses alternden, ungeheuer gescheiten und ungeheuer einsamen Mannes an seiner Seite, dieses Kindes, zu fassen. Scham hält ihn zurück. Mit Verhaltenheit spricht er ihm zu: »Ja, ich kann mir gut vorstellen: In einem Menschen Ihrer Art muß die Zauberei dieser Tristanmusik, gar wenn Sie sie also nur sinnlich erfassen, gewiß eine schmerzhafte und gefährliche Sehnsucht wachrufen.« Saul Ring entgegnet nichts. Und unwillkürlich vermeidet auch Anasthase, ihn voll anzublicken. Mehr als er es sieht, spürt er aber, wie der Freund von dem warmen Ton dieser ehrlichen Teilnahme betroffen ist und nachdenklich ernst zu Boden blickt. Nichts mehr von dem maskenhaften Spott ist in seinem Gesicht. Da gewinnt Anasthase neuen Mut. »Ich weiß ja leider so wenig von Ihnen, Herr Ring«, setzt er 114 fort. »Und gar nichts von dem, was Sie empfinden. Ich weiß aber, daß Kunst – und vor allem Musik – dort verheerend wirkt, wo sie uns diese Empfindungswelt gesteigerter Sehnsucht vorzaubert, einer Sehnsucht, die sich dunkel manchmal auch in unsere Träume schleicht, Sehnsucht, von welcher in unserm grauen Leben aber auch nicht der Strahl Erfüllung wird. Da fühlen wir nämlich mit einem Male, wie sehr alle die Angelegenheiten unseres bürgerlichen Lebens uns im Innersten fremd und unwichtig sind, wie unsere Seele in ihnen friert, und wie sehr wir uns nach der Wärme des unerreichten fernen Wunderlandes solcher Tristanliebe sehnen. Sehen Sie, ich . . . Nein: Sie! Ihr Leben – kann man es »leben« nennen? – verläuft, versandet inmitten lebloser Altertümer. Und Menschen müssen Sie wohl sehr langweilen oder gar anwidern, daß tote Gegenstände Ihnen näherstehen als sie. Oder vielleicht ist Ihre Vertrautheit mit ihnen eine so innige, daß für Sie diese Gegenstände allmählich eben Seele gewonnen haben, eine ausgeprägtere, feinere sogar als Sie sie an Menschen finden könnten –: Täuschung! Aber diese Täuschung hat Sie an einem Punkte Ihres Lebens vielleicht vor letzter Verzweiflung bewahrt. Seither glauben Sie dem Schein zu glauben. Der Schein macht Sie nicht glücklich, doch wenigstens ruhig – das heißt: Sie wähnen sich ruhig, und das ist: wunschlos. Bis dann plötzlich eine Musik auf Sie niederbricht, eine charakterlose Musik, deren glitzernde Verlogenheit Sie, der Nichtmusiker, gar nicht ahnen können. Wohl aber fühlen Sie die gefährliche Glut jener Illusion, die sie gibt.« – Anasthase hat sich nun selbst vor Erregung verfärbt, ein böser Glanz feuchtet seine Augen. »Warum sind wir nach Bayreuth 115 gegangen, Herr Ring?« stößt er nach einigem wieder hervor. »Die gewaltigsten und bestrickendsten Stimmen, die der Kontinent ausspeit, sind hier am Werk; von einem orchestralen Klangkörper getragen, der auch nicht seinesgleichen hat. Farben leuchten auf, Bilder voll Überzeugungskraft – alle infernalischen Reizmittel endlich dieses Kunstbordells – und das alles vereinigt sich, um ein verbotenes Lied klingen zu machen: das Lied von einer tieftraurigen Liebe, die so groß ist, daß Erfüllung ihr nur im Tode werden kann. So eindringlich ist das Lied, daß seine unstillbare Sehnsüchtigkeit auch auf Sie selbst übergreift. Und wenn Sie in diesem Gefühl dann plötzlich an die Dinge zurückdenken, an welche Ihre Scheinsehnsucht sich klammerte, dann schaudern Sie, wie kalt und reizlos diese sind. Auch mich, selbst mich übermannt dabei das Gefühl, ein Leben – mein Leben – ungenützt weggeworfen zu haben. Ich bin aber jung, kann mein Schicksal vielleicht noch in jene andere Welt lenken. Sie hingegen, dem Alter nahe, müssen freilich . . .«
Ein Tristanmotiv – : Blech. Vom Balkon des Hauses als Zeichen zum Beginn. –
Eine Weile steht Anasthase völlig verständnislos. Erst als die Fanfare zum zweitenmal ertönt, findet er sich zurecht. »Also das ist doch wirklich scheußlich!« ruft er mit Ingrimm aus.
Da beginnt Saul Ring zu lachen; ein irrsinniges, ihn erstickendes Lachen, unheiter und verkrampft, das Anasthase an die Nerven greift. Zwischendurch stößt er mit einer mißtönenden Stimme heraus, übertrieben eifrig Zustimmung nickend: »Da haben Sie wohl recht! Das ist sogar eines der unwiderlegbarsten Argumente, die Sie 116 bisher gegen Wagner vorgebracht haben, Sie – Dichter!«
Obwohl Anasthase nur zu klar fühlt, daß dieses Lachen ein Katastrophenlachen ist, reizt es ihn dennoch zur Wut. Zumal er sich seines Begleiters jetzt schämt. Denn die Vorübergehenden, die alle den Eingangstüren zudrängen, blicken voll Befremdung auf den großen fettigen, orientalisch aussehenden Herrn im weißen Leinenanzug, der so irrsinnig lacht. Auch vermag Anasthase nicht ganz das falsche Empfinden der Kränkung zu unterdrücken, das dieses Lachen als einzige Antwort auf seine so ehrlich gemeinten Worte in ihm auslöst. »Mäßigen Sie sich doch etwas, Herr Ring!« herrscht er den Haltlosen unterdrückt an. »Wenn Sie den Ehrgeiz haben, den Leuten hier Unterhaltungsstoff zu liefern, ich hab ihn nicht!«
Das Lachen gefriert auf Saul Rings Zügen ein. Wieder sind es die Augen eines gescholtenen Kindes, mit denen er die fremden Menschen um ihn herum fassungslos ansieht. Eine leicht violette Röte tritt in seine Wangen, auf seine Stirn. Auch auf Anasthase wirft er einen furchtsamen Blick. Unsicher versucht er indes noch weiter zu spotten: »Meinen ganzen wirkungsvollen Wahnmonolog haben Sie mir weggenommen, Herr Walter von Stolzing!« Da Anasthase aber, ehrlich verletzt, nun keine Miene mehr verzieht, sondern in entschlossener Haltung einfach dem Eingang zuschreitet, verstummt er betreten.
Schweigend nehmen sie ihre Plätze ein. –
Längst empfindet Anasthase keinen Groll mehr gegen Saul Ring. Im Gegenteil. Noch drückender beherrscht ihn jetzt das Gefühl, daß der Freund in schmerzhafter Vereinsamung an seiner Seite sitzt. Er wagt nicht 117 hinzublicken, denn er fürchtet Tränen in seinen Augen zu finden. Aber sagen möchte er ihm irgend etwas, etwas, das ihm beweisen würde, er sei nicht mehr böse auf ihn. Da verlischt bereits wieder das Licht im Raum. »Also – jetzt kommt der zweite Akt«, flüstert Anasthase Saul Ring hastig zu. Um eben nur etwas gesagt zu haben. Und wie hätte es ihn erleichtert, wenn der Andere die Dummheit dieser Bemerkung aufgegriffen und verspottet hätte. Aber vollkommen ernst entgegnet Saul Ring: »Ja, der erste Akt hat uns die Form der Großartigkeit gezeigt. Warten wir nun auf den Inhalt dieser Großartigkeit!«
»Pssst!« macht jemand hinter ihnen.
Lautlose Stille ist eingetreten.